Anstößige Bilder – Politik, Kunst und Antisemitismus

Inwiefern und warum in der Politik die Documenta Fifteen mit ihrem Antisemitismus-Eklat völlig anders bewertet wird als in der Kunstwelt, erläutert Michael Hutter, Soziologe und Ökonom sowie emeritierter Direktor der Abteilung „Kulturelle Quellen von Neuheit" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, in seinem Gastbeitrag für monopol – Magazin für Kunst und Leben. Politik und Kunst werfen sich gegenseitig Ignoranz vor. Zur sortierten Erklärung dieser Diskrepanz eignet sich Systemtheorie. „In Fällen wie dem Documenta-Fifteen-Skandal, wenn Wertschätzungen krass auseinanderfallen, bemerken die Mitspielenden, dass sie gleichzeitig in unterschiedlichen Wertsphären kommunizieren. Normalerweise fällt uns das nicht auf, denn wir sind in die Wertspiele hineingeboren und bewegen uns in ihnen mit der Selbstvergessenheit von Fischen im Wasser. Sich diese unterschiedlichen Ausgangssituationen bewusst zu machen, könnte ein erster Schritt sein, die Konfliktlinien in der Debatte um die Documenta Fifteen zu erkennen, ohne die unterschiedlichen Bewertungen gleich zu instrumentalisieren“, schreibt Michael Hutter.

In seinem kürzlich im Carl-Auer Verlag erschienenen Werk Anstößige Bilder verfolgt Michael Hutter die Vorgeschichte der beanstandeten Bildwerke auf der Documenta Fifteen in den historischen Kontexten des Israel-Palästina-Konflikts, des indonesischen Freiheitskampfes und der judäo-christlichen europäischen Geschichte. Die vielbeachteten Deutungsdebatten, die der Skandal um die Documenta Fifteen medial ausgelöst hat, werden in unterschiedlichen „Gesellschaftskampfspielen“ rekonstruiert: in den Leitmedien der politischen Öffentlichkeit, in den Diskursen der Kunstwelt, im Streit um alternative Wirtschaftsformen und in diversen Disziplinen der Sozialwissenschaft. Das Buch ist ein starkes Plädoyer für die Relevanz von Mehrdeutigkeit in einer multipolaren Weltgesellschaft. Hochaktuell und unbedingt lesenswert!