Wenn in die Wirklichkeit die Realität einbricht. Covid-19 aus konstruktivistischer Perspektive

Gerade in Zeiten wie diesen, in denen große Unsicherheit besteht, in denen wir alle mit unserer Angst umzugehen haben, neigen wir zu einfachen Antworten. Um Entscheidungen zu treffen, ist es wichtig, die komplexe Wirklichkeit, die wir jederzeit wahrnehmen, etwa durch das, was wir in den Medien sehen, was in den sozialen Internetmedien diskutiert wird und was sich vor unserer eigenen Haustür abspielt, was wir also aus eigener sinnlicher Anschauung in der alltäglichen Lebenswelt wahrnehmen, auf ein verarbeitungsfähiges Maß zu reduzieren. Aus all dem bilden wir uns ein Urteil und stellen unser Handeln darauf ein. Das ist freilich ein sich selbst vollziehender Prozess, der nur begrenzt willentlich gesteuert werden kann. Wir sollten allerdings aufpassen, dass wir die Komplexitätsreduktionen flexibel halten. Es muss darum gehen, immer wieder in Frage zu stellen, was unser vermeintliches Wissen ist, um durch neue Informationen, die den Medien und der Lebenswelt entspringen, neue Entscheidungen zu treffen.


Vor ein paar Tagen hatte ich mich entschieden, die Thesen von Dr. Wolfgang Wodarg auf den Kanälen der sozialen Medien zu posten. Ich fand, dass dieser ehemalige SPD-Gesundheitsexperte, der im Bundestag und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates saß, nachvollziehbar beschrieben hat, wie die Corona/Covid19-Krise durch ein Zusammenspiel wissenschaftlicher, politischer und massenmedialer Kommunikationen immer stärker die gesamte gesellschaftliche Aufmerksamkeit fokussiert und zentriert, um daraus Maßnahmen abzuleiten, die wir uns vor wenigen Wochen kaum vorstellen konnten. Inzwischen steht das soziale Leben in Europa weitgehend still. Italien erlebt eine extreme Krise seines Gesundheitssystems. Die Gefahr scheint groß, dass ähnliches in anderen europäischen Ländern passieren wird. In Asien sieht die Situation bereits wieder anders aus. Dort sind die Maßnahmen mit Tracing, Massentests und strikter Isolation der infizierten Personen allerdings auch andere als bei uns. Aber das soll jetzt nicht das Thema sein (wie Singapur es schaffte, dass das soziale Leben trotz Covid-19 weiterging, zeigt dieser Bericht auf den Seiten der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/ausland/singapur-coronakrise-101.html). 


Bezüglich der Entwicklung meiner Sicht auf die aktuelle Wirklichkeit habe ich mich gestern neu entschieden, so habe ich u.a. den Post mit dem Statement von Wolfgang Wodarg von meinen social media-Kanälen gelöscht. Denn die Thesen dieses Arztes, dass Covid-19 ein Coronavirus wie jedes andere ist, bestätigen sich nicht. Ich will auf die Details dazu nicht eingehen, sondern empfehle dazu den täglichen Coronavirus-Update von Christian Drosten (https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html).


Meine These ist, dass wir derzeit erleben, wie unsere psychisch und sozial konstruierten Wirklichkeiten, die gemeinhin brauchbar sind, um den Alltag in unseren unterschiedlichen Lebenssphären zu meistern, mit einer existenziellen Realität konfrontiert werden, nämlich mit der Frage nach Leben und Tod. Auch wenn wir selbst von einer Corona-19-Infektion nicht sterben werden, weil wir nicht zur Risikogruppe gehören, können unsere Eltern oder Großeltern, Freunde, Bekannte, Kollegen oder Nachbarn von lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen betroffen werden. Wie wir mit dem konstruktivistischen Philosophen Ernst von Glasersfeld sagen können, offenbart sich die „harte“ Realität, „die ‚wirkliche‘ Welt […] ausschließlich dort […], wo unsere Konstruktionen scheitern“ (E. v. Glasersfeld: Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: P. Watzlawick [Hrsg.]: Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München, 1981, S. 37), etwa im Angesicht des Todes. Mit anderen Worten, die reale Möglichkeit des Todes durchbricht alle anderen Wirklichkeiten. Der Tod ist die extremste Falsifikation.


Wenn Wirklichkeitssichten durch den Einbruch der "wirklichen" Welt, eben der Realität scheitern, verändert werden müssen, dann kommen Wirklichkeit und Realität nicht zur Deckung, sondern es entsteht bestenfalls eine zumindest temporär brauchbarere Wirklichkeitskonstruktion bis zur nächsten Falsifikation. Es bleibt unsicher, was auch Christian Drosten angesichts der Covid-19-Krise täglich neu beschreibt und erklärt. Daher erscheint es wichtig, dass wir sensibel abwägen, was wir tun. Auch in dieser Situation ist der ethische Imperativ Heinz von Foersters nicht außer Kraft, dass wir so handeln sollten, dass sich die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert, dass wir Alternativität nicht zerstören, sondern befördern.