Rotation, Fluktuation - Irritation?

Das Anhalten der Welt – oder: Was kommt danach?


von Heiko Kleve


 


Wir leben in einer „Wendezeit“ (Fritjof Capra), in einer Zeit, die zugleich Krise und Neuanfang ist. Derzeit steht die Welt noch still. Der Lockdown löst sich nur sehr langsam. Der Weg in die „neue Normalität“ wird bisher schleichend beschritten. Das ist eine gute Zeit, um fundamentale Fragen zu stellen, Fragen, die die Zeit nach dem „Anhalten der Welt“ (Carlos Castaneda) in den Blick bringen.


Bei Carl-Auer stellen wir solche Fragen in fundamentaler, grundsätzlicher und paradigmatischer Weise. Dafür sind wir bekannt und beliebt. Wir schauen systemisch auf die Systeme unserer global vernetzten Gesellschaft. Denn mit uns wollen viele wissen und schon jetzt darüber spekulieren, wie sich die beiden Systeme in Zukunft miteinander ins Verhältnis setzen, die unser privates und berufliches Leben in nahezu allen Bereichen bestimmen, und zwar die Wirtschaft und die Politik.


Wir wissen, dass das Medium der Wirtschaft, Geld, nicht alles ist – dass aber alles nichts ist, wenn wir kein Geld haben, um unsere Lebensexistenz zu sichern. Aufgrund des Lockdowns, der zahlreiche Wirtschaftsbereiche still stellt, der für viele Menschen extrem existenzgefährdend ist, ihre ökonomischen Einkommensquellen versiegen lässt, springt die Politik mit milliardenschweren Hilfsprogrammen ein. Der politische Staat, der mit seiner Macht, kollektiv bindende Entscheidungen treffen kann, und aus gesundheitlichen Gründen den Lockdown verordnet hat, ist zugleich der Retter aus der Not.


Wir fragen, ob diese „neue Normalität“ ein grundsätzlich anderes Verhältnis von Wirtschaft und staatlicher Politik entstehen lässt. Gehen wir also auf eine neue Form von Sozialismus zu, in der der Staat die gesamte Gesellschaft finanziert, plant und mit seinen verbindlichen Vorgaben strukturiert? Oder werden wir eine neue Form des Radikalliberalismus erleben, in dem der bald bettelarme Staat, dessen Kassen wieder leer und gebeutelt sind, sich aus den gesellschaftlichen Sphären zurückzieht, und zwar drastischer und nachhaltiger als je zuvor?


Um diese Themen zu diskutieren, kommen zunächst zwei Protagonisten zu Wort, die ihre gegensätzlichen Positionen aufeinanderprallen lassen: Prof. Dr. Fritz B. Simon, Systemwissenschaftler mit allumfassenden Interessen sowie Prof. Dr. Dr. Steffen Roth, Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, der in gleicher Weise allseits interessiert und international bekannt ist, z.B. für seine systemtheoretische Expertise. Während Fritz Simon im „Anhalten der Welt“ die Chance sieht, das „Ende des Marktfundamentalismus“ einzuläuten, offenbart sich für Steffen Roth die Situation anders; für ihn war der Staat bereits in den letzten Jahrzehnten das dominante Gesellschaftssystem.


Meine Rolle wird sein, diesen Disput zu moderieren, die Positionen zuzuspitzen, um damit die Diskussion zu fokussieren. Als Sozialwissenschaftler mit der Intention, Systemtheorie und Liberalismus zu vereinen, freue ich mich, dass der Verlag meine Idee aufgegriffen hat, die benannten Fragen mit renommierten Akteuren kontrovers zu diskutieren.


 


 


Eine andere Rotation


von Fritz B. Simon


 


Die Welt steht nicht still, aber im Moment scheint sie die Drehrichtung zu ändern – nicht zurück, sondern irgendwie anders (Ende der Metapher). Dass es nicht gut ist, wenn Tausende von Menschen sterben, die Freiheitsrechte des Einzelnen beschränkt werden und die Wirtschaft in ein künstliches Koma versetzt wird, kann kaum bezweifelt werden. Doch wie meist gibt es Gutes im Schlechten.


Wir sind ja Zeuge und Betroffene eines radikalen Prozesses. Der Staat zeigt seine Muskeln, indem er Grenzen setzt: für die Freiheit des Einzelnen, der Unternehmen, des öffentlichen Lebens, der Religionsausübung usw. Mit anderen Worten: Es wird regiert.


Die Sorge, dass staatliche Vorgaben und Kontrollen, die einmal eingeführt sind, nicht mehr zurückgedreht werden, ist berechtigt – wenn auch in den etablierten Demokratien weniger als in autoritären Ländern des ehemaligen Ostblocks.


Wir leben in der (westlichen) Welt in einer funktionell differenzierten Gesellschaft. Die Radikalität der Änderung der Drehrichtung dieser Welt besteht m.E. darin, dass die Beziehung der Funktionssysteme gerade verändert wurde. Seit der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher beförderten „Revolution“ war de facto das Wirtschaftssystem allen anderen Funktionssystemen, d.h. auch dem politischen System, übergeordnet. Dabei wurde „Wirtschaft“ synonym zu „Markt“ verstanden. Die zunehmende Deregulierung der Märkte führte in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens zur Verabschiedung des Staates aus der Verantwortung für überlebensnotwendige Infrastrukturen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass in der gegenwärtigen Krise gerade in den Ländern, in denen das Gesundheitssystem am radikalsten privatisiert oder „kaputtgespart“ wurde, die meisten Corona-Todesfälle zu beklagen sind.


Die Chance, die in der gegenwärtigen Krise liegt, besteht m.E. darin, dass die Politik (d.h. heißt nicht unbedingt: der Staat) wieder in die Verantwortung geht, wenn es um die Frage geht, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Denn der ungeregelte Markt und seine Mechanismen gibt auch eine Antwort auf diese Frage: die zwangsläufige Spaltung der Gesellschaft.


 


 


 


Fluktuation


von Steffen Roth


 


Stillstand sieht anders aus. Im Lockdown treibt es uns aus den Löchern. Indem wir die einen Masken aufsetzen, lassen wir die anderen fallen. Grünen macht das Virus jetzt blauen Himmel und Lust auf mehr. Postwachstumsflagellanten erfreut, dass man im Käfig nicht mehr der Gejagte ist. Liberale lesen wieder Foucault. Und bis hin zum UN Generalsekretär lässt man keinen Zweifel daran, dass sich «die Wirtschaft» im Gegenzug für staatliche Krisenhilfe politischen Zielen unterordnen muss. Erst reinschubsen, dann erpressen. Politik beansprucht einmal mehr den Vorrang vor allen anderen Funktionssystemen.


Das kann feiern wer will, einen grundlegenden Richtungswechsel kann ich darin nicht erkennen. Zum einen ist diese Hybris allen Funktionssystemen gemein. Zum anderen betreiben wir seit einiger Zeit Big-Data-Forschung zum Bedeutungswandel der Funktionssysteme zwischen 1800 und 2000. So können wir den Rückgang der Religion, einen Zuwachs der Wissenschaft und den sanften Aufstieg des Informationszeitalters nachvollziehen. Was unsere Daten nicht hergeben: eine dominante Stellung des Wirtschaftssystems. Vielmehr zeigt sich das letzte Jahrhundert als politisches Jahrhundert, und das quer durch alle untersuchten Sprachräume. «Mehr Politik» wäre demnach kein «new normal». Mehr Politik wäre einfach nur mehr vom Selben.


Ob mit oder ohne Krise wäre eine andere Gesellschaft somit eine, die neben Politik und dem Indexpatient Wirtschaft andere Funktionssysteme nicht nur kennt, sondern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt.


Das Spiel «Andere Gesellschaft» geht demnach nicht ohne Politikblindheit. Nur so wird der Biedermeier zum Brandstifter.


Bis die notwendige Unbeobachtung der Politik gelingt, ist man mit einem multifunktionalen Liberalismus gut beraten. Anders als der aktuell geschmähte Neoliberalismus, würde sich diese Spielart des Liberalismus nicht nur auf Wirtschaft, Recht und Politik konzentrieren, sondern sich dem wechselseitigen Interventionsschutz aller Funktionssysteme verschreiben, und somit die reflexive Bescheidenheit, die sowohl dem Liberalismus als auch der Systemtheorie zu eigen ist, konsequent auf die Beobachtung aller Funktionssysteme ausweiten.


 


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Der Prozeß der Individuation (1984), Die Sprache der Familientherapie (1984), Lebende Systeme (1988), Unterschiede, die Unterschiede machen (1988), Meine Psychose, mein Fahrrad und ich (1990), Radikale Marktwirtschaft (1992), Die andere Seite der Gesundheit (1995), Die Kunst, nicht zu lernen (1997), Zirkuläres Fragen (1999), Tödliche Konflikte (2001), Die Familie des Familienunternehmens (2002), Gemeinsam sind wir blöd!? (2004), Mehr-Generationen-Familienunternehmen (2005), Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus (2006), Einführung in die systemische Organisationstheorie (2007), Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs (2009), Einführung in die Systemtheorie des Konflikts (2010), „Zhong De Ban“ oder: Wie die Psychotherapie nach China kam (2011), Einführung in die Theorie des Familienunternehmens (2012), Wenn rechts links ist und links rechts (2013), Einführung in die (System-)Theorie der Beratung (2014), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018), Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019), Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur. Wohin schauen systemische Berater? (2019, zus. mit Jürgen Kriz).