Autopoiesis und Strukturelle Kopplung für Teilsysteme wie Organisationen und Konflikte?

In meinem Artikel zu Information habe ich geschrieben:


Soziale Systeme operieren informationell geschlossen. In ihnen ausdifferenzieren sich Subsysteme und Teilsysteme, die sich informationell mehr oder auch weniger spezialisieren. Entsprechendes kann ich auch an/in Psyche(n) interpretieren/beobachten. ((1)Peyn G., 2018)


und darüber vorgeschlagen, wie sich die Frage beantworten, beziehungsweise das Problem lösen lässt, welches mit folgendem Autopoiesis-Begriff kommt:


Autopoiesis Reproduktion anschlussfähiger Elemente


Allgemein wird davon ausgegangen, dass einige Teilsysteme autopoietischer Systeme selbst autopoietisch funktionieren, oder: autopoietische Systeme sind.


Doch: Gesellschaft reproduziert die Elemente von Kommunikation, nicht die einzelne Organisation, nicht der einzelne Konflikt. Organisationen und auch Konflikte sind Strukturen in Gesellschaft, Teilsysteme; sie bilden sich als FORMen von Gesellschaft. Ihre Grenzen schließen sich nicht, sie bleiben der Gesellschaft gegenüber, aus der sie sich entwickelt haben, offen, um (mit/durch Gesellschaft) überleben zu können: Organisationen und Konflikte erschaffen sich nicht autonom und autark genug, um einen selbständigen, geschlossenen autopoietischen Zyklus zu generieren. Sie partizipieren an der Autopoiese des gesamtgesellschaftlichen Systems.


Als Analogie: Denken wir an einen Vortex in einem Fluss. Er sieht lebendig aus, aber versuchen wir, ihn aus dem Fluss herauszunehmen, verliert er seine Struktur, Kraft, sein Leben und wird zu einer Pfütze, denn er hat den Kontakt zu dem Gesamtsystem verloren, aus dem er sich FORMt, aus dem er seine Lebendigkeit, seine Eigenständigkeit gewinnt.


Komplexe autopoietische Systeme wie Psyche oder Kommunikation können ihre Zeichenräume, ihre Semiosphäre, nicht verlassen: Sie inFORMieren sich selbst. Umweltereignisse können die Systemgrenze nicht durchdringen. Jene, die mit ihr kollidieren, werden bestenfalls/gegebenenfalls als Zeichen im Zeichenraum des Systems (weiter)prozessiert. ((2) Peyn G., 2021)


Wirtschaftsorganisationen beispielsweise aber können nicht nur mit ihren Kunden, Lieferanten, anderen Organisationen, Werbeagenturen kommunizieren, sie können, mehr noch, per gesetzlichem Dekret verboten werden und verstehen diese Mitteilung, weil sie zu politischer Kommunikation anschlussfähig funktionieren. Das ist einer der Punkte, wo sich ihre „Grenze“ als durchlässig erweist.


Soziale Teilsysteme sind dazu in der Lage, gesellschaftliche Kommunikation, Kommunikation von Akteuren und anderen Organisationen zu reproduzieren. Ihre Offenheit macht sie nach außen anschlussfähig, ihr Ringen um informationelle Spezialisierung nach innen. Funktionieren sie zu offen, gelingt ihnen das Maß an Selbstorganisation nicht, das sie benötigen, um Unbestimmte FORMen in Schach zu halten, schließen sie sich zu sehr, kann sie die Komplexität ihrer eigenen Kommunikationsorganisation und/oder ihre fehlende Anschlussfähigkeit umbringen.


Mit autochthonen Ethnien sieht die Sache schon etwas anders aus. Da können wir durchaus sagen: Solange sie nichts mit uns und wir nichts mit ihnen zu tun haben, funktioniert ihr Kommunikationssystem autopoietisch.


Aber versuchen wir doch mal, eine Werbeagentur auf eine einsame Insel zu verpflanzen ohne jeglichen Kontakt zur Gesellschaft, aus der sie sich als Organisation entwickelt hat. Wie lange wird sie wohl überleben?


Gesellschaftliche Teilsysteme bemühen sich um informationelle Spezialisierung und erschaffen sich darüber zu Teilen selbst, erhalten sich zu Teilen selbst, organisieren sich zu Teilen selbst, aber sie schließen sich nicht autopoietisch insofern, als dass sie nur noch in ihren eigenen Zeichenräumen operieren könnten.


Sie bleiben anschlussfähig an Kommunikationen, die andernorts in Gesellschaft konstituiert worden sind. Wir können Kommunikation, die sich in einem gesellschaftlichen Teilsystem ereignet hat, so gut es eben, wegen bekannter Schwierigkeiten mit identischer Reproduktion, geht, kopieren und in ein anderes Teilsystem einfügen. Die Kopie der Kommunikation wird, wenn vielleicht auch mit Problemen, anschlussfähig prozessiert werden. So wie es mit unseren Veröffentlichungen passiert oder zum Beispiel auch mit einem Werbeslogan, den eine Werbeagentur für ein Pharmaunternehmen entwirft.


Wenn Sie ein Wirtschaftsunternehmen gründen wollen, müssen sie schon einmal entscheiden, über das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium (Geld) am Funktionssystem (Wirtschaft) teilzuhaben. Das ist aber lang noch nicht alles:


Sie benötigen Erlaubnisscheine für die Gründung Ihrer Firma, sie müssen Steuererklärungen abgeben und vieles andere mehr.


Vereinen wie den Tafeln können wir ihre Identität nicht absprechen, auch nicht ihre selbstreferenzielle Organisation. Aber darüber zu übersehen, dass sie ganz ohne Überbrückungsschwierigkeiten mit den Leistungsempfängern sprechen können, dass ein Finanzbeamter ihre Abrechnungen in Frage stellen und sich das direkt in der inneren Kommunikation des Vereins weitertransportieren lässt, als hätte eines der Mitglieder etwas gesagt: „Der X vom Finanzamt meint, wir haben uns da verrechnet, und wir müssen da nochmal ran!“, würde die Gelegenheit verstreichen lassen, über Autopoiesis noch einmal neu nachzudenken.


Die Grenze von lebenden Systemen zu Umwelt ist dicht und nicht überschreitbar. So wie die Grenze von Gesellschaft zu Psyche(n). So ist auch die Grenze von Organisation (als FORM der Gesellschaft) zu Psyche dicht, jedoch weder Organisation noch wir können diese Grenze in Gesellschaft weiter ziehen und Gesellschaft sich selbst gegenüber abgrenzen und dicht machen. Was manchen als Grenze der Organisation erscheint, ist keine Grenze im Sinne der Grenze des lebenden Systems zu seiner Umwelt, es sind schlicht die Enden der jeweiligen organisationellen Reichweite.


Konzerne können wegen Monopolisierungsversuchen direkt über ihre eigene Sprache, nämlich Geld, abgestraft werden, und natürlich können sie, wenn ihnen die Steuern in einem Land nicht passen, Steuerflucht betreiben, aber die Gesetzgeber der betroffenen Länder können wiederum Entscheidungen fällen, auch dieses Problem zu lösen. All das ist Kommunikation, und an all das und noch viel mehr müssen Organisationen anschlussfähig bleiben, oder sie sind buchstäblich und vollkommen isoliert.


Psychen hingegen können wir ihre Gründungsbedingungen weder vorschreiben, noch können wir in sie hineinproduzieren, innerhalb welcher Symbolsätze sie zu denken, zu operieren haben. Wir können natürlich versuchen, Druck auf sie auszuüben, so dass sie sich angepasst verhalten und sich nicht mehr trauen, Dinge zu denken, die unseren Ideologien zum Beispiel widersprechen, und das klappt auch in gewissem Rahmen, aber es läuft anders als bei Organisationen in Gesellschaft, nämlich über Strukturelle Kopplung, wo sich autopoietische Systeme unterschiedlicher Element-Arten aneinander anpassen. Umwelt(systeme) kann/können in andere autopoietische Systeme nicht eindringen, ohne sie zu zerstören. Sie können sie nur anregen, zu orientieren, sogar zu zwingen versuchen, nicht aber als Gedanke zum Beispiel direkt von außen in eine Psyche eindringen.


Könnten gesellschaftliche Teilsysteme was Psychen können, sie bräuchten eine emergente Leistung, die für sie das tut, was Kommunikation für Psychen ermöglicht.



Emergenz
Reproduktion einer anderen Komplexität



Ich kann Organisationen nicht einfach aus Gesellschaft isolieren und ohne gesellschaftlichen Anschluss auf den Mond versetzen. Ich kann hoffen, dass die für das Unternehmen zum Beispiel arbeitenden Menschen es schaffen, dort eine eigene Gesellschaft aufzubauen, aber dem Unternehmen fehlt gesellschaftliche Integration. Es zerfällt. Vielleicht baut irgendwann auf dem Mond mal jemand wieder ein ähnliches Unternehmen, aber es benötigt dafür nicht einmal Identität mit dem alten.


Auch können Wirtschaftsorganisationen nicht einfach so eigenes Geld drucken in der Hoffnung, das wäre unproblematisch gesellschaftlich anschlussfähig: gesellschaftsfähig.


Organisationen entwickeln eigene Zeichen und Zeichenräume, Teil- und Subsysteme sogar eigene Sprachen für ihre Unbestimmtheitsreorganisation. Indem sie Kommunikation relationieren und so Unbestimmtheit reorganisieren, während sie gesellschaftliche Probleme zu lösen bemüht sind, spezialisieren sie sich, und darüber entwickeln sie Membrane, aber keine Grenzen:


Sie müssen sogar bis zu einem bestimmten Punkt informationell und operational offen funktionieren, um gesellschaftsfähig zu bleiben. Würden sie sich schließen, wären ihre Kommunikationsbemühungen mit Gesellschaft genauso wenig anschlussfähig, wie das meine Gedanken an Ihre sind.


Jemand könnte jetzt fehlschließen: Soziale Teilsysteme wie Organisationen funktionieren sowohl autopoietisch wie auch allopoietisch, nur gibt das der Autopoiesis-Begriff nicht her. Und er wird dort auch in ordentliche Nöte kommen. ((3) Baecker, 2023)


Besser: Soziale Teilsysteme wie Organisationen oder Konflikte versuchen autopoietische Reproduktion, aber sie tun das auf gesellschaftlicher Element-Ebene und bleiben darüber offen für und in gesellschaftliche/r Reproduktion. Das ist keine Gefallensentscheidung! Weder Organisationen noch Konflikte haben die faktische Möglichkeit, ihre eigene Autopoiese und soziale Unabhängigkeit zu erklären, denn das bedeutet ihr Ende.


Kommen wir zum Begriff „Strukturelle Kopplung“:


Das Konzept der Strukturellen Kopplung ist darum bemüht, das Problem, dass geschlossene lebende Systeme sich beeinflussen, ohne in einander eindringen zu können, auszudifferenzieren.


Strukturelle Kopplung bedeutet: Ein Beobachter beobachtet, wie sich in zwei oder mehr autopoietischen Systemen Strukturen bilden, und erwartet, dass sie mit denen der jeweils anderen autopoietischen Systeme gekoppelt funktionieren. Beobachte ich, wie diese Struktur entsteht, erwarte ich, dass jene Struktur entsteht. Die Kopplung selbst lässt sich ebenfalls als Struktur beobachten. Die gekoppelten Strukturen müssen nicht aufeinander folgend generiert werden. Die Kopplung hat keinen materiellen Träger, sie wird über Beobachtung und Erwartung konstruiert.



Geschlossene/autopoietische lebende komplexe Systeme reagieren aufeinander / erwarten einander / passen sich aneinander an.



Tänze, Kämpfe, Kriege funktionieren als und in Strukturelle/r Kopplung.
Der Tanz setzt keine Muskelbewegung in Gang. Das machen Körper.
Kriege kennen keinen Schrecken. Aber einige Psychen erschrecken sich über die Gräuel des Krieges.


Um die Zusammenhänge zwischen offenen Systemen zu beschreiben, benötigen wir den Begriff der Strukturellen Kopplung nicht. Da können wir von Relationen und Interdependenzen sprechen.


Der Begriff der Strukturellen Kopplung setzt Autonomie und Autarkie der Systeme voraus, die ihre Erwartungen aneinander anpassen.
Peerpressure funktioniert in Struktureller Kopplung, dass sich hier auf der einen Seite in der Gruppenkommunikation eine Struktur formt und dort auf der anderen Seite in der Psyche eines Mitglieds der Gruppe.
Symbiotische Interaktion wie bei Parasit/Fisch kann als Strukturelle Kopplung gefasst werden.


Wechselseitige Erwartung kann die an Struktureller Kopplung beteiligten Systemen so anregen sich zu rhythmisieren, dass in einem autopoietischen System nach einem bestimmten zeitlichen Muster die Struktur geFORMt wird, obwohl die Strukturen in dem/den anderen System/en weggefallen sind. Das biologische System von Heidelinde kann immer noch jeden Sonntag Nachmittag in Unruhe verfallen, Adrenalin und Noradrenalin ausschütten, obwohl die Schwiegermutter sonntags nicht mehr anruft. Leistungssportler wissen: Den Sieg zu erwarten, ist spielentscheidend.


Für Strukturelle Kopplung ist Autopoiesis zwingend. Es sei denn natürlich, wir weichen unsere Begriffe auf. Das ist aber weder notwendig, noch wäre es sonderlich hilfreich, denn:


Alle Aufgaben und Funktionen, die sinnvollerweise auf gesellschaftliche Teilsysteme attribuiert werden, können gerade erfüllt werden, weil dieser Unterschied auf sie zutrifft:



Sie sind nur insofern autopoietische Systeme, als sie an der Autopoiese des Gesamtsystems partizipieren.
Sie kommunizieren, Sie verbauen sich an Umwelt, indem sie Meinen/Mitteilen/Verstehen selektieren/relationieren. ((4) Peyn G., 2018)



Sie folgen systemdifferenzierend dem evolutionären Code, aber sie schließen sich nicht vollständig, Gesellschaft wird für sie nicht zu Umwelt, sondern funktioniert als Umfeld. Elemente aus dem Umfeld stoßen nicht auf Grenzen, sondern können durch die Membran der Teilsysteme dringen, ohne sie zwangsläufig zu zerstören.



Über ihre Membran bleiben Teilsysteme autopoietischer Systeme offen für Interdependenz, für anschlussfähige Kommunikation mit und in ihrem Umfeld mit dessen Elementen, und über ihre informationelle Spezialisierung gewährleisten sie Reproduktion und Kohärenz ihrer Relationierungen/Struktur.


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Referenzen:


 




  1. Peyn Gitta, 2018, Information, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/nformation




  2. Peyn Gitta, 2021, Autonomie/Autarkie/Autopoiesis, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/autonomie-autarkie-autopoiesis




  3. Baecker Dirk, 2023, SWF Talk „Neueste Entwicklungen in der Systemtheorie“, https://www.simon-weber.de/blog/9-swf-talk-mit-prof-dr-dirk-baecker/




  4. Peyn Gitta, 2018, Kommunikation – Reorganisation des Unbestimmten, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/kommunikation-reorganisation-des-unbestimmten