autobahnuniversität / Hans Albert - Einführung in den Kritischen Rationalismus 4

Zur Problematik der Theoriebildung und der Erklärung realer Zusammenhänge


Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis ist nicht etwa ein „kognitives Vakuum", sondern das Alltagswissen. Das Alltagswissen kann als eine Quelle von Problemen und erster Problemlösungsversuche angesehen werden. Wissenschaft versucht, über dieses Wissen hinauszugelangen zu umfassenderen, tieferen und genaueren Theorien, die überdies zuver­lässiger sind als die Theorien des Alltags, weil sie besser geprüft sind. Wissenschaftliche Theorien sollen die Struktur der Realität erklären. Als erklärende Aussagen kommen daher solche in Betracht, die widerspruchsfrei, wahr und relevant für das jeweilige Problem sind.


Wie schon erwähnt, beginnt die Theoriebildung bereits in der Wahrnehmung. Unser Wahrnehmungsapparat registriert nicht passiv das Gegebene, er interpretiert die einlaufenden Signale. Die Kategorien, nach denen dies geschieht, scheinen zumindest teilweise genetisch fixiert zu sein. Diejenigen, für die das zutrifft, wurden im Verlauf der biologischen Evolution geformt, sind überindividuell und teilweise auch bei anderen Spezies, mit denen uns ja eine biologischeVerwandtschaft verbindet, zu finden. In diesen Kategorien, diesen kognitiven Universalien kommen, wie Albert sagt, ,,bewährte lnvarianzen der wahrgenommenen Gegenstandswelt zum Ausdruck". So kommt eine theoretische Grundorientierung zustande, die allerdings, wie sich gezeigt hat, keine Wahrheitsgarantie beinhaltet, sondern durch höhere Erkenntnisleistungen überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden kann.


Die Wissenschaft versucht, unsere Erfahrungserkenntnisse zu erklären, indem sie sie auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zurückführt. Nehmen wir beispielsweise wahr, daß eine Billiardkugel eine andere anstößt, würde eine wissenschaftliche Erklärung quantentheoretische Gesetze über die elektro­magnetische Kraft als zentralen Bestandteil beinhalten. Die theoretischen Entitäten, die hier eine Rolle spielen (etwa die elektromagnetische Kraft), würden übrigens aus der Perspektive des Realismus für existent gehalten, aus der des Instrumen­talismus dagegen nicht.


Robin Horton hat zwei Stufen der Theoriebildung unterschie­den, die primäre des Alltagsdenkens und die sekundäre der Wissenschaften. Erstere beschreiben die Realität als mit dauerhaften Objekten mittlerer Größe bevölkert, die durch Zug-Stoß-Wirkungszusammenhänge verbunden sind, in räumlichen dichotomischen Beziehungen wie oben/unten, vor/ hinter stehen usw. Die zeitliche Trichotomie vor/gleichzeitig/ nach ist von wesentlicher Bedeutung sowie die Unterscheidung von Selbst, Anderen und Außenwelt. Sekundäre Theorien knüpfen an primäre Theorien an, gehen jedoch über diese hinaus und korrigieren sie unter Umständen. Dazu müssen die sekundären Theorien allerdings folgende Bedingungen erfüllen: Sie müssen die bisherige Erfahrung und den in ihnen enthaltenen Irrtum erklären und möglichst neue Erfahrungen vorhersagen, die sich anschließend auch bestätigen. Dahinter steckt das allgemeine Erkenntnisprogramm der Realwissen­schaften, nämlich „die Erklärung aller in Betracht kommender Tatbestände" (Albert). Damit stellt sich die Frage, was unter einer angemessenen Erklärung und insbesondere einer angemessenen Theorie zu verstehen ist und wie diese zu erreichen sind.


Zunächst: Was ist eine Theorie? Eine Theorie ist ein hypothetisch­ deduktives Aussagensystem, dessen zentrale Aussagen nomologischen Charakter haben (in ihnen sind also die jeweiligen Gesetzmäßigkeiten formuliert) und das bestimmten theoretischen Ideen verpflichtet ist. Die Gesetzesaussagen können als Formulierungen von Existenz- oder Geschehnisverboten aufgefasst werden: Ein einfaches Gesetz wie "Alle Menschen sind sterblich" behauptet die Unmöglichkeit eines diesem widersprechenden Ereignisses. Darauf beruht die Möglichkeit der Falsifikation von vermuteten Gesetzen - durch Hinweis auf tatsächlich gegebene widersprechende Fälle.


Zu den wichtigsten Eigenschaften einer Theorie gehört ihre Erklärungskraft. Eine Theorie von großer Erklärungskraft ist auf einen möglichst weiten Bereich von Objekten anwendbar, liefert darüber möglichst genaue Informationen und gibt möglichst tiefe Erklärungen. Es kommt also auf die Allgemeinheit, Genauigkeit und Tiefe einer Theorie an. Zunächst einige Bemerkungen zu den ersten beiden Faktoren.


Gesetze lassen sich als Wenn-dann-Aussagen formulieren. Beispiel: "Alle Unternehmer streben nach Gewinnmaximierung" kann in logischen Symbolen dargestellt werden als: (x) (Px→ Qx), das heißt: "Für alle x gilt: Wenn Px, dann Qx". Mit x wird der Bezugsbereich des Gesetzes bezeichnet, hier: Personen. P nennt den Anwendungsbereich (Unternehmer), Q den Inhalt (Gewinnmaximierungsstreben). Das Gesetz lautet demnach: Für alle Personen x gilt: Wenn x ein Unternehmer ist, dann strebt er nach Gewinnmaximierung.


der Allgemeinheitsgrad einer Theorie bezieht sich nun auf den Anwendungsbereich. Große Allgemeinheit heißt, die Wenn-Komponente hat geringen Informationsgehalt, schränkt den Anwendungsbereich möglichst wenig ein. "Unternehmer" ist allgemeiner als "Bankier". Der Genauigkeitsgrad bezieht sich auf den Inhalt eines Gesetzes. Große Genauigkeit bedeutet, die Dann-Komponente hat hohen Informationsgehalt, gibt möglichst präzise an, was der Fall sein soll. "Gewinnmaximierung" ist genauer als "Kostenminimierung". Allgemeinheit und Genauigkeit beeinflussen aber nicht die Erklärungsleistung einer Theorie, sondern auch ihre Prüfbarkeit. Allgemeinere Theorien sind besser prüfbar, weil mehr widersprechende Fälle möglich sind, genauere Theorien sind besser prüfbar, weil sie inhaltlich bestimmter sind. Genauere Theorien verbieten mehr als weniger genaue. Je mehr eine Theorie verbietet, desto leichter ist es, konträre Fälle zu finden.


Nun zur "Tiefe" einer Theorie. Eine Theorie T² kann dann tiefer als eine Theorie T¹ gennant werden, wenn T² Zusammenhänge aufdeckt, die hinter den von T¹ behandelten Erscheinungen liegen, das heißt wenn sie Mechanismen nennt, die jene Erscheinungen erklären. Tiefere Theorien berechtigen oftmals die weniger tiefen. Für Keplers Gesetzte der Planetenbewegung (T¹) konnte zum Beispiel durch Newtons Theorie (T²) eine Erklärungsgrundlage geliefert werden, die auf tieferliegende theoretische Entitäten zurückgriff und zugleich Keplers Theorie als Grenzfall allgemeiner Gesetzmäßigkeiten erkennen ließ.


Theorien sind Bestandteile von Erklärungen. Wie Erklärungen prinzipiell aussehen, zeigt das sogenannte Hempel-Oppenheim-Schema:


G1, G2, ... Gn
B1, B2, ... Bk
—————————
E


G1 bis Gn bezeichnen die jeweiligen Gesetzmäßigkeiten, B1 bis Bk die Anwendungsbedingungen (sie spezifiziert diejenigen Bedingungen, auf die die Gesetzte angewendet werden sollen), E das zu erklärende Ereignis. Gesetzmäßigkeiten und Anwen­dungsbedingungen bilden die zur Erklärung hearngezogenen Aussagen, das Explanans. E ist die Beschreibung des zu erklärenden Tatbestands, das Explanandum. Eine gültige Erklärung liegt vor, wenn das Explanandum aus dem Explanans ableitbar ist.


Wenn, was in den Wissenschaften häufig zu beobachten ist, die Sachverhalte, auf die eine Theorie angewendet werden soll, sehr komplex sind, wird ein theoretisches Modell erstellt, in dem die für wesentlich gehaltenen Faktoren enthalten sind, weniger relevant erscheinende aber ausgeblendet werden. zuweilen sind nur durch solche Beschränkungen, durch solche ldealisierungen Erklärungen überhaupt möglich Von einfachen Modellen kann dann unter Umständen schrittweise zu zunehmend realitätsnahen Modellen übergegangen werden. In der Ökonomie wird das oft als Methode der abnehmenden Abstraktion bezeichnet, das heißt, die ldealisierungen werden nach und nach wieder rückgängig gemacht.


Wenn man an zutreffenden Erklärungen interessiert ist, empfiehlt es sich, so hatten wir erfahren, nach neuen Theorien und nach Gegenbeispielen zu suchen. Je erklarungskräftiger eine Theorie ist, desto besser ist sie empirisch prüfbar (vgl. die obige Erläuterung zum Zusammenhang von Erklärungskraft, Allgemeinheit, Genauigkeit und Prüfbarkeit einer Theorie). Empirische Prüfungen können als Versuche der Widerlegung _ einer Theorie aufgefaßt werden, wobei die betreffende Theorie entweder standhalten (sich bewähren) oder scheitern kann. Der Wissenschaftshistoriker und -theoretiker Thomas Kuhn hat nun die Möglichkeit einer Widerlegung von Theorien bestritten. Er stützt sich dabei auf zwei Annahmen, nämlich 1) daß die Erfahrung selbst theoriegeprägt ist und 2) daß eine Falsifikation immer ein gesamtes theoretisches System betrifft (Theorie plus Anwendungsbedingungen plus evtl. Hilfsannah­men), nicht aber eine Theorie allein. Sollte also eine Falsifikation überhaupt möglich sein, so ist nicht zu sagen, was letztlich für das Scheitern des theoretischen Systems verantwortlich zu machen ist. Ist diese Kritik stichhaltig?


Zunächst geht es um die Tatsache, daß es keine reine, theoriefreie Erfahrunggibt-wasauchKarlPopperanerkennen würde. Kuhn meint allerdings, Theorien würden Erfahrungen in einem Maße prägen, welches jeglichen empirischen Theorientest unmöglich machen müsse: Theorien schaffen mit ihnen konforme Erfahrungen, so daß also die Theorie über die Erfahrung befindet und letztere sich mithin nicht mehr zu Prüfzwecken eignet. Das setzt allerdings eine Plastizität der menschlichen Wahrnehmung voraus, die den Resultaten der Wahrnehmungsforschung nach nicht gegeben ist. Wahrneh­mungsinhalte werden durch genetisch fixierte Kategorien mitbestimmt und sind insofern theoretisch.Wissenschaftliche Theorien machen nun zuweilen deutlich, daß einige unserer Erfahrungen falsch sind, die Wahrnehmungen selbst werden dadurch jedoch nicht verändert. Diese Entgegnung trifft auch Kuhns Behauptung, radikale theoretische Umorientierungen in den Wissenschaften (..Revolutionen") bedingten eine Umerziehung der Wahrnehmung der jeweiligen Forscher, so daß etwa Physiker nach der Einsteinsehen Revolution die Realität anders „sehen" als vorher. Aber auch den im Geiste der Relativitätstheorien erzogenen Wissenschaftlern widerfährt keine Umprägung ihrer Wahrnehmung, sie sind lediglich auf neue Aspekte der Wirklichkeit aufmerksam gemacht worden. Summa summarum schreiben wissenschaftliche Theorien also keineswegs Erfahrungsinhalte vor, ihre prinzipielle Prüfbarkeit muß auf dieser Basis nicht in Frage gestellt werden.


Kuhns zweitem Kritikpunkt, wonach bei einem Widerspruch zwischen den Aussagen einer Theorie und den Beobachtungs­ daten, die zur Prüfung der Theorie erhoben wurden, nicht kurzerhand gesagt werden kann, woher der Widerspruch rührt, ist zunächst zuzustimmen'. Allerdings muß die Untersuchung ja nicht an dieser Stelle abgebrochen werden. Wenn unklar ist, ob der theoretische Kern des fraglichen Systems revisionsbedürftig ist, ob vielleicht die Beobachtungs­daten unzuverlässig sind oder ob womöglich der prüfende Wissenschaftler fehlerhaft gearbeitet hat usw., können weitere Analysen folgen. Wie Albert anhand wissenschaftshistorischer Beispiele zeigt, ist so eine Eingrenzung des von einer Falsifikation betroffenen Bereichs möglich. Dabei empfiehlt sich eine undogmatischeVorgehensweise. Es existieren keine methodo­ logischen Regeln, die vorgeben, was zu verwerfen und was beizubehalten ist.Vielleicht ist die Suche nach besseren Theorien angezeigt, vielleicht aber auch ein gewisser Theorien­ konservativismus. Wie schon in Kapitel V geschildert, hängen angemessene Problemlösungen von der methodisch disziplinierten Phantasie des Forschers ab.