Diagnose/Diagnostik

engl. diagnostics, modelling, assessment, pattern recognition, von griech. diágnosis »Unterscheidung, Entscheidung«, diá »durch«, gnósis »Erkenntnis, Urteil«; bezeichnet die Erfassung von Strukturen und Funktionen eines Systems oder der Interaktion mehrerer vernetzter (Netzwerk) Systeme. Zudem erstreckt sich der Begriff der Diagnose auch auf die Erfassung veränderungsrelevanter Bedingungen und Einflüsse auf ein System. In dieser weiten Fassung können Systeme und Systemzustände verschiedenster Art gemeint sein, z. B. Verhalten, Kognitionen und Emotionen von Individuen (Individuum), interpersonelle Muster von Paaren, Familien, Gruppen oder Teams, Strukturen und Abläufe in Organisationen, aber auch physiologische Systeme und ihre Funktionen in Organismen sowie neuronale Netze und ihre Prozesse und Synchronisationsmuster.


In dieser generellen Bedeutung, welche die Modellierung, Messung und Analyse, in bestimmten Fällen auch die mathematische Simulation von Systemen umfasst, weicht der hier benutzte Begriff von Diagnose von seiner Verwendung in medizinischen und klinisch-psychologischen Kontexten ab. Dort bezeichnet er in der Regel die Zuordnung von Phänomenen/Daten (z. B. Laborbefunde, Selbstauskünfte, Verhaltensbeobachtungen eines Patienten) zu einer nosologischen Kategorie/Einheit (z. B. der Bezeichnung einer Krankheit), oder die Positionierung in einem mehrdimensionalen Raum, den die Achsen eines Diagnosesystems wie des DSM IV aufspannen (etwa um Komorbiditäten und Belastungs- und Beeinträchtigungsgrade gleichzeitig zu erfassen). Anders als bei dieser Art von Diagnostik kommt es in der systemischen Diagnostik primär auf ein Verständnis von Systemstrukturen und -zusammenhängen an sowie auf die Veranschaulichung von Systemdynamiken. Insofern könnte man statt von Diagnose besser von Modellierung, Assessment und Prozessanalyse sprechen. Letztere ist ein genuines Merkmal jedes systemischen Ansatzes, da Systeme aufgrund ihrer Rekursivität per definitionem dynamische Prozesse in der Zeit erzeugen. Die Rede von Mustern meint praktisch immer dynamische Muster (dynamic patterns) sowie die prozesshafte Entstehung und Veränderung von Mustern (Kelso 1995; Mainzer 1997; Strunk u. Schiepek 2006).


Die inhaltliche und thematische Offenheit systemischer Diagnostik engt den Blick nicht auf Krankheiten und pathologische Zustände ein und erfordert auch keine Fokussierung auf eine bestimmte Systemebene, etwa eine sozialkommunikative, eine psychische (Emotionen, Kognitionen, Verhalten betreffend) oder eine biologische (z. B. neuronale, endokrine oder immunologische Vorgänge betreffend). Vielmehr lassen sich Bezüge und Korrelationen zwischen verschiedenen Systemebenen darstellen (multiperspektivisch und multimethodal) sowie mehrere Prozesse auf verschiedenen Zeitskalen aufeinander abbilden. Dies entspricht der Konstitution der Systemwissenschaften (Theorie und Methodik komplexer dynamischer Systeme Komplexität) als Formalwissenschaften, deren inhaltliche Bezüge erst durch die Anwendung auf bestimmte Phänomenbereiche (z. B. interaktionelle Prozesse in Familien, Psychotherapie, Psyche, Therapie, Dynamik neuronaler Netze) hergestellt werden. Während in neurowissenschaftlichen Anwendungen Methoden wie EEG (Elektroenzephalografie), MEG (Magnetenzephalografie) und fMRT (funktionelle Magnetresonanztomografie) zu Zwecken der Datengenerierung benutzt werden, sind es in der psychosozialen Praxis andere Verfahren. Ähnlich sind sich diese Verfahren darin, dass Prozesse erfasst und analysiert werden müssen, damit Aussagen über die dynamischen Eigenschaften von Systemen gemacht werden können. In der psychosozialen Praxis (Therapie, Beratung, Coaching) werden primär Verfahren des internetbasierten »Ambulatory Assessment« eingesetzt. Das Verhalten und Erleben von Personen wird dabei in ihrer natürlichen Umgebung unmittelbar oder mit minimaler zeitlicher Verzögerung computergestützt erfasst.


Ein speziell für die Erfassung von dynamischen, nichtlinearen Prozessen entwickeltes Verfahren ist das synergetische Navigationssystem (SNS). Es erlaubt die Eingabe von Daten (z. B. Selbsteinschätzungen) zu fast beliebigen Zeitpunkten, wobei auch die Items und Fragebögen für die Datenerfassung sehr flexibel an den Zweck der Erhebung angepasst werden können. Für die Erfassung von Psychotherapieprozessen hat sich ein Therapieprozessbogen (in Varianten für stationäre, teilstationäre und ambulante Therapie) bewährt, der von den Klienten einmal täglich ausgefüllt wird. Auch Paar- und Familientherapien können damit im Verlauf erfasst werden. Zudem steht eine Tagebuchfunktion zur Verfügung, welche die Klienten im Anschluss an das Beantworten der Fragebogen-Items nutzen können. Die daraus resultierenden Zeitreihen werden visualisiert (in Form von Graphen dargestellt) und mitlaufend analysiert. Die implementierten Analyseverfahren umfassen die dynamische Komplexität (Schiepek u. Strunk 2010) mit Komplexitäts-Resonanz-Diagrammen, Recurrence Plots, Korrelationsmusteranalysen und die Permutationsentropie. Die Ergebnisse dieser Analysen werden ebenfalls grafisch aufbereitet und synchron dargestellt. Hinzu kommt eine Ampeldarstellung, die über die momentane Ausprägung der erlebten Stabilität und Sicherheit im therapeutischen Setting (generisches Prinzip 1), die momentane Veränderungsmotivation (generisches Prinzip 4, Kontrollparameter der therapeutischen  Selbstorganisation) und die momentane Ausprägung der Komplexität/(In-)Stabilität des Prozesses Auskunft gibt (generisches Prinzip 5). Outcome-Maße können ebenfalls zu beliebigen Zeitpunkten (z. B. wöchentlich, prä-/post-katamnestisch) erhoben werden. Ausführlich ist die Methodik dargestellt in Schiepek et al. (2011) oder Schiepek (2009).


Eine ebenfalls internetbasierte Variante des SNS liegt zur Erfassung von Beziehungsmustern in Sozialsystemen vor. Hierbei schätzen die Mitglieder einer Gruppe oder eines Teams auf frei wählbaren Dimensionen (z. B. Sympathie, Unterstützung, Stress) den Grad ihrer Bezugnahme auf die jeweils anderen Personen ein (Senden) sowie umgekehrt den Grad der Bezugnahme der jeweils anderen Personen auf sie selbst (Empfangen). Es resultiert eine Interaktionsmatrix, die nach wiederholter Anwendung in einem Prozess (z. B. Paartherapie, Familientherapie, Gruppen- oder Teamentwicklung, Plan- oder Systemspiel) die Veränderung der Beziehungsmuster grafisch und mit quantitativen Kennwerten darstellt. Diese als Matrix visualisierten Beziehungsmuster können bezogen auf die individuellen Veränderungen der einzelnen Teilnehmer (abgebildet im SNS) dargestellt werden.


Die bekannte Methodik der idiografischen Systemmodellierung (Schiepek 1986) erlebt im Zusammenhang mit der internetbasierten Prozesserfassung eine neue und umfassendere Bedeutung. Systemmodellierung bedeutet die qualitative Darstellung von Vernetzungen und Zusammenhängen zwischen den relevanten Elementen eines Systems. Diese Elemente kann man als Konstrukte oder Variablen verstehen (z. B. Leistung, Motivation, Stress, Aktivierung von Ressourcen o. Ä.), die sich gegenseitig bedingen. Die Modelle werden idiografisch, also auf den Einzelfall zugeschnitten, entwickelt, und zwar unter aktiver Mitarbeit des Klienten, wodurch ein umfassendes und vertieftes Verständnis für intraindividuelle und interpersonelle Problemsysteme entsteht. Beispiele finden sich in Schiepek (1991) für Individuen und Paare und in Schiepek et al. (1998) für Organisationen. Die Variablen eines solchen Systems lassen sich nun mit dem Fragebogeneditor des SNS in einen individuellen Fragebogen umsetzen und z. B. mit einer Frequenz von einmal am Tag über mehrere Wochen hinweg erfassen. Die daraus resultierenden Zeitreihen geben Auskunft über die Dynamik des jeweils dargestellten Systems und können auch die im Modell postulierten Wechselwirkungen validieren oder modifizieren.


Auch ein halb strukturiertes Ressourceninterview (Schiepek u. Cremers 2003) zur Erfassung und Beurteilung von personalen und sozialen Ressourcen eines Klienten kann zur Vorarbeit für einen individualisierten Fragebogen im SNS genutzt werden. Das Ressourceninterview dient zunächst der Bewusstmachung und Aktivierung persönlicher Ressourcen, aber auch der Konstruktion von Zielprofilen und Potenzialen mit Blick auf mehr oder weniger ausgeprägt vorhandene oder gewünschte Ressourcen. Mit dem SNS sind darüber hinaus nicht nur statische oder Vorher-nachher-Beurteilungen möglich, sondern auch die Erfassung der kompletten Ressourcendynamik in einem Therapie- oder Beratungsprozess. Klar wird, dass systemische Diagnosen keine Statusabbildungen oder -konstruktionen von Systemzuständen (z. B. familiärer Konstellationen) sind, sondern dynamische Muster reflektieren, die im Verlauf erhoben, analysiert und rückgemeldet werden. Diese real-time feedbacks (Feedback) beziehen den Klienten aktiv und partnerschaftlich mit ein, woraus die Möglichkeit einer gemeinsamen Prozesssteuerung resultiert. Wiewohl systemische Diagnostik schon immer eine diagnostische und gleichzeitig eine therapeutische Funktion hatte, ist nun dieser Doppelaspekt ganz zentral. Die Konstruktion von Systemmodellen und individualisierten Fragebogen, tägliche Selbstreflexionen und Tagebuchaufzeichnungen mit motivierendem und mentalisierendem Impact sowie SNS-gestützte Therapie- oder Beratungsgespräche zur Beurteilung des Verlaufs und des weiteren Vorgehens eröffnen neue Möglichkeiten der Klient-Berater-Kooperation (Schiepek 2009), aber auch eine neue Dimension der systemischen Praxisforschung und der systemischen Professionalität.


Verwendete Literatur


DSM-IV = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. verfügbar unter: http://www.behavenet.com/capsules/disorders/dsm4TRclassification. htm [20.12.2011]


Haken, Hermann u. Günter Schiepek (2006): Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten. Göttingen (Hogrefe), 2. Aufl. 2010.


Kelso, J. A. S. (1995): Dynamic Patterns. The self-organization of brain and behavior. Cambridge, MA (MIT).


Mainzer, Klaus (1997): Thinking in complexity. The complex dynamics of matter, mind, and mankind. Berlin (Springer).


Schiepek, Günter (1986): Systemische Diagnostik in der Klinischen Psychologie. Weinheim (Beltz/PVU).


Schiepek, Günter (1991): Systemtheorie der Klinischen Psychologie. Braunschweig (Vieweg).


Schiepek, Günter (2009): Autonomie und Eigendynamik von Patienten und deren Entwicklungsprozesse. Psychotherapie im Dialog 10: 296–301.


Schiepek, Günter u. Sandra Cremers (2003): Ressourcenorientierung und Ressourcendiagnostik in der Psychotherapie. In: Heike Schemmel u. Johannes Schaller (Hrsg.): Ressourcen. Ein Hand- und Lesebuch zur therapeutischen Arbeit. Tübingen (DGVT), S. 147–193.


Schiepek, Günter u. Guido Strunk (2010): The identification of critical fluctuations and phase transitions in short term and coarse-grained time series – A method for the real-time monitoring of human change processes. Biological Cybernetics 102: 197–207.


Schiepek, Günter, Christoph Wegener, Dunja Wittig u. Gerrit Harnischmacher (1998): Synergie und Qualität in Organisationen. Ein Fensterbilderbuch. Tübingen (DGVT).


Schiepek, Günter, Angelika Zellweger, Helmut Kronberger, Wolfgang Aichhorn u. Wilfried Leeb (2011): Psychotherapie. In: Günter Schiepek (Hrsg.): Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart (Schattauer), S. 567–592.


Strunk, Guido u. Günter Schiepek (2006): Systemische Psychologie. Eine Einführung in die komplexen Grundlagen menschlichen Verhaltens. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag).


Weiterführende Literatur


Schiepek, Günter (1999): Die Grundlagen der Systemischen Therapie. Theorie – Praxis – Forschung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).