Lust am Krieg = Lust an der Seuche?

Die gegenwärtige Corona-Seuche wird gern mit einem Krieg verglichen. So hat gestern Emanuel Macron verkündet Frankreich sei „en guerre“. Aber ist das wirklich eine passende Metapher? Es ist ja eine der Metaphern, um die sich der (von mir zu gründende) "Verein zum Schutz missbrauchter Metaphern" zu Recht schon seit Jahren kümmert („Krieg gegen Drogen“ usw.). Denn als Krieg ist ein Konflikt zu definieren, bei dem die Konfliktparteien gegenseitig ihre Existenz aufs Spiel setzen. Und Kriege enden erst, wenn eine der Parteien ausgelöscht ist oder kapituliert hat.


In der Corona-Seuche mag das für die eine Partei gelten: Viele Menschen (wenn auch nicht die Menschheit), vielleicht auch ganze Gruppen der Gesellschaft sehen ihr Überleben gefährdet; aber für die andere Partei gilt das nicht: Das Virus ist nicht wirklich in seiner Existenz bedroht, zumindest ist nicht zu erwarten, dass es kapituliert.


Es gibt aber durchaus interessante Parallelen zwischen Krieg und Seuche, was die unmittelbaren (kurzfristigen) psychologischen und sozialen Folgen betrifft. Dazu nachfolgender Ausschnitt aus „Tödliche Konflikte“ (Carl-Auer Verlag, 2001, S. 258ff.):


 


 


„Aus einer etwas distanzierteren und nüchterneren Perspektive kann man feststellen, dass das Riskieren des eigenen Lebens alle anderen den Alltag bestimmenden Werte und Konflikte relativiert. So verlieren auch die gewohnten Machtstrukturen und all die Begrenzungen, die das „ Realitätsprinzip“  ausmachen, an Bedeutung. Wer sich in seinem Alltagsleben äußeren Mächten unterwirft, weil er anderenfalls negative Konsequenzen befürchtet, gewinnt im Krieg eine neue Unabhängigkeit. Was sollte er vermeiden wollen, wo er bereits das Schlimmste, seine Vernichtung, riskiert? Die so gewonnene Freiheit dürfte für die meisten Menschen einen unvergleichlichen Zustand darstellen, wie er ansonsten nur zu erreichen ist, wenn man das gegenwärtige Leben nur als Schein betrachtet. Wie bei anderen Glücksspielen, scheint der ansonsten selbstverständlich akzeptierte „ rationale“  Umgang mit materiellen Gütern, die Kalkulation von Chancen und Risiken, von Kosten und Nutzen, das Denken an die Zukunft für eine Zeit intensiven Erlebens –  hier und jetzt –  außer Kraft gesetzt und ohne Bedeutung.14


Ein Umstand, den auch Nietzsche in seiner Einschätzung des Krieges als Energielieferant für „ mattwerdende Völker“  (an welchem fragwürdigen Merkmal der Unterscheidung man die Energie auch immer erkennen mag) hervorhebt: „ Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jene tiefe unpersönliche rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Haß, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisierende Glut in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen große Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgeteilt werden könnte, wie dies jeder große Krieg tut.“15


Was kann den Krieg und die damit verbundenen psychischen Wirkungen, seine Lust, das Vergessen des Alltags, die erdbebenhafte Erschütterung ersetzen? Nietzsche sieht Abenteuer- und Erlebnisurlaube als Surrogate dafür, Veranstaltungen, die sich auch heute großer Beliebtheit erfreuen: „Die jetzigen Engländer, welche im ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anders Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heißt, unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen.“16


Dieser Energie liefernde Effekt scheint sich bei realen Kriegen relativ schnell zu verschleißen. Je länger Kriege dauern und je länger sie tatsächlich erlitten werden, umso weniger wird von derartigen ekstatischen, entgrenzenden Erfahrungen berichtet. Trotzdem kann man wohl mit van Creveld feststellen, dass der Zweck des Krieges für die beteiligten Kämpfer das Kämpfen ist. Betrachtet man das Individuum als Überlebenseinheit, so ist es sinnlos, für die Interessen anderer zu sterben. „Da es fast ebenso sinnlos ist, für die eigenen Interessen zu sterben, liegt der Gedanke nahe, daß Menschen nur in dem Maße kämpfen, als sie den Krieg selbst und alles in seinem Umkreis als Zweck erfahren. Sofern Krieg vor allem andern aus dem Kämpfen besteht –  mit anderen Worten, einem freiwilligen Umgang mit Gefahr – , ist er nicht die Fortsetzung der Politik, sondern des Sports.“17


 


 


(Nachtrag: Wahrscheinlich ist ja die Lust am Kampf beim Kampf gegen Corona bei weitem nicht so lustvoll-sportlich; aber der Rest scheint mir doch im Erleben und den politischen Konsequenzen ziemlich ähnlich, vor allem, dass der Nationalstaat wieder de facto als Überlebenseinheit definiert wird, neue Solidaritäten entdeckt werden, die Umwertung vieler alltäglicher (z.B. ökonomischer) Werte, die Tatsache, dass soziale Unterschiede (zumindest theoretisch) aufgehoben sind, weil vor dem Virus alle gleich sind, usw. - wie immer man das alles selbst bewerten mag...).