Empathischer Liberalismus

Eine psycho-soziale Perspektive für ein Freiheitskonzept der Zukunft


Die Bezeichnung „empathischer Liberalismus“ ist eine Kreation von Prof. Dr. Susanne Gervers, die dieses Label für einen Preis vorschlägt, der für besonderes liberales Engagement ausgelobt werden sollte, den Rahel-Varnhagen-Preis. Für Susanne Gervers symbolisiert das freiheitliche Bestreben von Rahel Varnhagen (1771 – 1833), die sich sowohl für die jüdische als auch die Emanzipation der Frauen einsetzte, eine solche empathische Auslegung des Liberalismus. 


Hier nun möchte ich einige weitergehende Perspektiven zur Frage eröffnen, was wir unter dem Konzept eines empathischen Liberalismus verstehen könnten und wie dieses zum Verständnis von individueller und sozialer Freiheit beiträgt.


„Empathisch“ meint die Fähigkeit, sich einzufühlen, die Emotionen von Menschen wahrzunehmen und sich in der sozialen Interaktion darauf einzustellen. Wir könnten dies als eine psycho-soziale Aktivität bezeichnen: sich in sozialen Beziehungen auf die psychisch erlebten Gefühle der jeweils anderen einzulassen und diese zum Thema der Kommunikation zu machen – zumindest dann, wenn wir mit den bisher eingespielten Arten des sozialen Umgangs an Grenzen geraten, mithin anstehende Probleme nicht mehr lösen können, diese möglicherweise gar verschlimmern. Eine solche Praxis könnte im Kontext des Liberalismus idealerweise das Ziel verfolgen, die individuellen Freiheitsgrade des Denkens, Fühlens und Handelns zu erweitern, um einen größeren Raum an Alternativität zu erzeugen, neue, möglicherweise ungeahnten Optionen zu eröffnen, zwischen denen wir entscheiden können, oder die in je besonderer Weise kombiniert werden.


In der professionellen Gesprächsführung der so genannten Personenorientierung dient das Empathie-Konzept dazu, dass im sozialen Kontakt die wahrgenommenen Gefühle des jeweils anderen sprachlich gespiegelt werden, dass eine Form des so genannten aktiven Zuhörens praktiziert wird. Diese Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte ist nicht Selbstzweck, sondern folgt der Erfahrung, dass speziell in herausfordernden Situationen bisher bewährte Denk-, Fühl- und Handlungsweisen nicht zu den gewünschten Zielen führen, sondern verändert bzw. angereichert werden sollten. Hinsichtlich solcher Herausforderungen geht es demnach darum, die kognitive, emotionale und aktionale Komplexität zu erweitern, so dass Neues gedacht, gefühlt und getan werden kann. Hilfreich dafür ist, dass wir uns öffnen für emotionale Bewegungen, die Gefühle einschließen, die wir möglicherweise bisher tendenziell ausgeblendet, abgespalten, verdrängt haben. Das Einbeziehen des bisher tendenziell Ausgeblendeten erweitert den Möglichkeitsraum, es regt das an, was in der humanistischen Psychologie „Selbstaktualisierung“ genannt wird, also eine Neuausrichtung, Anreicherung und Weitentwicklung unserer psychischen und sozialen Prozesse.


Eine empathische Perspektive des Liberalismus könnte an die psychologischen Emanzipationsbewegungen anschließen, die mit dem Aufkommen der Psychoanalyse zum Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestoßen wurden. Demnach geht es darum, dass wir zunächst – bevor wir hinsichtlich unseres nach Außen gerichteten Handelns freier, also reicher an Möglichkeiten werden – innere, mithin psychische Integrationsprozesse zu vollziehen haben. Nach Sigmund Freud werden solche Integrationen möglich, wenn aus dem Bewusstsein verdrängte, emotional schmerzliche Ereignisse erinnert, wiederholt und durchgearbeitet werden, um sie schließlich ins Bewusstsein zu integrieren. Dieser Prozess führt dazu, die psycho-soziale Pfadabhängigkeit, also die Wiederholung von leidvollen Verhaltensweisen mit dazu gehörigen Gedanken und Gefühlen, psychoanalytisch als „Neurosen“ bezeichnet, zugunsten eines neuen Möglichkeitsreichtums aufzulösen. So haben wir wieder die Wahl, um uns aus dem Zwangskorsett der anhaltenden Wiederkehr des immer gleichen Erlebens und Handelns zu befreien.


In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Weiterdenker der Psychoanalyse wie beispielsweise Wilhelm Reich oder Erich Fromm sowie Begründer neuer psychologischer Perspektiven wie etwa Fritz Perls (Gestalttherapie), Carl Rogers (Gesprächstherapie) oder Virginia Satir (Familientherapie) in ihrer jeweiligen Weise genau dafür die Augen geöffnet: Intendierte Freiheitszuwächse setzen Selbstarbeit am eigenen Denken, Fühlen und Handeln voraus, die am besten im empathischen Kontakt mit anderen Menschen gelingt. Nur wer in seinen psychischen Selbstbewegungen und im sozialen Kontakt mit vertrauten Menschen das ins Bewusstsein sowie in die Kommunikation holt, was als angstvolle Schatten bisher ausgeblendet, verdrängt oder abgespalten war, erlebt einen Zuwachs an Freiheit.


So kann der hier skizzierte empathische Liberalismus als eine Ergänzung des nach außen, mithin auf die Sozialverhältnisse gerichteten Liberalismus verstanden werden. Es scheint an der Zeit zu sein, dass wir die großen psychologischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts in ein integratives Konzept für mehr psycho-soziale Freiheit einbeziehen, um einen Weg für einen neuen Humanismus für das 21. Jahrhundert zu bahnen.