Komplexität
engl. complexity, franz. complexité f, von lat. complexus = »Umfassung, Umschließung«, ist sowohl für eine begriffliche Wiedergabe (Luhmann 1985, S. 45, Fn. 26) als auch für eine forschungsmäßige Verwendung zu komplex (Luhmann 1980, S. 1065). Gleichwohl kann weder darauf verzichtet werden, den Begriff näher zu bestimmen, noch darf seine zentrale Bedeutung für die Forschung ignoriert werden. Das englische Wort complexity bezeichnet ein schwer zu verstehendes Phänomen, das aus mehreren untereinander verbundenen Teilen besteht. In französischer Sprache bedeutet complexité die Gesamtheit aller Merkmale und/ oder Möglichkeiten eines Zustandes. Umgangssprachlich werden in Deutschland Gegenstände als komplex bezeichnet, wenn sie aufgrund mangelnder Kenntnisse und Kompetenzen nicht durchschaut und zielgerichtet (Ziel) gesteuert werden können. Da die Einschätzung von Komplexität von den jeweiligen intellektuellen Voraussetzungen und/ oder Erkenntnisinteressen abhängt, fällt die Einschätzung dessen, was komplex ist, häufig unterschiedlich aus. Komplexität ist insofern »ein Begriff der Beobachtung und Beschreibung (inclusive Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung)« (Luhmann 1997, S. 136).
Der Komplexitätsbegriff ist für eine Vielzahl von Wissenschaften von zentraler Bedeutung. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird er näher bestimmt durch (1) die Anzahl der Elemente und ihre unterschiedlichen Eigenschaften, (2) die Vielzahl der Beziehungen zwischen den Elementen und die Art der Beziehungen (direkt – indirekt, kausal – nichtkausal, fest gekoppelt – lose gekoppelt; Kopplung) und (3) die Dynamik des Wandels der Elemente, Eigenschaften und ihrer Beziehungen. Komplexe Systeme sind (4) emergent, weil sie Eigenschaften besitzen, die nicht auf die Eigenschaften ihrer Elemente zurückgeführt werden können. Stattdessen weisen sie eine neue Qualität auf, die erst aus den Interaktionen zwischen den Elementen entsteht.
Im Rahmen der soziologischen Systemtheorie hat sich Niklas Luhmann intensiv mit Problemen, die durch Komplexität für Sozialsysteme aufgeworfen werden, auseinandergesetzt. Sein Forschungsansatz ist auf die Entwicklung einer »komplexitätsbewussten Systemtheorie« (Luhmann 1999b, S. 251) ausgerichtet. Komplexität liegt nach seinem Verständnis vor, wenn ein System nicht mehr alle seine Elemente (Ereignisse, Entscheidungen, Kommunikationen) komplett miteinander in Beziehung setzen kann, sondern sie selektiv miteinander verknüpfen muss. Für komplexe Systeme gibt es von daher immer mehr Möglichkeiten, als aktualisiert werden können (Luhmann 1990, S. 62, 72). Komplexität bedeutet für ein System demnach Selektionszwang (Luhmann 1974, S. 33), einerseits zwischen System und Umwelt, andererseits systemintern zwischen Element und Relation, wobei beide Selektionsarten aufeinander abgestimmt (»relationiert«) sein müssen. Zusammengefasst, bedeutet Komplexität somit »selektives Relationieren in einer Menge von Elementen« (Luhmann 1996 b, S. 14). Brechungen der Interdependenz zwischen den Elementen stellen deshalb die eigentlichen Ordnungsleistungen von Systemen dar (Luhmann 1993a, S. 238). Der hier entwickelte Komplexitätsbegriff ist ganz bewusst formal angelegt, da jenseits dieser formalen Merkmale jedes gesellschaftliche Subsystem seine eigenen inhaltlichen Vorstellungen von Komplexität hat und eigene Verfahren zu ihrer Bearbeitung entwickelt. Man muss deshalb zwischen politischer, ökonomischer, wissenschaftlicher oder kultureller Komplexität unterscheiden. Erst dadurch lässt sich
»zu einem Komplexitätsbegriff übergehen, der definiert ist durch eine Mehrheit von Beschreibungen und Ansätzen für Reduktionen ebendieser Komplexität« (Luhmann 1996a, S. 127).
Eine Steigerungsform komplexer Systeme sind »hyperkomplexe Systeme«. Sie besitzen die Fähigkeit, ihre Komplexität selbst zu beobachten, zu beschreiben, sich an ihr zu orientieren und sie zu reflektieren (Luhmann 2002, S. 181). Ausdruck finden diese Fähigkeiten in der Systemplanung, durch die eine vereinfachte Version der Systemkomplexität angefertigt und wieder in das System eingeführt wird und dort bearbeitet werden kann (Luhmann 1985, S. 636).
Für die Analyse von Komplexität orientiert sich Luhmann an der funktionalen Methode bzw. funktionalen Analyse (Luhmann 1999a, S. 283–286), da sie nicht auf Kausalerklärungen festgelegt ist. Konzeptioneller Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Umwelt immer komplexer als das System ist, mithin zwischen System und Umwelt ein Komplexitätsgefälle besteht, das vom System überbrückt werden muss. Die Systemaufgabe besteht deshalb darin, Umweltkomplexität und Systemkomplexität so aufeinander abzustimmen, dass sich für das System keine neuen (Komplexitäts-)Probleme ergeben. Systeme können also mit der Regulierung der Umweltkomplexität ihre eigene Systemkomplexität steuern, gleichzeitig aber auch mit der Steuerung der eigenen Systemkomplexität regulierenden Einfluss auf die Umweltkomplexität nehmen. Dafür verwenden Sozialsysteme Sinn, der die Kriterien für die Auswahl der Relationen zwischen den Systemelementen sowie zwischen diesen und der Umwelt vorgibt (Luhmann 1993a, S. 26). Die funktionale Analyse bietet weiterhin die Möglichkeit, das Problem der Weltkomplexität in einen Problemaspekt, der Steigerung von Komplexität, und in einen Lösungsaspekt, der Reduktion von Komplexität, zu zerlegen. Reduktion von Komplexität beruht zum Beispiel auf Strategien der Problemverschiebung oder der Generalisierung von Verhaltenserwartungen (Erwartung). Eine Strategie zum Aufbau von Komplexität besteht dagegen in ihrer Temporalisierung (Luhmann 1985, S. 77). Eine etwas andere Form der Analyse von Komplexität hat Herbert Simon mit seiner »Verschachtelungstheorie« vorgeschlagen. Durch eine Dekomposition komplexer Systeme in ihre Subsysteme (»boxes«) können ihre jeweiligen Funktionen für das Gesamtsystem genauer untersucht und ihre Komplexität somit besser erfasst werden (Simon 1984, pp. 209–219).
Verwendete Literatur
Luhmann, Niklas (1974): Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Jürgen Habermas u. Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 25–100.
Luhmann, Niklas (1980): Komplexität. In: Erwin Grochla (Hrsg.): Handwörterbuch der Organisation. Stuttgart (Poeschel), 2. Auflage, S. 1064–1070.
Luhmann, Niklas (1993a): Gesellschaftsstruktur und Semantik 1. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1993b): Gesellschaftsstruktur und Semantik 2. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1996a): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 2. Aufl.
Luhmann, Niklas (1996b): Funktion der Religion. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 4. Aufl.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Teilbände. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Niklas Luhmann (2002): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg (Carl-Auer).
Weiterführende Literatur
Hayek, Friedrich August von (1972): Die Theorie komplexer Phänomene. Tübingen (Mohr).
La Porte, Todd R. (ed.) (1975): Organized social complexity. Princeton (Princeton University).
Rosen, Robert (1977): Complexity as a system property. International Journal of General Systems (3): 227–232.