Soziale Nähe in physischer Distanz

Digitale Kommunikation als soziales, emotionales und aktionales Erlebnis


Seit Mitte März 2020 befinden sich sehr viele Menschen in neuen Arbeits- und Bildungsstrukturen. Die Corona-Pandemie hat zu einer „Zwangsdigitalisierung“ (Tom Rüsen) der sozialen, insbesondere beruflichen, bildungsorientierten, freundschaftlichen und zum Teil auch verwandtschaftlichen Kommunikation geführt. Trotz physischer Distanzierung können wir dank unserer digitalen Techniken sozial nah beieinander sein. Wir können uns sehen und uns hören. Zumindest diese beiden Sinne lassen sich über die medialen Formen des Internets aufeinander ausrichten. Wir können so miteinander interagieren.


Inzwischen gibt es zahlreiche Softwarepakete und Plattformen, die es uns ermöglichen, gemeinsam hinter unseren jeweiligen Monitoren sitzend, zu arbeiten, kooperativ und kollaborativ Prozesse des Schreibens, des kreativen Produzierens von Ideen, Konzepten oder Strategien welcher Art auch immer zu realisieren. Selbst systemische Aufstellungen, die sehr intensiv Körpererfahrungen einbeziehen, können in dieser Weise erfolgreich durchgeführt werden.


Wer nun aber meint, dass diese Form der audio-visuellen Beziehungsgestaltung hinter den Monitoren ganz niedrigschwellig sei, der wird schnell eines Besseren belehrt. Wenn wir nicht alle unsere fünf Sinne aufeinander ausrichten können, eben einander nur sehen und hören, jedoch keinen gemeinsamen Raum über unsere körperlichen Sensoren kinästhetisch erfühlen sowie keine entsprechenden Geruchs- und Geschmackseindrücke haben, dann ist unsere Empathie-Fähigkeit eingeschränkt. Allerdings ist es gerade diese Fähigkeit, die uns hilft, unsere sozialen Beziehungen in passender Weise zu führen, die uns befähigt, uns aufeinander auszurichten, zugleich mitfühlend und sachlich miteinander zu kommunizieren.


Aufgrund der eingeschränkten sinnlichen Bandbreite digitaler Kommunikation ist es in diesen technisch unterstützten Interaktionsformen noch wichtiger als in der klassischen Begegnung, dass wir uns Zeit nehmen, um uns zu fokussieren, unsere gemeinsame Aufmerksamkeitsrichtung zu bestimmen. Wie können wir genau das tun? Dazu möchte ich fünf Hinweise geben:


Erstens ist unsere räumliche Umgebung wichtig, in der wir unsere Technik nutzen, in der unser Computer, unsere Kamera und das Mikrophon angeordnet sind. Wir sollten diesen Raum so frei wie möglich von anderen Ablenkungen halten. Es sollte bestenfalls kein weiteres mediales Gerät bereitliegen, kein Smartphone, das uns von der aktuellen Interaktion ablenken könnte. Denn zentral ist, dass wir uns – wie im realen Leben – ganz auf das „Jetzt“ der aktuell geschehenden Interaktion beziehen, ganz Auge und Ohr sind für das, was in den anderen Räumen, die uns über unserem Bildschirm vermittelt werden, gerade passiert.


Zweitens sollten wir uns eine Sitzmöglichkeit einrichten, die eine gute körperliche Präsenz erlaubt. Wenn wir die anderen nur sehen und hören können, dann ist es für eine gute Beziehung hilfreich, dass wir uns selbst gut spüren, dass wir also mit den Füßen den Boden, mithin die „Erdung“ spüren, mit dem Hintern fest auf dem Stuhl sitzen und im Rücken eine Lehne haben, die Sicherheit und Halt gibt. Je besser wir uns selbst, unseren eigenen Körper wahrnehmen, desto intensiver können wir den anderen auf dem Bildschirm folgen, ihnen zuhören, sie anschauen, dabei Gefühle und Sachaspekte wahrnehmen sowie uns in unseren Wortbeiträgen darauf beziehen.


Drittens ist es vorteilhaft, wenn wir uns zu Beginn von Online-Meetings genügend Zeit nehmen, um uns gegenseitig füreinander öffnen, dass wir uns wahrnehmen mit dem all dem, was uns als Menschen ausmacht. Da wir also nur visuell und auditiv aufeinander ausgerichtet sind, ist es daher sinnvoll, dass wir, bevor wir zum eigentlichen Sachthema unseres Treffens kommen, zumindest kurz Smalltalk betreiben, uns voneinander erzählen. Wir könnten z.B. darüber reden, wo wir uns gerade befinden und vielleicht auch die Kamera durch den entsprechenden Raum führen. Wenn das als zu privat angesehen wird, dann reicht auch eine knappe Runde, in der jeder einen Satz sagt, mit dem die aktuelle Stimmung und Befindlichkeit artikuliert werden.


Viertens erscheint es angebracht, dass wir uns noch strenger als im realen Dialog an die Regeln guter Gespräche halten. Da wir über mediale Plattformen nicht so sensibel wie in Livegesprächen beobachten können, wann Gespräche gerade in eine Pause geraten, so dass nun etwa die Gelegenheit gekommen ist, selbst das Wort zu ergreifen, sollten wir zunächst darauf achten, dass alle ausreden können, die gerade das Wort haben. Da die Pausen zwischen den einzelnen Beiträgen länger sein können als in der realen Interaktion, ist es in virtuellen Räumen ratsam, über Handheben oder entsprechende Vorrichtungen der jeweiligen Software Zeichen zu geben, um zu signalisieren, dass ein Redewunsch besteht.


Fünftens ist es schließlich passend, wenn die virtuelle Interaktion mit einem kleinen Abschlussritual beendet wird. Das kann das Grüßen bzw. Verabschieden mit der erhobenen Hand sein. Wenn mehr Zeit zur Verfügung steht, würde eine Abschlussrunde das Meeting perfekt abrunden. Jeder/r sagt knapp, wie die aktuelle Stimmung ist und was jeweils als das Wichtigste des zu Ende gehenden Gesprächs bewertet wird.


Fassen wir zusammen: Soziale Nähe in physischer Distanz ist voraussetzungsvoll und versteht sich nicht von selbst. Auch wenn wir alle notwendigen Techniken zur Verfügung haben, um genau dies zu realisieren, sind Sensibilität und Empathie die Voraussetzungen dafür, dass virtuelle Meetings gelingen. Und da wir im virtuellen Raum nicht alle unsere fünf Sinne wie im realen Kontext nutzen können, müssen wir der Herstellung achtsamer Kommunikation viel mehr Aufmerksamkeit widmen als dies gemeinhin der Fall ist. Wenn wir dies jedoch ernsthaft und gründlich tun, dann wird das Homeoffice oder das virtuelle Treffen zu einem anregenden Interaktionserlebnis, das uns in Zeiten körperlicher Ferne mit zwischenmenschlicher Nähe belohnt. Denn diese Nähe ist es, die sowohl private als auch berufliche Beziehungen zu dem machen, was sie bestenfalls sind, nämlich Räume, in denen das entstehen kann, was wir nur mit anderen Menschen realisieren können: Werke, welcher Art auch immer, die aus sozialen Prozesse der Kooperation oder Kollaboration hervorgehen.