Alltag

engl. everyday life, franz. vie f quotidienne; bezeichnet gewöhnliche, vertraute Verrichtungen oder routinisierte Handlungsabläufe bzw. als solche beobachtete Ereignisfolgen (Muster) innerhalb einer als stetig wiederkehrend angenommenen, zyklischen Zeitstruktur (lat. cyclus = »Kreis«, z. B. eines Tages oder einer Woche), durch die eine Person/Gruppe ihre biologisch-psychische (Psyche) und soziale Selbstreproduktion (Autopoiesis) zu organisieren versucht (Selbstorganisation). Alltag wird von einem jeweils gesellschaftlich z. T. sehr unterschiedlichen Zeitverständnis konfundiert, dabei gilt: Alle Zeit ist sozial konstruierte Zeit (Adam 1990, S. 42). Alltag verweist zeittheoretisch auf das zyklische Handhaben von Zeit im Gegensatz zu einer linearen Zeiteinteilung, wie sie etwa bei der Abgabe einer Hausarbeit zu einem festgelegtem Termin zum Ausdruck kommt:


»Ein Großteil der alltäglichen Handlungsmuster zeichnet sich geradezu durch eine explizit zyklische Struktur aus: durch die Wiederholung des Immergleichen« (Nassehi 1993, S. 316).


In den Sozialwissenschaften ist Alltag ein einschlägig diskutierter Begriff (vgl. Heller 1970; Alheit 1983; Grathoff 1995; Schütz u. Luckmann 1975). Im »lebensweltorientierten« Ansatz der Sozialen Arbeit (Thiersch 1992) findet sich ein normativ-kritisches Konzept von Alltag. Der Alltagsbegriff fand bisher keine Resonanz in systemtheoretischen (System) Beschreibungen.


Die Funktion des Alltags aus systemtheoretischer Sicht ist als Systementlastung/»Selbstsimplifizierung sozialer Prozesse« (Nassehi 1993, S.176) bestimmbar. Das »Eindampfen« einer schier unübersehbaren Zahl von – sowohl simultan als auch nacheinander eintreffenden – Umweltereignissen auf ein systemverträgliches Informierungsniveau ist an (eigensinnige) Beobachtungsraster gebunden, an denen bei sozialer Bewährung kognitiv und emotional weiter festgehalten wird. Sind solche Vorlagen/Muster (z. B.  Kommunikations-, Handlungs-, Interpretations-, Erwartungs-, Glaubensmuster etc.) erst einmal eingeschliffen, wird an ihnen so lange festgehalten, als sie sich als funktional erweisen, weil oder wenn sie das jeweilige Sinnsystem entlasten (»Das haben wir schon immer so gemacht«), (Selbst-)Erwartungen stabilisieren (»Ich brauche das für mich«) und Sicherheiten (»So etwas macht mein Freund einfach nicht«) schaffen. Erst durch sich bewährende, als »hinreichend gelungen« beobachtete Routinen gewinnen einerseits Sinnsysteme die Kapazität, um sich für Singularitäten, für Neues, für Nichtalltägliches/Unvertrautes frei und offen zu machen, sich interessieren zu können. Andererseits werden Sinnsysteme stetig oder episodenhaft mit den Beobachtungsschablonen und Handlungsroutinen von anderen Sinnsystemen in ihrer Umwelt konfrontiert, etwa Individuen (Individuum), die sich in einem oft als alternativlos erlebten Eingebundensein in Sozialsysteme, z. B. in der Familie und/oder der Erwerbsarbeit, befinden. Diese Ereignisse müssen diachron ausbalanciert werden, damit ungewünschte Inklusion (Inklusion; Exklusion) vermieden wird. Erschwerend kommt hierbei hinzu, dass immer mehr Ereignissukzes- sionen in der unter dem Primat der funktionalen Differenzierung stehenden Gesellschaft als kontingent (Kontingenz) erlebt und somit – z. B. individuelle Lebensmuster, elterliche/familiale Lebensentwürfe – kritikwürdig werden. Für ein systemisches Arbeiten gibt Alltag einen wichtigen Orientierungswert ab, der nicht lediglich auf einer metatheoretischen Ebene zu verorten ist. Orientierung am Alltag bedeutet, die chronischen, raum-zeitlich (Raum; Zeit) konkreten Kommunikations- und Handlungsmuster, die ambivalenten (Ambivalenz) Inklusions- und Exklusionsmuster der Klientinnen/Adressaten/Kolleginnen/Teams (Teamarbeit) in ihrer wechselseitigen zirkulären Abstützung zum Ausgangs- und Zielpunkt professionellen Handelns zu machen. Dabei interessieren nicht die einzelnen kommunikativen Handlungen an sich. Von praktischer Relevanz sind vielmehr die – sinnhaft jeweils scheiternde oder gelingende – Aneinanderreihung und Anschlussfähigkeit dieser Handlungen und der diesen Handlungen zugrunde gelegten zirkulären Zuschreibungsmuster. Diese werden nicht zufällig vorgenommen, sondern folgen bestimmten, als problematisch (Problem) erlebten Mustern (Inklusionsmustern, Protest- und Konfliktmustern etc.) und korrelierenden Logiken. Diese im Grunde variablen Kombinationen, oft aber als geronnen erlebte und daher über Realitätsstatus verfügende konkrete Inklusionsmuster, machen die Struktur der alltäglichen Lebensführung und der Lebenswelt einer Person oder Gruppe aus. Das Ziel systemischen Arbeitens sind insofern die Offenlegung, Würdigung, Problematisierung und Veränderung dieser – im Wortsinn: chronisch wirkenden – Sinnmuster, soweit dies jedenfalls in Verbindung zum verabredeten Auftrag der Hilfe/ Beratung/Therapie steht.


Aufgrund der Universalität von Alltag bzw. der ihm zugrunde liegenden Zeitverwendungsmuster dürfte sich für die professionelle Arbeit am Alltag der gesamte systemische Methodenkoffer als brauchbar erweisen. Besonders empfehlen sich jedoch Methoden, die systematisch die Herkunft von Bedeutungsmustern (z. B. in Familie, Peergroup etc.) und ihre Ambivalenz zu decodieren versuchen. Herauszuheben wäre dabei die Methode der Dekonstruktion (siehe Kleve u. Wirth 2009, S. 230), die von Jacques Derridas »Dekonstruktion« inspiriert ist, sich aber an (für sich) real existierenden Systemen orientiert. Während im Alltag das »Beobachten erster Ordnung« exerziert wird, kann mithilfe dekonstruierenden Vorgehens das Beobachten des Beobachters, das »Beobachten zweiter Ordnung« (vgl. Luhmann 1995), die Perspektiven des Systems erweitern. Dadurch werden die Voraussetzungen für den Gebrauch von bestimmten, mittlerweile verdinglichten Unterscheidungen und ihren Ambivalenzen erhellt, verflüssigt und rearrangiert. Die Methode der Umdeutung, die sehr behutsam dosiert in jedem Gespräch angewendet werden kann, bahnt den Adressatinnen/Klienten den Weg dafür, ein Ereignis in einem Muster oder das Muster selbst auf ungewohnte, vielleicht zunächst nur einmalige Weise zu sehen oder beides in einen Kontext zu stellen, der das Ereignis oder das Muster auf ungewohnte Weise rahmt (z. B. vom Opfer suchtabhängigen Verhaltens zum Täter zu werden: »In welchen Situationen genau entschließt du dich, Alkohol zu konsumieren?«; zu Umdeutung siehe auch Kleve 2003). Das zirkuläre Fragen, das gelegentlich als »die« familientherapeutische Innovation der letzten 30 Jahre bezeichnet wird, ist ebenfalls ein gut geeignetes Dynamisierungsmittel. Sein spezieller Wert besteht darin, die wechselseitige Aufeinanderverwiesenheit von Handlungsmustern von Person A und Person B aufdecken zu können, deren Zirkularität aus einer rein egologischen Perspektive nicht erkannt wird. Genannt werden soll schließlich noch das Genogramm, das sich als bewährte Methode für Diagnose als auch für Intervention in Beratung und Therapie weit verbreitet hat und die mehrgenerationale Perspektive nutzen kann, um im Familiensystem vorgelebte Handlungs- und Erlebensmuster, z. B. von räumlicher oder mentaler Verselbstständigung (Individuation), von Erziehung, Liebe, Umgang mit Krankheiten etc. pp., gemeinsam zu entdecken oder ggf. zu erfinden. Dass das systemische Arbeiten am Alltag idealerweise im selbigen zu situieren ist, darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden, wäre indes zu berücksichtigen.


Verwendete Literatur


Adam, Barbara (1990): Time and social theory. Oxford (Temple University Press).


Alheit, Peter (1983): Alltagsleben. Zur Bedeutung eines gesellschaftlichen »Restphänomens«. Frankfurt a. M. (Campus).


Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.) (1973): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt).


Grathoff, Richard (1995): Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Heller, Agnes (1970): Das Alltagsleben. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Kleve, Heiko (2003): Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne. Grundlegungen und Anwendungen eines Theorie- und Methodenprogramms. Freiburg i. Br. (Lambertus).


Kleve, Heiko u. Jan V. Wirth (2009): Die Praxis der Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung. Baltmannsweiler (Schneider Verlag Hohengehren), 2. Aufl. 2013.


Luhmann, Niklas (1995): Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Henk de Berg u. Matthias Prangel (Hrsg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen (Francke), S. 9–36.


Nassehi, Armin (1993): Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden (Springer VS).


Schütz, Alfred u. Thomas Luckmann (1975): Strukturen der Lebenswelt. Bd. I. Neuwied (Luchterhand).


Schütz, Alfred u. Thomas Luckmann (1984): Strukturen der Lebenswelt. Bd. II. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Thiersch, Hans (1992): Lebensweltorientierte soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim (Beltz Juventa).


Wirth, Jan V. (2014): Die Lebensführung der Gesellschaft. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Heidelberg (Springer).


Weiterführende Literatur


Boszormeny-Nagy, Iván u. Geraldine Spark (2001): Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme. Stuttgart (Klett-Cotta).


Stierlin, Helm, Ingeborg Rücker-Embden, Norbert Wetzel u. Michael Wirsching (2001): Das erste Familiengespräch. Stuttgart (Klett-Cotta).


Wirth, Jan V. u. Heiko Kleve (2019): Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer für systemisches Arbeiten. Heidelberg (Carl-Auer).