Systemische Therapie – Geschichte einer Anerkennung

Im Mai 2020 führten Rüdiger Retzlaff und Jochen Schweitzer dieses Gespräch über Strategien, Wege und Umwege zur wissenschaftlichen und sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts.
Beide Gesprächspartner gehörten zu einer Expertise-Gruppe, über deren Entstehung und dynamische Geschichte hier bislang Unbekanntes und Spannendes zu erfahren ist. Wie kam es zur Expertise-Gruppe? Welche Widerstände im systemischen Feld und außerhalb galt und gilt es nach wie vor zu gewärtigen? Zufälle? Planungen? Wie steht es um und mit Diagnosen und Orientierung daran? Und was hat, neben den stressigen Phasen, tatsächlich Spaß gemacht?



Bleiben sie informiert, bleiben Sie im Gespräch. Im Podcast Heidelberger Systemische Interviews mit dem Carl-Auer Verlag und dem Helm-Stierlin-Institut.
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Transkription des Interviews


Ohler Guten Abend, Rüdiger Retzlaff und guten Abend Jochen Schweitzer zu unserer Serie "Gespräche über systemische Therapie und den Weg zur Anerkennung als sozialrechtliches Verfahren, kassenzugelassenes Verfahren". Ich freue mich sehr, dass ihr euch die Zeit nehmt. Jochen, schön, dass du da bist und bereit bist, den Schatz deiner Gedanken und Erinnerungen und Ideen aufzumachen. Und ich übergebe jetzt einfach an den Rüdiger. Du wirst das Gespräch mit Jochen führen, und wenn mir irgendwas einfällt, erlaube ich mir, was zu fragen, ok? Also Rüdiger, hallo.


Retzlaff Ja, wir gehen ja langsam auf den Sommer zu, und ich kann mich erinnern an den Juni vor vielen Jahren, als ich auch mit Unterstützung von Helm Stierlin und Jochen Schweitzer, von dir, zur EFTA-Tagung rübergefahren bin und zurückkam, nicht nur mit einem Koffer voller Ideen, sondern auch mit Ideen zu der Expertise, und wir haben drüber gesprochen.Und ich weiß nicht, an was du dich erinnerst, wie es für dich alles so begonnen hat mit unserer, mit deiner Mitwirkung an den Arbeiten, an diesem großen, langwierigen, tollen Projekt.


Schweitzer Ich erzähle kurz etwas vor diesem Zeitpunkt und dann komme ich zu dem Zeitpunkt, den du erwähnt hast, Rüdiger. In gewisser Weise, ich datiere die Geschichte der Anerkennung eigentlich bis 1991 zurück. Es gab damals, von der Heidehof-Stiftung gefördert, ein Symposium irgendwo im Schwäbischen, bei dem die damaligen Familientherapie-Forscher zusammentrafen, um die Evidenzlage zu begutachten. Da waren zum Beispiel Michael Wirsching, Manfred Cierpka, Friedrich Balck dabei, da waren auch von den Verbänden her Anni Michelmann, Marie-Luise Conen und andere dabei – und damals gab es so die Idee, das sei vielversprechend, aber sehr ausbaufähig. Man hat dann beschlossen, eine große Gemeinschaftsstudie in Eigenleistung zu erstellen, die so genannte DAF-Studie, die nur teilweise gut vom Fleck gekommen ist. Da beginnen schon diese Entwicklungen, und sie intensivieren sich dann, als die damals drei systemischen Verbände den Günther Schiepek beauftragten, eine Expertise zur Wirksamkeit zu erstellen. Das hat er gemacht, die wurde abgegeben und wurde 1998 dann in einem seltsamen Moment abgelehnt, als das Psychotherapeutengesetz gerade verabschiedet worden wa. Der Wissenschaftliche Beirat hat das, nach meiner Kenntnis, in seiner allerersten Sitzung – noch ganz ohne Spielregeln, wie man mit solchen Anträgen umzugehen hat – auf drei Seiten als nicht wissenschaftlich abgelehnt. Dann kam eine depressive Phase, sage ich mal. Also eine Szene-Depression, in der die systemische Szene kurzfristig versunken ist. Die Aufregung über diese Ablehnung wurde zwar szeneintern durch verschärften Streit um Bert Hellinger abgelöst. Aber was die Anerkennung betraf, blieb da eine depressive Stimmung. Und jetzt kommt das ins Spiel, was du sagtest Rüdiger. Ich erinnere, dass du mich angesprochen hast und gesagt hast: "Wollen wir nicht mal vielleicht gemeinsam mit einem Diplomanden eine Sichtung machen, was es heutzutage an Studien zu Wirksamkeit gibt?" Und so beginnt der modernere Teil dieser Geschichte, den wir sehr stark miteinander geteilt haben.


Retzlaff Ich glaube mich zu erinnern, dass du am Anfang ein bisschen skeptisch warst und dass dann aber der Stefan Beher irgendwie im Hintergrund war und zeitgleich bei dir angefragt hat wegen einer Diplomarbeit. Das war, glaube ich, eine ganz gute zeitliche Koinzidenz.


Schweitzer Ja, Stefan war ein sehr begabter junger Psychologiestudent, sehr schnell im Recherchieren und im Beurteilen von Studien. Und wir beide haben ihn ein Stück weit angeleitet und ihm Hinweise gegeben, wo er suchen sollte, und das wurde ein toller Selbstläufer. Und dann kam ja für mich überraschend, dass wir auf der zweiten Forschungstagung, die wir hier in Heidelberg organisiert haben, einen Vortrag von Kirsten von Sydow hörten und merkten: Die macht ja gerade fast dasselbe wie wir. Diese Überraschung hat dann den Saal ergriffen in dem Moment. Sie ergriff auch den anwesenden damaligen Vorsitzenden der DGSF Wilhelm Rotthaus, und er sagte: "Das ist doch klasse!" Wer jetzt die Idee hatte, dass wir vier als Quartett zusammen arbeiten sollten, das weiß ich nicht mehr, ob du die hattest, ob Kirsten die hatte, ob Wilhelm Rotthaus die hatte ...


Retzlaff Ja, das kann ich noch sagen. Kirsten hatte das so in Erinnerung, dass du sie eingeladen hattest, zu dem Thema zu referieren. Als ich dann ihren und Stefans Vortrag gehört hatte, bin ich in den Kaffeepauseraum gegangen und habe dann mit di, mit Arist von Schlippe und Wilhelm Rotthaus im Laufen zu irgendwelchen Verköstigungsmöglichkeiten geredet und habe gesagt: "Wäre das nicht eine Idee für die systemischen Verbände?" und "Könntet ihr euch vorstellen?" und "Würdet ihr Geld ausspucken dafür". Und ich habe dann irgendwie gesagt: "Wir treffen uns mal abends zusammen kurz." Und so ist das entstanden. Und es gab auch noch diesen bemerkenswerten Faktor, dass damals dieser Finanzbeamte in Freiburg gesagt hat: "Systemische Therapie ist keine Weiterbildung im Gesundheitswesen, dafürmüsst ihr Mehrwertsteuer zahlen." Und da waren sehr viel Leute ,besonders die Weiterbildungsinstitute, sehr interessiert, dass wir heilkundlich irgendwie eine Anerkennung kriegen. Und das hat damals, glaube ich, ziemlich beflügelt, dass die Verbände gesagt haben: "Mensch, wenn wir nicht jetzt die Anerkennung bekommen, dann würden wir da irgendwie auch finanziell Schaden nehmen."


Schweitzer Wahrscheinlich fand die Unterhaltung an einem Büchertisch statt, an dem ein gewisser Matthias Ohler damals Bücher von Carl-Auer und anderen Verlagen anbot, vielleicht hat er das sogar mitbekommen. Dann beginnt, aus meiner Sicht, eine von zwei höchst produktiven Phasen. Die erste vom Beginn der Expertise bis zur Anerkennung als evidenzbasiertes Verfahren im Wissenschaftlichen Beirat. Die andere Höhepunkt-Phase ist, läuft bis zumindest 2018, das ist der entsprechende Prüfungs- und Anerkennungsprozess im Gemeinsamen Bundesausschuss. Jener eine Abend in Stuttgart, an dme ich mit den PID-Hereuasgebergremien zum Essen saß und mehrere Leute mich fast gleichzeitig anrufen und sagen: "Es ist durch im Wissenschaftlichen Beirat!" – ich habe nicht damit gerechnet, ich habe eher einen negativen Ausgang erwartet. Ähnlich war es irgendeines Abends, glaube ich, im Oktober oder November 2018, als dann zeitgleich zahlreiche Mails eintrafen und sagten: "Es ist durch durch den GBA." Das waren eigentlich die beiden schönsten Momente.


Retzlaff Du beschreibst solche Phasen oder Abschnitte. In dem ersten Abschnitt gab das ja auch ziemlich lange Durststrecken – Recherchen, immer wieder auch Zwischenbefunde, Berichte, dass eigentlich was fehlt. Da habe ich von meiner Seite auch immer nachrecherchiert. Auch Anfragen bis China, Großbritannien, über die EFTA. Du hattest damals, ähnlich wie Manfred Cierpka, chinesische Doktorandinnen, glaube ich, die uns auch unterstützt haben. Und das war, glaube ich, cool, dass du die hattest und dass wir die hatten. Und diese Deutsch-chinesische Akademie für Psychotherapie, die war glaube ich ganz zielführend. Die Chinesen haben ja auch tolle Studien zu Psychosen beigetragen. Viele wurden gar nicht anerkannt, weil die empirisch nicht so dolle waren. Aber das war, glaube ich, ne gute Sache, dass wir diesen Kontakt hatten auch, oder?.


Schweitzer Da gab es ja aus meiner Sicht zwei Suchwege. Der eine begann, als Helm Stierlin uns uns für einen Nachmittag einlud zu einem Treffen mit Lyman Wynne auf seiner häuslichen Terrasse. Lyman Wynne ist ja so eine Übergestalt der amerikanischen, vor allem der wissenschaftsorientierten Familientherapeuten gewesen. Und Wynne hat ja damals zugesagt, dass er bei der American Family Therapy Academy Werbung dafür macht, dass die auch für uns mitsuchen. Dann haben wir aber beschlossen, vielleicht reicht´s noch nicht ganz – also bei Schizophrenie, bei der Angst, bei einigen anderen Sachen. Und wir müssen mal gucken, vielleicht sind da jenseits von Deutsch und Englisch noch verdeckte Schätze. Und wir haben auf mehreren Wegen gesucht, und es kamen Schätze aus Griechenland, aus dem Baskischen – man beachte: nicht aus dem Spanischen, sondern aus dem Baskischen – aus Südkorea, und mehrere aus China. Da gab es für die chinesische Sprache nochmal eine weitere schöne Connection. Timothy Sing ist ein Chinese in Singapur; der hat sehr gut recherchiert, hat uns seine Ergebnisse in chinesischer Sprache geschickt, wir verstanden es natürlich nicht. Wir haben sie dann aber doch zu Zhao Xudong in Shanghai geschickt, der sie dort hat übersetzen lassen. Und dann konnten wir vor allem zur Schizophrenie mehrere Studien vorlegen, von denen am Ende eine anerkannte wurde, und ohne die wäre es nicht gegangen. Das war also diese Art von Netzwerkerei, die uns zeigte, wie man zu Studienergebnissen kommt, die alleine mit deutschen und auch mit englischsprachigen Studien nicht hinreichend machbar gewesen wäre. Das hat mich sehr fasziniert.


Retzlaff Ja, das hat auch Spaß gemacht, weil ich dann über die Cochrane-Foundation den Tipp bekommen habe, dass die Chinesen doch so viel machen; und dann habe ich gedacht, das wäre echt cool, und Zhao Xudong hat dann immer wieder auch die Güte der Übersetzungen attestiert, was ja irgendwie auch ganz cool war. Ich habe dann sogar diese griechische Sache übersetzen lassen. Ansonsten hatte ich eine im Original schwedische Studie gefunden, die noch gar nicht auf Englisch publiziert war. Das hat irgendwie auch Spaß gemacht, dass wir immer noch irgendwie einen Joker aus dem Hut zauberten und noch eine Studie lieferten, und noch eine. Aber es gab ja für dich sicherlich auch Tiefpunkte, oder? Was war da für dich herausstechend?


Schweitzer Die eine schwierige Phase, fand ich war die von 1998 bis 2003. Ich war damals bis 2000 noch im Vorstand der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Familientherapie. Und es legte sich eine bleierne Lähmung zunächst mal über die Szene, also auch mit allen möglichen Untergangserwartungen. Man muss bedenken, das war die Zeit, wo QM, Evidenzbasierung, Regulation der Psychotherapie zum dominanten Diskurs wurde, dem wir uns nicht entziehen konnten. Ich habe auf der DGSF-Gründungstagung einen provokanten Vortrag gehalten, warum die Nichtanerkennung der systemischen Therapie ein Glücksfall gewesen sei, zum damaligen Zeitpunkt. Das war natürlich ein Versuch, zu einer kollektiven Depressionsabwehr beizutragen. Es war aber, glaube ich, nicht doof, wenn ich gesagt habe: "Wenn wir jetzt in dieses derzeitige Abrechnungssystem reingekommen wären, dann würden wir hinterher unsere Arbeitsweise nicht wiedererkennen." Da können wir vielleicht, wenn ihr wollt, nachher nochmal drauf zurückkommen. Ich glaube, die Lage, die Psychotherapie-Politik, ist für unser Anliegen heute eine günstigere als um das Jahr 2000 herum. Es ist jetzt ein förderlicher Kontext, es ist ein guter Zeitpunkt, jetzt da hineinzukommen. Meine zweite schwierige Phase war 2008 bis 2013. Damals war ich DGSF-Vorsitzender, und es gab ja keine Möglichkeit, selber einen Antrag beim Gemeinsamen Bundesausschuss der Krankenkassen und Ärzte zu stellen. Den Antrag musste eine der Parteien stellen. Wir haben jede angesprochen, und jede Partei hat gesagt "Ja, wenn die anderen, dann machen wir mit", und die anderen sagten "Ja, wenn die anderen, dann machen wir mit". Aber keiner wollte anfangen. Also weder die Ärzteverbände, als Leistungserbringer, noch die Krankenkassen als Bezahler. Das zog sich hin, bis wir irgendwann auf die Idee kamen, wir müssten Berliner Lobbypolitik verstehen lernen. Und wir haben sie intensiv studiert. Wir haben sehr qualifizierte Beratung gefunden. Das half. Und irgendwann hat dann der GBA es selber initiiert. Und es war auch klar: Wir schaffen das nicht ohne eine personelle Präsenz in Berlin. Und es war dann hilfreich, dass zu jenem Zeitpunkt die Summe an Mitgliedern und damit auch natürlich an Mitgliedsbeiträgen der beiden größeren Verbände stark genug war, um eine sehr gute Kollegin, Kerstin Dittrich, und einen sehr gute Kollegen, Sebastian Baumann, anzustellen, um in Berlin hauptamtlich für diese Sache auch über vier Jahre hinweg im Kontakt mit vielen Menschen im Gesundheitswesen dafür einzutreten. Aber vorher? Also ich war drei Jahre lang einfach verzweifelt. Du denkst, irgendwo muss hier eine Tür auf sein, aber du findest sie nicht. Und bei jeder Tür, an der du anklopfst, wird gesagt "Probieren Sie es nebenan", und wenn du nebenan anklopfst sagen sie "Probieren Sie es nebenan".


Retzlaff Es gibt eine chinesische Strategie in so einem Werk über Heurismen, die besagt: "Kommst du nicht zur vorderen Tür rein, zum Haupteingang, dann benutze den Hintereingang." Und aus meiner Sicht war ein Hintereingang, sehr breit angelegt zu streuen: Wir sind gut; wir sind wissenschaftlich fundiert. Und ich gehe noch einmal ganz zurück an den Anfang. Bei dieser Forschungstagung hatte ich dafür plädiert, dass Detlev Kommer eingeladen wurde, der damals Präsident der Landes- und Bundeskammer war Ich habe ihn dann beiseite genommen und habe gesagt: "Stellen Sie sich vor, es geht noch nicht einmal, dass wir Fortbildungspunkte kriegen, weil das Verfahren nicht als wissenschaftlich anerkannt gilt." Und dann hat er gesagt, das macht er möglich. Und so haben wir, oder du hast dann immer wieder Forscher eingeladen. Ich hatte dir häufiger Leute vorgeschlagen, Russell Crane zum Beispiel, und andere. Und dann hatten wir aber immer wieder auch Kassenvertreter dabei, wo ich dann vorgeschlagen habe: "Hol doch den dazu." Matthias Ochs hatte das super vorbereitet. Und dann hatten wir aber auch gestreut auf der Ebene der Kammern und der Politik und der Krankenkassen: Die Systemiker sind gut, das ist empirisch solide, das kann man machen, das wird in Amerika gemacht. Und ich glaube, das hat atmosphärisch auch dazu beigetragen, dass über einen langen Zeitraum hinweg das Image sich verbessert hat, in dem Feld der Entscheidungsträger. Ich glaube, das waren keine so direkten Vorgehensweisen, aber indirekte, die auch ganz wesentlich waren als Hintergrund zu dem, was du dann über Berlin und die beiden Kollegen hinaus gesagt hast.


Schweitzer Da kann ich gerade anschließen: Ich glaube, wir haben in der Phase auch einen Diskurswechsel eingeleitet. Ich würde mal sagen, bis 2000 haben die systemischen Therapeuten gesagt: "Wir sind ganz anders als alle anderen. Wir sind auch besser als alle anderen." Und sie haben damit sozusagen einen Antagonismus aufgebaut, mit dem wir uns auch ein Stück weit ins Abseits befördert haben. Das kannst du nachzeichnen auch in die Frage hinein, mit wem unsere Verbände zusammengearbeitet haben. Die Systemiker hatten bis 2006 vor allem mit Verbänden zusammengearbeitet, die auch nicht anerkannt waren, also eine Koalition aller Ausgeschlossenen gemacht, was natürlich das Selbstbild "Uns will keiner drin haben" nochmal gefestigt hat. Und wir haben angefangen, das aufzuweichen. Wir waren in einer verhängnisvollen Koalition, vor allem mit der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächstherapie damals, die durch ihren Geschäftsführer vollkommen durch die "Wir haben keine Chance, aber deshalb nutzen wir sie umso militanter"-Haltung sehr viele Rechtsverfahren angestrengt haben, die am Ende aber nicht weit geführt haben. Und wir haben gesagt: "Wir sind offener, wir halten auch Verhaltenstherapeuten nicht für des Teufels. Und auch mit Analytikern kann man sich gut unterhalten." Das hat, glaube ich, eine offenere Atmosphäre geschaffen.


Retzlaff Der Wechsel von einem, transaktionsanalytisch gesprochen, Looser-Spiel zu einem Winner-Spiel eigentlich. "Ihr seid gut, wir sind auch gut." Das ist eine, glaube ich, andere Herangehensweise.


Schweitzer Natürlich damit auch ein weniger größenfantastisches Selbstbild, also dass wir so ganz anders seien.


Retzlaff Wie hast du denn die Zusammenarbeit mit den Mitstreiterinnen und Mitstreitern erlebt? Da hatten wir ewige Sitzungen, nächtliche Telefonate und spätabendliche Telefonate. Das war ein langer, langer Prozess auch.


Schweitzer Meinst du jetzt innerhalb der Expertise-Gruppe?


Retzlaff Ich meine jetzt zunächst in der Expertise-Gruppe.


Schweitzer Wir waren ja in der Expertise-Gruppe eine spannungsvolle Mischung. Wir haben uns auch viel über Details, über Sätze, über Worte, lange unterhalten und oft auch gestritten. In meiner Wahrnehmung war vor allem Kirsten von Sydow, aber auch du, es, die sehr stark unseren Text, den wir verfasst haben, aus der Brille des Wissenschaftlichen Beirates betrachtet haben. Also aus der Sicht einer, ich sage mal: positivistischen Wissenschaft und auch einer Variante von Systemischer Therapie, die vom Gesundheitswesen leichter verkraftbar erschien, also sprich möglichst wenig radikalen Konstruktivismus, eher der Glaube an eine Wissenschaft, die man auch empirisch darstellen und überprüfen kann. Damit auch eine Bevorzugung bestimmter Schulen in der Systemischen Therapie, zum Beispiel der strukturellen, zu der es viele Outcome-Studien gibt, während eigentlich die lösungsorientierte und narrative Schule in der Szene dominierten, aber viel weniger Outcome-Studien vorzuweisen hatten. Ich habe mich selber damals gesehen – meine Rollen – als jemand – ich habe ja weniger Studien gesucht und gefunden als die anderen drei – als jemand, der sozusagen immer zwei Bilder abgleicht, nämlich: Wie sieht sich die Szene nach meiner Wahrnehmung von innen und wie wird sie von außen gesehen? Und was ist die Geschichte, mit der beide Seiten gut leben können? Das war für mich der zu schreibende Story-Plot. Das führte häufig auch, wie gesagt, zu Konflikten um einzelne Worte. Aber die Konflikte waren überlagert einfach von einem großen Respekt. Wir haben das ja alle häufig abends und nachts gemacht, als eine echte Nebentätigkeit, und das hatte viel Spannendes. Wir fühlten uns auch als Teil eines historischen Prozesses, und von daher habe ich mich mit euch gleichzeitig auch sehr verbunden gefühlt.


Retzlaff Naja, du hattest aber auch eine andere Seele in deiner Brust, weil zeitgleich ¬– das hat glaube ich auch die Arbeit, die Abgabe der Expertise, ein bisschen verzögert, was gar nicht so schlecht war, weil wir dann eben doch mehr Studien hatten – aber du hast zeitgleich mit Arist von Schlippe an dem zweiten Band eures Lehrbuchs gearbeitet, wenn ich das richtig im Kopf habe, das ja auch eher störungspezifische Aussagen macht. Und das hat damals, glaube ich, auch sehr zu Kontroversen geführt, dass du, und Arist, ihr beide ja auch sehr von einem Teil der systemischen Landschaft und Kollegen hinterfragt worden seid. Und das hatte so gesehen ja auch eher empirisch-störungsspezifische Elemente drin. Und das hattest du dir ja auch durchaus schon zu eigen gemacht, oder?


Schweitzer Ja, aber ich glaube, die zeitliche Reihenfolge war eher andersherum. Weil wir an der Expertise gearbeitet haben, haben wir am Ende die Arbeit an dem Buch geändert. Das sollte auch ursprünglich schon "Das störungsspezifische Wissen" heißen. Sollte ein Buch über klinische Familientherapie sein. Aber die Idee, das Buch anhand von Diagnosen zu gliedern, die kam wirklich erst in dem Moment, als die Expertise unterwegs war und ich dachte, das wäre doch eigentlich genau das, was man jetzt bräuchte, nämlich Diagnose für Diagnose systemisches Arbeiten im Gesundheitswesen zu beschreiben. Dazu nutzten wir auch empirische Studien, schöpften aber vor allem aus der klinischen Erzähltradition, aus Kasuistiken. Viel Wissen war schon seit den 50er Jahren angehäuft worden dazu, welche Kontexte welche klinischen Probleme fördern und was aus ihnen heraus hilft. Also einfach die Idee, dass Systemische Therapie mit einem magersüchtigen Mädchen schon anders aussieht, als mit einem jungen Drogenabhängigen auf dem Straßenstrich.


Retzlaff Was hat dir denn am meisten Spaß gemacht, oder Freude gemacht? Kannst du dich erinnern?


Schweitzer Also offengestanden das Feiern, wenn was geklappt hatte, und die Momente, wenn wir uns da getroffen haben. Also ich weiß noch, wir sind zu siebt oder zu acht 2010 zu Ehrenmitgliedern der Systemischen Gesellschaft berufen worden. Das war ein wunderschönes Treffen. Für mich war dieses Treffen in Berlin, wo wir endlich kapiert haben, wie wir mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss umgehen könnten, ein Höhepunkt, da waren wir auch zu zehnt. Das schönste waren die Feste. Ich habe dann in den letzten Jahren zwei oder drei von denen verpasst. Das waren einfach die schönsten Momente. Vieles zwischendrin war nicht vergnügungssteuerpflichtig.


Retzlaff Durchaus, ja. – Du hast das ja schon angedeutet: Es gibt ja auch jetzt Herausforderungen, die sich für die Systemische Therapie stellen. Nach der wissenschaftlichen, aber vermutlich noch mehr nach der sozialrechtlichen Anerkennung. Was siehst du da auf uns, auf das Feld zukommen?


Schweitzer Ich glaube – was ja schon häufig diskutiert worden ist – ist da um einen: Wie schaffen wir es, die professionsbezogene Ausbildung für psychologische Psychotherapeuten mit unseren Berufsgruppen übergreifenden systemischen Weiterbildungen möglichst eng zu verzahnen, obwohl sie de jure nicht verzahnt werden dürfen, von der Approbations-Ausbildung her? Wie schaffen wir es auch, dass alle Systemische Therapie, die nicht psychologische Systemische Psychotherapie ist, als gleichwertig verstanden wird, nicht ex negativo als nicht heilkundliche Systemische Therapie? Das ist zurzeit eine kursireenede Horrorvorstellung, wenn ich lese, es gibt Studien darüber "Was gibt's alles an nicht heilkundlicher Systemischer Therapie oder was gibt es an non-formaler Ausbildung?" Das ist auch so ein Begriff, den ich neulich gehört habe. Die formale ist dann die Approbations-Ausbildung zur Systemischen Therapie, die andere ist die non-formale. Das erinnert mich an die 90er, da war ich ein nicht-ärztlicher Psychotherapeut. Ich habe diesen Ausdruck gehasst, und ich finde auch die jungen Kolleginnen sollten heute nicht in non-formalen Studiengängen zu nicht-heilkundlichen Therapeuten weitergebildet werden. Also ich glaube, es braucht eine neue Sprachregelung. Wilhelm Rotthaus hat vorgeschlagen, alle, die nicht im Gesundheitswesen arbeiten, sollten sich künftig Beziehungs-Therapeuten nennen. Das ist ein Vorschlag. Die andere Frage ist, ob man nicht sagt "Wir brauchen langfristig systemische Beratungsweiterbildungen, die genauso aufwendig sind wie systemische Psychotherapieausbildungen", und alles, was nicht heilkundlich ist, ist Beratung. Und das unterscheiden wir dann nochmal in psychosoziale Beratung und Unternehmensberatung. Wir brauchen, glaube ich, für den ganzen Nicht-Bereich eine klare und insbesondere eine positive Sprachregelung, die nicht benennt, was ich nicht bin. Dann die zweite Herausforderung. Aber ich finde, da habt ihr, die ihr jetzt da sehr aktiv seid, schon das Wichtigste getan, nämlich das Mehrpersonen-Setting in den Psychotherapie-Richtlinien zu verankern und auch für eine bessere Bezahlung von Sitzungen mit mehr Teilnehmern zu streiten, was aber wohl leider noch nicht gelang. Die bessere Bezahlung von Mehrpersonengesprächen finde ich einen total guten Weg, auch als langfistig aufrechtzuerhaltende Forderung. Ich glaube, wir sind uns einig drüber: Nicht immer, aber meistens können viele Probleme schneller gelöst werden, wenn die Menschen dabei zusammensitzen, die es miteinander betrifft. Die dritte und letzte Herausforderung, die ich sehe, ist an den Universitäten. Da müssen wir in möglichst schneller Zeit möglichst präsent und möglichst gut werden, und das ist nicht einfach. Ich wüsste derzeit positiv nur von einer Kollegin, vielleicht sind es schon zwei bis vier, die im deutschen Sprachraum habilitiert haben oder habilitationsähnliche Leistungen anerkannt bekamen. Jedenfalls sind es sehr wenige, die im professurfähigen Qualifikationsbereich angekommen sind. Das muss sich – hoffe ich – in den nächsten zehn Jahren ändern, damit die Systemische Therapie nicht so ein Mauerblümchendasein in der universitären Lehre und Forschung spielt. Ich bin ein bisschen hoffnungsfroh. Ich hoffe, dass das neue Psychotherapiegesetz, oder seine Ausformungen, da auch ein bisschen genauer festlegen, wie viel Systemische Therapie, vertreten durch Kolleginnen mit welchen Voraussetzungen, denn in so einem psychologischen Psychotherapie-Studium drin sein soll. Das wären für mich so die Herausforderungen. Und natürlich so ganz nebenher ist wichtig, den Spaß an der Sache zu behalten. Also ich glaube, im systemischen Feld, das wissen wir alle, das macht mehr Spaß, dort zu arbeiten, als woanders. Da ist ein anderer Umgang miteinander, oft informeller, lustiger. Im Durchschnitt wird da mehr gelacht als in anderen Therapieschulen. Es ist weniger verbissen. Always look from the bright side of life, als Devise. Die Grundprofessionen spielen eine weniger wichtige Rolle als woanders. Irgendwie hoffe ich, dass das so bleibt.


Retzlaff Ja, Jochen, ich habe dich ja kennengelernt auch als jemanden, der an der Uniklinik, also im Hochschulkontext unterwegs ist, und ich glaube, deine Tätigkeit dort hat auch vielfältigerweise die Expertisearbeit ja beflügelt. Ich habe ja auch, sozusagen zwei drei Häuser weiter, mit der alten Stierlin´schen Abteilung Familientherapie beim Nachfolger, Herrn Cierpka, gearbeitet, und hatte auch einen Hochschul-Blick. Es gibt ja auch dieses Buch "Fröhliche Wissenschaft". Das wäre ja auch eine Idee, dass das, so wie du das jetzt sagst, unter Umständen auch Spaß machen kann. Dass das jetzt gar nicht unbedingt ein Widerspruch sein muss, dass man eine wissenschaftliche Orientierung hat und trotzdem sehr gute, systemisch hochwertige Arbeit machen kann. Das wäre vielleicht auch etwas, was in deiner Person mit eingeflossen ist. Finde ich ja auch eine schöne Perspektive für uns. Ich bin so ein bisschen in der Situation, vielleicht kennst du diese Stelle bei "Alice im Wunderland", dass die da auf ein Tor schießen sollen und die Tore bewegen sich die ganze Zeit. Und dadurch hat man es schwer, richtig zu zielen. Es ist ja so: Wir haben jetzt gerade diese wissenschaftliche und sozialrechtliche Anerkennung erreicht und sind in dieser alten Appropriations-Ausbildung jetzt drin. Gleichzeitig ändern sich aber durch das Therapeutengesetz schon wieder alle Vorgaben. Und das ist, glaube ich, eine besondere Herausforderung, so dass man sagen könnte "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel". Also die Herausforderungen für uns alle, die sind nicht weniger geworden. Ich bin sehr gespannt darauf, wie das in den nächsten Monaten und Jahren uns, am Institut, oder anderen gelingt, daraus was Gutes für uns zu machen, für die Patienten, für die Klienten und auch die jungen und alten Systemiker.


Ohler Eine Frage an euch beide noch, wenn ich mir das erlauben darf. Bei dem vielen, was der Jochen erzählt hat über die Konflikte, die es auch gibt, und die Konfliktlinien, die es manchmal gibt, könnte man sozusagen einen Lehrsatz formulieren: Systemiker zeichnet aus: Wenn ihr euch schon streiten müsst, dann habt wenigstens irgendwann auch Spaß dabei.


Schweitzer Also ein Höhepunkt für mich war dieses Streitgespräch mit Tom Levold und Wolfgang Loth über unser Lehrbuch 2 mit dem störungsspezifischen Wissen. Das war, dank unserer Gesprächspartner, auf hohem theoretischen Niveau, in gegenseitigem Respekt eine scharfe Diskussion, wie bei einem spannenden Tischtennis-Match. Im systemischen Denken hast du ja zumindest theoretisch die Idee, der andere hat, aus einer anderen Perspektive, vielleicht nicht ganz genauso, aber fast genauso recht wie du. Der Konflikt entsteht "nur" aus einer anderen Verrechnung oder aus einer anderen Perspektive heraus. Und ich glaube, wenn uns das gelingt, dann kannst du alle möglichen Konflikte inhaltlich so weiter austragen, aber respektvoller. Mir fällt übrigens gerade auf, dass das Wort “Respekt” auch zentral ist in der Doktorarbeit eines meiner Söhne, die er vor kurzem erfolgreich beendet hat. Und es ist ebenso zentral in Gianfranco Cecchins Bonmot, man solle respektvoll gegenüber Personen, aber respektlos gegenüber deren Ideen sein.


Ohler I wish you the very best. Danke, Jochen, für deine Zeit. Rüdiger, vielen Dank, gute Zeit.