Neue Normalität?

Im Moment sehnen sich viele Leute nach ihrer "alten Normalität", weil ihnen eine "neue Normalität" versprochen bzw. angedroht wird, von der noch niemand genau sagen kann, wie sie aussehen wird.


Grund genug, sich ein paar Gedanken über Normalität zu machen. Was ist denn eigentlich damit gemeint, wenn wir von "normalen Verhältnissen" sprechen? Meine Antwort: Es geschieht das, was wir als "selbstverständlich" erwarten. Selbstverständlich heißt: Wir stellen es nicht in Frage (ob wir es nun verstehen oder nicht); wir rechnen, dass es auf eine bestimmte Art und Weise geschieht, und wir wissen, was wir zu tun haben. Das betrifft in unserem Alltag vor allem die vielen Routinen, die uns von Entscheidungen entlasten, weil wir uns irgendwann einmal für diese Routinen entschieden oder einfach an sie gewöhnt haben. Dass wir morgens die Zähne putzen, ist normal, wir müssen nicht jeden Morgen eine Pro-und-Contra-Liste anlegen, um uns zu entscheiden, den kariösen Ruinen in der eigenen Mundhöhle Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken. Analoges gilt für den Gang zur Arbeit, zur Schule, das regelmäßige Kaufen und Schmücken einens Weihnachtsbaums, den mehr oder wenige regelmäßigen Geschlechtsverkehr (die Rhythmen mögen unterschiedlich sein). Wir alle haben unseren Alltag in einer Weise organisiert, dass wir irgendwie über die Runden kommen. Diese Muster der Ordnung und Koordination von Verhalten können sehr komplex sein (Arbeiten gehen, Kinder betreuen, Haushalt, Auto und Paarbeziehung putzen, Kochen usw.).


All das ist für uns normal. Normalität liefert Erwartungs- und damit Planungssicherheit. Wir tun einfach so, als seien die Welt, das Leben, die anderen Menschen berechenbar. Und wir selbst verhalten uns ebenfalls so, wie wir erwarten, dass die anderen Leute es erwarten, um ihnen nicht diese Folie à millions der Normalität zu nehmen, obwohl wir ganz genau wisssen, dass wir selbst jederzeit alle Welt überraschen könnten, wenn wir (z.B.) nackt einkaufen gehen würden... (weil wir dann wahrscheinlich nicht für "normal" gehalten würden).


Die kollektive Aufrechterhaltung der Normalität als Erwartungssicherheit ist einerseits ökonomisch nützlich, andererseits ziemlich langweilig. Deswegen buchen wir Abenteuerurlaube, bezahlen dafür, uns an einem Gummiseil von einer Brücke stürzen zu dürfen, und lassen uns angetrunken mit Unbekannten für einen One-Night-Stand ein.


Doch was wir für normal halten, ändert sich beständig. Es ist noch gar nicht so lange her (ich erinnere mich noch gut), da war es normal, ohne alle vorherige Kontrolle in ein Flugzeug steigen zu können (und man hätte ohne Beanstandung eine Maschinenpistole mit an Bord nehmen können). Jetzt ist es (besser: war es bis vor wenigen Wochen) normal, dass man schon früh am Flughafen sein musste, um sich in eine Schlange zu stellen, damit man durchleuchtet und gegebenenfalls begrabbelt zu werden, bevor man ins Flugzeug steigen darf. Niemand beschwert sich...


Was im Moment im Rahmen der Corona-Krise geschieht, unterscheidet sich von anderen Normalitätsveränderungen zum einen dadurch, dass es fast alle Menschen (und das, wie es scheitnt, weltweit - außer in Schweden und Nordkorea) betrifft, und zum zweiten, dass die Veränderung extrem rasant geschehen ist; und, um noch ein Drittes zu nennen, dass unseren privaten Beziehungen und ihre Gestaltung in einer bisher ungeahnten Weise durch staatliche Anordungen bestimmt und behindert werden, d.h. wie wir sie leben wollen, ist unserer Entscheidung entzogen worden. 


Dass im Moment der Wunsch immer lauter geäußert wird, endlich wieder zurück zur "alten Normalität" zu gehen, hat damit zu tun, dass wir aufgrund der Einzigartigkeit der Situation keine angemessenen Vergleichserfahrungen haben. Wir reagieren wie die Besucher einer Theatervorstellung, die während der ersten drei Akte ordentlich und brav die Ruhe bewahrt haben, obwohl sie eigentlich nach dem zweiten Akt schon auf eine Pause gehofft hatten, aber nun, nach dem fünften Akt, total genervt das Theater verlassen wollen, aber merken, dass nicht nur noch viele Akte bevorstehen und ein Ende nicht abzusehen ist, sondern auch keine Möglichkeit besteht, abzuhauen, obwohl die Vorstellung extrem langweilig ist.


Aber auch daran werden wir uns gewöhnen; und es wird uns in ein paar Wochen vollkommen normal vorkommen, dass wir Läden nur noch maskiert betreten dürfen und wir werden Menschen, die ohne Mundschutz im Supermarkt anzutreffen sind, als Mörder beschimpfen (oder zumindest wegen ihrer Mund-Nasen-Nacktheit für nicht normal halten).