Gewissheit im Zweifel - Zweifel an der Gewissheit

Am vergangenen Wochenende fand in Heidelberg das systemische Symposium „Die Kraft des Zweifels“ statt, das Fritz B. Simon in seinem Blog bereits thematisiert mit der These, dass der Titel der Veranstaltung anachronistisch an vergangene Zeiten, an die 1970er und 80er Jahre erinnere, in denen tatsächlich der Zweifel beschworen werden musste. Aber heute hätten wir keinen Mangel an Zweifel. Überall werde alles angezweifelt (vgl. https://www.carl-auer.de/blogs/kehrwoche/die-kraft-des-zweifels). Dieser These möchte ich eine weitere an die Seite stellen, nämlich dass wir hinsichtlich des politischen Systems und der politischen Öffentlichkeit eine soziale Ambivalenz-Spaltung bezüglich der gegensätzlichen Pole „Zweifel“ und „Gewissheit“ beobachten können. Was ist damit gemeint?


In einer Gesellschaft, in der sich soziale Kontexte und die Perspektiven, diese zu beobachten, zu beschreiben, zu erklären und zu bewerten, in einer unermesslichen Weise vervielfältigen, lässt sich freilich alles in Frage stellen, immer auch aus anderen Perspektiven beobachten und damit alles in Zweifel ziehen. Diese Vielfalt von Perspektiven, diese Zweifelskraft ist jederzeit medial verfügbar, ist über die elektronisch-digitale Vernetzung, über die smarten Techniken des Internets permanent abrufbar.


Die Möglichkeit, an allem zu zweifeln und dafür auch plausible Beschreibungen und Erklärungen zu finden, insbesondere in den unendlichen Weiten des Internets, führt zur Vervielfältigung des Zweifels, aber auch zur Stabilisierung der Gewissheit, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird der Zweifel zumeist als Fremdzweifel, als Zweifel an den Positionen der Anderen in Stellung gebracht, selten als Selbstzweifel. Ausgehend von der eigenen Gewissheit wird an den Anderen gezweifelt. Zum anderen löst dieser Fremdzweifel bei den Anderen, die in Zweifel gezogen werden, Selbstrechtfertigungen aus, die die Gewissheit der in Zweifel Gezogenen verstärkt und stabilisiert. Zweifel und Gewissheit erscheinen also zwei Seiten einer Medaille: Wer Zweifel an den Positionen der Anderen sät, verstärkt bei diesen die Suche nach Argumenten zur Kommunikation der eigenen Gewissheit – was wiederum die Zweifler in ihrer Zweifelskraft stabilisiert und neues Zweifelsfutter gibt.


Derzeit erleben wir gesellschaftlich diese kommunikative Spirale der wechselseitigen Steigerung von Zweifel und Gewissheit im politischen Diskurs. Während die etablierte Politik eine „Alternativlosigkeit“ in der eigenen Gewissheit zelebriert, zweifelt eine politische Öffentlichkeit genau daran. Findige politische Kräfte eher rückwärtsgewandter Positionen nutzen gekonnt die zur Schau gestellte Alternativlosigkeit, um ihre Alternative zu kommunizieren. Dass diese Alternative letztlich wiederum auf eine Einschränkung von Alternativen hinausläuft, weil sie die Komplexität der Welt mit zu einfachen Konzepten zu reduzieren versucht, soll nur erwähnt, hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden.


Klar sollte jedoch sein, dass es darum gehen müsste, weniger das Fremdzweifeln, das Zweifeln an den Gewissheiten der Anderen zu üben, sondern den Selbstzweifel, den Zweifel an den eigenen Gewissheiten. Eine Aufgabe der Politik, aber freilich auch der Wissenschaft und der Bildung wäre diesbezüglich, die Alternativität und nicht die Alternativlosigkeit vorzuführen.