autobahnuniversität / Hans Albert - Einführung in den kritischen Rationalismus 1

In den kommenden Wochen bringt die Autobahn-Universität alle neun Teile einer Vorlesung des legendären Mannheimer Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Hans Albert (* 1921) aus dem Jahr 1992 in sieben Sendeeinheiten. Jeden Samstag in den kommenden sechs Wochen veröffentlichen wir ca. 90 – 120 Minuten von Hans Alberts Einführung in den Kritischen Rationalismus. Die jeweils einführenden Texte von Hans Günter Ruß zur Edition dieser Vorlesung verhelfen zu einem leichten Einstieg in die spannende und komplexe Materie. Es lohnt sich unbedingt, von Anfang dabei zu sein und am Ball zu bleiben.


Die Sommer-Vorlesung der Autobahn-Universität ist nach wie vor sehr aktuell. Angesichts der heftigen Diskussionen in unserer pandemischen Zeit über den Einfluss wissenschaftlicher Forschung, wie z. B. der Virologie, auf politische Entscheidungen und Prioritäten ist ein kritischer Blick auf Muster wissenschaftlicher Kommunikation und ihrer Folgen mehr als angeraten. Ganz zu Recht wurde Karl R. Popper, Begründer des Kritischen Rationalismus, auch durch sein vielgelesenes opus magnum Die offene Gesellschaft und ihre Feinde bekannt. Helmut Schmidt rechnete Popper zu seinen Freunden und Lehrern. Hans Alberts klassische Vorlesung zur Einführung in den Kritischen Rationalismus darf in eine Reihe mit Niklas Luhmanns großen Vorlesungen zu Systemtheorie und zur Theorie der Gesellschaft gestellt werden.


Die Erkenntnistheorie des Kritischen Rationalismus hatte – besonders durch die Ausformung bei ihrem Begründer – großen Einfluss auf die Diskussion zum Selbstverständnis der Wissenschaften. Das gilt für die Naturwissenschaften genauso wie für die Geistes- bzw. Sozialwissenschaften.


Auf der Nahtstelle der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen entwickelte sich dann in den beiden letzten Jahrzehnten das furiose Wachstum neurowissenschaftlicher Forschung und die Bedeutung, die ihren Ergebnissen beigemessen wurde. Die wissenschaftskritische Begutachtung und, ja, eigentlich ganz „normale“ Bezweiflung der daraus gezogenen Gewissheiten für Disziplinen wie Psychiatrie, Psychotherapie, Coaching und andere psychosozialen Felder trat weit in den Hintergrund. Kriterium Falsifizierbarkeit? Zu häufig vergessen ….



Zur Vorlesung „Kritischer Rationalismus"


Der Titel dieser Vorlesungsreihe, die Hans Albert ursprünglich im Sommersemester 1990 an der Universität Graz hielt, könnte auch lauten: Über den Zusammenhang der Erkenntnistheorie mit den Realwissenschaften. Aber ist es hier überhaupt angebracht, einen Zusammenhang zu vermuten? Die Erkenntnistheorie ist eine philosophische Disziplin, und als solche ist sie, wie von Seiten einiger Wissenschaftler zuweilen geäußert wird, für die Tätigkeit der scientific community uninteressant. Der Physiker Steven Weinberg zum Beispiel ist der Meinung, man solle von der Wissenschaftsphilosophie (bei Weinberg ein anderes Wort für Erkenntnistheorie und Methodologie) nicht erwarten, "daß sie den Wissenschaftlern von heute im Hinblick auf ihre praktische Tätigkeit und deren mutmaßliche Ergebnisse auch nur die geringste Hilfe und Anleitung bietet" (in: Der Traum von der Einheit des Universums, München 1993, S.174). Diese Ansicht ist jedoch falsch. Was Weinberg übersieht, ist die Tatsache, daß er als Forscher in seiner praktischen Arbeit zur Beurteilung von Theorien Maßstäbe heranzieht, die erkenntnistheoretischen Überlegungen entstammen. Es ist nicht wichtig, ob ein Wissenschaftler oder ob ein Philosoph diese Maßstäbe entwickelt, entscheidend ist ihre Herkunft aus der philosophischen Betätigung. Pointiert gesagt: Ohne Philosophie keine Wissenschaft.


Das ist nur einer der möglichen Berührungspunkte zwischen den beiden Disziplinen. In den gegenwärtigen Natur- und Geisteswissenschaften wird nun zunehmend auf eine erkenntnistheoretische Konzeption zurückgegriffen, die unter dem Namen „Kritischer Rationalismus" bekannt­ geworden ist. Der kritischer Rationalismus wurde von dem österreichischen Philosophen Karl Popper in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt und im deutschen Sprachraum u.a. von Hans Albert aufgenommen und ausgebaut. Er umfaßt im wesentlichen drei Auffassungen:


1) Einenkritischen Realismus: Es existiert eine subjektunabhängige und erkennbare Realität.


2) Einen konsequenten Fallibilismus: Die menschliche Vernunft ist fehlbar, Wahrheitsgarantien unserer Erkenntnisse sind nicht erreichbar.


3) Einen methodischen Rationalismus: Dieser ist orientiert an der Idee der kritischen Prüfung und der Wahrheit.


Diese Vorlesung bietet eine Einführung in kritisch-rationales Denken und seine Bedeutung für Wissenschaft, Philosophie usw. Im folgenden Text werden die Grundgedanken Alberts nachgezeichnet.


 


Zum Problem der Möglichkeit der Erkenntnis


Ausgangspunkt der Überlegungen Hans Alberts ist das klassische Ideal der Erkenntnis und des Wissens: Echtes Wissen (im Unterschied zum bloßen Meinen) hat drei Forderungen zu erfüllen:


1) Es muß wahr sein.


2) Die Wahrheit muß objektiv feststehen, sie muß objektiv gewiß sein.


3) Um objektiv gewiß sein zu können, hat sie begründet zu sein in einer Weise, die keinen Zweifel mehr zuläßt.


Die jeweilige Begründung soll also eine Wahrheitsgarantie liefern.


Das Streben nach echtem Wissen in diesem Sinne durchzieht die gesamte abendländische Erkenntnisgeschichte. Aristoteles (384-322) etwa suchte nach unmittelbaren Einsichten, deren Wahrheit offenliegt. Mittels logischer Ableitungen sollten daraus dann weitere Wahrheiten erschlossen werden. Edmund Husserl (1859-1938) meinte, die Sicherheit von Erkenntnissen sei dadurch herstellbar daß sie auf einfache Sachverhalte zurückgeführt werden: deren Wahrheit evident ist. Mit dem Begriff „Evidenz" zielte Husserl dabei auf das „unmittelbare lnnewerden der Wahrheit selbst". Das gemeinsame Muster in solchen Bemühungen umfaßt also zum einen eine sichere Grundlagein Form bestimmter Einsichten, zum anderen ein logisches Ableitungsverfahren, mittels welchem aus jenen Grundlagen weitere Erkenntnisse gefolgert werden sollten. Die Frage, die sich nun stellt lautet, ob dieses Erkenntnisideal - das Ideal des „klassischen Rationalismus" - erreichbar ist. Die Verwirklichung des Ideals hängt natürlich davon ab, ob die unmittelbaren Einsichten, Evidenzen oder was immer als Grundlage dienen mag, tatsächlich als garantiert wahr erachtet werden können.


Was aber ist in diesem Zusammenhang überhaupt mit Wahrheit gemeint? Der Wahrheitsbegriff, der hier eine Rolle spielt, fußt auf einer realistischen Grundeinstellung. Danach besteht Wahrheit in der adäquaten Erfassung wirklicher Sachverhalte. Wahre Aussagen sind demnach zutreffende Darstellungen solcher Sachverhalte. Davon zu unterscheiden ist, wie Albert darlegt, das Problem, wie die Wahrheit von Aussagen festgestellt werden kann - das Problem des Wahrheitskriteriums. Vermochten also, um auf die obige Frage zurückzukommen, die klassischen Rationalisten ein Kriterium, ein sicheres Anzeichen der Wahrheit für jene unmittelbaren Einsichten zu liefern?


Die Antwort hierauf, so lehrt die Erkenntnisgeschichte, kann nur Nein lauten. Im Verlauf dieser Geschichte wurde nämlich die Wahrheit der verschiedensten, miteinander unvereinbaren Auffassungen für evident gehalten. Aus logischen Gründen können aber solche miteinander unvereinbaren Auffassungen nicht zugleich wahr sein. Zwar sind Gewißheitserlebnisse bezüglich irgendwelcher Einsichten nicht zu bestreiten, aber solche Erlebnisse können, wie sich herausgestellt hat, in die Irre führen und kommen mithin als Wahrheitsgaranten nicht in Frage.


Husserl und andere glaubten aber aus folgendem Grund am klassischen Erkenntnisideal unbedingt festhalten zu müssen: Sollte es nicht gelingen, die Wahrheit von Erkenntnissen sicherzustellen, konnte die Alternative nur darin bestehen, Erkenntnisbemühungen überhaupt aufzugeben. Diese Denker sahen keinen „dritten Weg" zwischen radikaler Skepsis und absoluter Gewißheit - ein „Alternativradikalismus", wie Albert sagt. Um dem Skeptizismus zu entgehen, mußte in dieser Perspektive die Forderung nach sicheren Gründen aufgestellt und erfüllt werden. ,"Suche stets nach zureichen den Gründen aller deiner Überzeugungen", lautete das entsprechende methodologische Prinzip.


Für die klassische Methodologie ergab sich aus diesem Prinzip ein weiteres Postulat, das Postulat des theoretischen Monismus: Sollte für bestimmte Auffassungen oder Theorien die Begründungsforderung erfüllt sein, so waren diese damit als wahr ausgewiesen. Alternative Thesen, die mit wahren Theorien unvereinbar sind, müssen dann jedoch falsch sein und folglich ausgeschlossen werden. Nur wahre Theorien interessieren.


Beide Charakteristika der klassischen Methodologie - Begründungsforderung und Theorienmonismus - sind fragwürdig. Aus der Begründungsforderung resultiert folgendes Problem: Was immer als Grund für eine Auffassung angegeben wird, für diesen Grund kann die Begründungs­ forderung erneut erhoben werden. Insgesamt ergibt sich für das Streben nach Gewißheit eine ausweglose Situation mit drei Alternativen, das sogenannte „Münchhausen­ Trilemma" (Albert).


1) Entweder man schreitet in der Suche nach Gründen unendlich weit zurück, sucht nach Gründen der Gründe der Gründe usw. - ein infiniter (unendlicher) Regreß. Oder (2) man gerät in einen logischen Zirkel: Man führt zur Begründung Aussagen an, die sich zuvor im Ableitungszusammenhang selbst bereits als begründungsbedürftig herausgestellt hatten. Weder 1) noch 2) können das Problem der Erkenntnissicherung lösen. 3) Oder (3) man bricht dasVerfahren an einem bestimmten Punkt ab - um den Preis der Suspendierung des zuvor aufgestellten Begründungsprinzips. Das wäre legitim, wenn jener Punkt, an Husserls Evidenzen), die angestrebte Erkenntnissicherheit gewährleisten könnte. Ein solcher Garant konnte aber, wie erwähnt, bislang nicht gefunden werden; alle Unter­ nehmungen in dieser Richtung haben sich als hinterfragbar und problematisch erwiesen. Der Abbruch des Begründungs­ verfahrens schien aber der einzig gangbare Weg zu sein, um dem Skeptizismus zu entkommen. Da aber die Wahrheit der angeblich letzten Gründe nicht bewiesen werden kann, wird sie tatsächlich - mehr oder minder verschleiert - auf andere Art „sichergestellt" : durch ihre dogmatische Behauptung. Dogmatismus taugt aber nicht als Wahrheitsgarant. Der Versuch, eine Gewißheit schaffende Letztbegründung zu liefern, scheitert am Münchhausen­-Trilemma. Man gerät hier in einen unendlichen Regreß, einen logischen Zirkel oder landet im Dogmatismus.


Grundsätzlich lassen sich zwei Formen von Letztbegrün­ dungsversuchen unterscheiden. Der klassische Intellektualismus (Descartes, Pascal) vertraute auf die Intuition, die geistige Schau, die die allgemeinen Wahrheiten, das „Wesen der Dinge" offenbaren sollte. Aus den so gewonnenen Einsichten sollten mittels logischer Deduktion die besonderen Wahrheiten erschlossen werden. Der klassische Empirismus (Francis Bacon) dagegen sah in der Erfahrung, in der Beobachtung der Realität die Quelle allen Wissens. Die derart erzielte Erkenntnis besonderer Tatsachen war gedacht als Grundlage für induktive Schlüsse auf immer allgemeinere Wahrheiten. Für beide Versionen der klassischen Erkenntnislehre ist also die Behauptung des unmittelbaren Zugangs zur Wahrheit kennzeichnend. Im ersten Fall stellt die Vernunft die maßgebliche Autorität dar, im zweiten Fall das Zeugnis der Sinne. Nun ist jedoch die absolute Glaubwürdigkeit dieser Autoritäten nicht ausweisbar, im Gegenteil: Bekanntlich sind weder Vernunfteinsichten noch Sinneswahrnehmungen unfehlbar und können mithin nicht Wahrheit garantieren. Wird diese fragwürdige Potenz dennoch behauptet, haben wir eine Dogmatisierung im Sinne des dritten Astes des oben genannten Trilemmas vor uns. Für die empiristische Lehre addiert sich dazu das Problem, daß bislang kein funktionierendes induktives Ableitungsverfahren gefunden werden konnte.


Insgesamt müssen sowohl die intellektualistische als auch die empiristische Erkenntniskonzeption als gescheitert gelten. Welche Konsequenzen sind aus dem Fehlschlagen der Bemühungen um Gewißheit zu ziehen? Bleibt nun nur noch die erkenntnispessimistische Alternative des radikalen Skeptizismus? Der österreichische Philosoph Karl Popper schlug einen anderen Weg vor: Er gab die unerfüllbare Forderung nach Letztbegründung auf und setzte an deren Stelle das Prinzip der kritischen Prüfung. Aussagen, Theorien sind Vermutungen, die kritischen Prüfungen zu unterziehen sind. Kritik dient dabei der Aufdeckung und Beseitigung von Irrtümern. Die Funktion desVerfahrens besteht darin, in einem Prozeß von Hypothesenbildung, Kritik und lrrtumskorrektur der Wahrheit schrittweise näherzukommen. Hat eine Theorie kritischen Prüfungen standgehalten, kann sie als bewährt, nicht aber als mit Sicherheit wahrgelten.Da die Wahrheit einer These niemals feststeht, ist es sinnvoll, nach Alternativtheorien zu suchen, nach Theorien, die mit weniger Schwächen behaftet sind, größere Erklärungskraft haben und so weiter. Der Theorienmonismus des klassischen Rationalismus wird hier also ersetzt durch einen Theorienpluralismus, an die Stelle der Suche nach Beweisen tritt die Suche nach widersprechenden Tatsachen, Theorien, nach kritischen Instanzen. Kontroversen, der Streit um die zutreffende Theorie, tragen in dieser Perspektive zum Erkenntnisfortschritt bei.