autobahnuniversität / Hans Albert - Einführung in den Kritischen Rationalismus 3

Zur Wertproblematik und ihrer Bedeutung für die Erkenntnis


Das Prinzip der wertfreien Wissenschaft wird oftmals mißverstanden, wozu nicht zuletzt Kritiker beitragen, die nicht in der Lage sind, eine adäquate Rekonstruktion des mit diesem Prinzip Gemeinten anzubieten. Der Soziologe Max Weber hat bereits in den Jahren 1904 bis 1919 in einer Reihe von Aufsätzen dezidiert Stellung zur Wertproblematik genommen, die Diskussion hierüber dauert allerdings weiterhin an. Einige Verfechter einer wertenden Sozialwissenschaft sind anschei­nend der Meinung, eine im Weberschen Sinne wertfreie Sozialwissenschaft könne zum praktischen Leben wenig beitragen und sei daher unzulänglich. Andere Kritiker Webers (zum Beispiel: Herbert Marcuse) greifen auf seine Freiburger Antrittsrede von 1895 zurück, in der Weber noch Positionen vertrat, die er später ausdrücklich revidierte. Dies blieb dann allerdings bei den Kritikern unberücksichtigt.


Webers Position läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Aus der Tatsache, ,,daß es niemals die Aufgabe der Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können" (Weber) folgt nicht, daß Wissenschaft überhaupt keinen Beitrag zur Wertdiskussion leisten kann. Sie kann über sachliche Zusammenhänge informieren, die für die Beant­wortung der normativen Frage „Was sollen wir tun?" von Belang sind, etwa über Zweck-Mittel-Zusammenhänge, unbeabsichtigte Nebenfolgen von Handlungen oder über den Entscheidungscharakter unseres Tuns. Sie kann darüber hinaus die unterschiedlichen praktischen Folgen konkurrierender Wertungen durchleuchten, auf für die eigenen Urteile unbequeme Tatsachen aufmerksam machen, Methoden des Denkens lehren und zur intellektuellen Rechtschaffenheit auffordern.


Das alles dürfte für die Praxis von einiger Bedeutung sein. Zur Klärung der Rolle von Wertungen in den Wissenschaften trifft Weber drei Unterscheidungen. 1) Wertungen bezüglich der Problemauswahl und der Resultate der Wissenschaft. Die Problemwahl ist immer wertend (welche Probleme werden als interessant erachtet?), Resultate können wertvoll sein im Sinne ihrer Richtigkeit oder im Sinne ihrer Wichtigkeit. 2) Wertungen im Objektbereich der Wissenschaft. Hier geht es um die Werthaltung von Subjekten als Gegenstand der Forschung. 1) und 2) sind nach Weber nicht aus der Wissenschaft auszuscheiden, wohl aber 3): Wertungen, die sich auf die Objekte der Wissenschaft beziehen. Objektbezogene Wertungen des Forschers (wertende Stellungnahmen zu Unter­suchungsgegenständen) haben im wissenschaftlichen Aussagenzusammenhang deshalb nichts zu suchen, weil sie keine Erkenntnisse sind. In Webers Worten kommt es hier nur darauf an, ,,daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen".


Weber hat also eine differenzierte Stellungnahme zur Wertproblematik erarbeitet. Der wissenschaftlichen Diskussion entzogen blieben in seiner Sichtweise allerdings die letzten Wertmaßstäbe oder -axiome. Rationale Diskussion kann diese weder begründen noch kritisieren, sie sind Glaubenssache. Albert bezeichnet eine solche Auffassung als „These von der Kritikimmunität letzterVoraussetzungen".Wer demgegenüber bereit ist, die Methode der kritischen Prüfung konsequent zu vertreten, hat jedoch keinen Anlaß, nicht auch grundlegende Wertaxiome für hinterfragbar zu halten. In diesem Punkt ist Weber zu korrigieren.


Ergänzend zu Webers Analyse geht Albert näher auf die Interpretation, den Charakter von Werturteilen und die Aufgaben und Möglichkeiten der (Sozial-)Wissenschaft (das Wissenschaftsprogramm) ein. Zunächst zur Interpretation: Mit einer wertenden Aussage wie „Die Verteilung des Sozial­produkts im Lande L und im Zeitraum Z ist ungerecht" ist ausführlicherer Diktion etwa folgendes gemeint: ,, Die Verteilung des Sozialprodukts im Lande L und im Zeitraum Z ist so beschaffen, daß sie einem bestimmten Prinzip nicht entspricht, das anzuerkennen ist, so daß es angebracht ist, dagegen Stellungzunehmen."(Albert). Albert entwickelt nun ein Deutungsschema für Werturteile, welches drei Elemente umfaßt: 1) Mit einem Werturteil wird der betreffende Sachverhalt positiv oder negativ für das Verhalten (für die Stellungnahme) ausgezeichnet. 2) Dabei wird ein normatives Prinzip als allgemein gültig unterstellt, das ein entsprechendes Verhalten (eine entsprechende Stellungnahme) fordert. 3) Von den Adressaten der Aussage wird erwartet, daß sie sich mit dem Prinzip identifizieren und sich entsprechend verhalten (entsprechend Stellung nehmen). Nach diesem Deutungs­schema lassen sich Werturteile als präskriptiv charakterisieren und abgrenzen von rein deskriptiven Aussagen, in denen Tatsachenerkenntnisse über die Realität formuliert sind sowie von sonstigen präskriptiven Aussagen wie beispielsweise Imperativen (Befehle, Bitten).


Nun zum Wissenschaftsprogramm. Die eigentliche Frage, um die es hier geht, ist, ob eine normative, wertende Sozialwissen­schaft unumgänglich ist. Der obige Beispielsatz wäre dann eine wissenschaftliche Aussage. Brauchen wir ein entsprechendes Wissenschaftsprogramm, kommen wir vielleicht gar nicht an einem solchen vorbei? Albert teilt Webers Einschätzung, daß Werte Gegenstand der Wissenschaft sein können (Problem der Wertungen im Objektbereich) und daß die Erkenntnispraxis Wertungen unterliegt (Problem der Wertbasis). Von größerem Interesse ist, ob in den sozialwissenschaftlichen Tatsachen­ aussagen über soziale Gegebenheiten also in der Objektsprache - Wertungen notwendig, möglich oder zweckmäßig sind.


Um es kurz zu machen: Akzeptiert man die Charakterisierung von Werturteilen als präskriptiv (vgl. das obige Deutungs­ schema), so sind für eine der Tatsachenerkenntnis verpflichtete Sozialwissenschaft Werturteile in der Objektsprache überflüssig. Ist damit aber die Aufgabe dieser Wissenschaft zutreffend umrissen? Ist sie nicht mehr als ein nur informatives Aussagensystem, nämlich eines, das darüber hinaus auch für praktische Zwecke (z.B. soziale Steuerung) genutzt werden soll?


Nun sind aus informativen Aussagensystemen allein keine normativen Konsequenzen ableitbar, wer das dennoch versucht, begeht einen sogenannten naturalistischen Fehlschluß. Um sozialwissenschaftliche Aussagen für praktische Zweckenutzbar zu machen, naturalistische Fehlschlüsse aber zu vermeiden, meinten Verfechter des Neonormativismus, man müsse solche informativen Aussagensysteme durch Werturteile ergänzen. Dagegen ist einzuwenden, daß bekanntlich Resultate der Naturwissenschaften praktisch genützt werden ohne solche Ergänzungen - etwa für Prognosen oder Kontrollvorgänge bezüglich der physikalischen Realität. Entsprechend können sozialwissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen werden für politisch relevante Prognosen und die Kontrolle sozialer Prozesse. Dazu ist es lediglich notwendig, die jeweiligen Aussagensysteme in technologische Systeme, in Technologien zu transformieren, das heißt sie auf mögliche Zielsetzungen zu beziehen: Um das und das Ziel zu erreichen, so hat die sozialwissenschaftliche Forschung ergeben, müssen die und die Schritte unternommen werden. Wie Albert sagt, haben technologische Systeme „keinen normativen Charakter, sie beantworten nicht die Frage ,Was sollen wir tun?', sondern nur die Frage ,Was kann getan werden, wenn die und die Probleme zu lösen sind?"'.



Zur Methode der Erkenntnis und zur Normierung der Erkenntnispraxis


Eine der zentralen Unterscheidungen, die bezüglich des Erkenntnisproblems getroffen wurden, ist die zwischen Geltung und Genese von Erkenntnissen, mit anderen Worten die zwischen Begründungszusammenhang und Entdeckungs­zusammenhang. Probleme der Genese von Erkenntnissen wurden häufig nicht als zur Erkenntnistheorie beziehungsweise Methodologie, sondern als zur Psychologie oder anderen Realwissenschaften gehörig betrachtet. Das beruht jedoch auf einem Mißverständnis, wie sich später zeigen wird. Albert wendet sich zunächst dem Geltungsproblem zu. Das Geltungsproblem verweist auf das Methodenproblem, das heißt auf die Frage nach einer Methode, die es erlaubt, bestimmte Ziele zu erreichen (beispielsweise gültige Erkennt­nisse), die also mit ihren Anleitungen, Maßstäben etc. bestimmte Normen für die Erkenntnispraxis vorgibt. Die Methodologie wird damit zu einer Kunstlehre, zu einer Technologie. Sie nennt die Mittel bei gegebenem Ziel (zuverlässige Erkenntnisse, Erkenntnisfortschritt u.ä.).


Diese Technologie ist nicht sakrosankt. Die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft war stets begleitet von Diskussionen um erfolgversprechende Methoden des Erkenntnisgewinns. Wie beispielsweise die Kritik am klas­sischen Rationalismus gezeigt hat, ist die methodologische Forderung nach zureichenden Begründungen unerfüllbar. Die Richtigkeit von Erkenntnissen über methodologische Probleme ist genausowenig sicherzustellen wie die Richtigkeit sonstiger Erkenntnisse.


Eine an der hier vertretenen fallibilistischen Erkenntnislehre orientierte Methodologie muß dem Prinzip der kritischen Prüfung und dem Ziel der Erklärung realer zusammenhänge Rechnung tragen. Hier kommt der Logik eine besondere Rolle zu. Um das zu erläutern, nennt Albert sieben logische Grundregeln:


1) Ein gültiges deduktives Argument erzeugt keine neue Information. Die Schlußfolgerungen (Konklusionen), die aus einer Prämissenmenge gezogen werden, enthalten keine Informationen, die nicht schon in irgendeiner Form in den Prämissen enthalten sind.


2) Ein gültiges deduktives Argument ist wahrheits­konservierend. Sind alle Prämissen wahr, ist auch die Konklusion wahr. Ist die Konklusion falsch, muß mindestens eine der Prämissen falsch sein.


3) Aus falschen Prämissen sind wahre Aussagen folgerbar, aus wahren Prämissen aber nicht falsche Aussagen.


4) Aus logisch unvereinbaren Prämissen sind beliebige Aussagen folgerbar.


5) Jede Aussage hat eine unendliche Folgerungsmenge. Aus der Aussage A kann beispielsweise geschlossen werden: Prämissen geben. Methodologischgewendet:ZujederTatsache, A oder B; A oder C; wenn B, dann A usw.


6) Jede Aussage kann aus unendlich vielen alternativen Prämissenmengen gefolgert werden, die auch teilweise miteinander unvereinbar sein können. Die Aussage A kann zum Beispiel gefolgert werden aus: A und B, A und C, A und Nicht-B usw.


7) Je mehr Informationsgehalt eine Aussage hat, desto umfassender ist ihre Folgerungsmenge.


Daraus ergeben sich folgende Schlüsse: 5) bedeutet, daß noch unentdeckte Konsequenzen einer Aussagenmenge (einer Theorie) existieren. Wichtig für die Beurteilung der Aussagen wäre insbesondere die Entdeckung von Konsequenzen, die nicht wahr sind, da dann nach 2b) auf die Falschheit mindestens einer jener Aussagen geschlossen werden könnte. Auf das Prinzip der kritischen Prüfung angewendet, heißt das: Wenn aus einer Theorie (der Prämissenmenge) Schlüsse oder Prognosen (Konsequenzen) abgeleitet werden können, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, dann sind diese Schlüsse offenbar falsch, woraus sich dann wiederum ergibt, daß mit der Theorie insgesamt etwas nicht stimmen kann. Es ist also wichtig, die Realität nach Sachverhalten zu durchforsten, die den Voraussagen einer Theorie widersprechen (sogenannte Gegenbeispiele oder Anomalien). Diese Suche ist nach 5) im Prinzip niemals abgeschlossen. Nun kann man natürlich versuchen, widersprechende Sachverhalte künstlich im Labor zu erzeugen. Experimente können daher als empirische Prüfungen von Theorien aufgefaßt werden, als Widerle­gungsversuche.


6) bedeutet, es kann zu jeder Aussage noch unentdeckte Prämissen geben. Methodologisch gewendet: Zu jeder Tatsache die erklärt werden soll (logisch gesehen spielt sie die Rolle einer die erklärt werden soll (logisch gesehen spielt sie die Rolle einer Konklusion), gibt es unendlich viele mögliche Theorien, aus denen sie unter bestimmten Bedingungen folgt, die sie unter bestimmten Bedingungen erklären. Dabei steht keineswegs fest, daß die gerade verfügbare Theorie auch diejenige mit der besten Erklärungsleistung ist. Daher lohnt die Suche nach Alternativtheorien. Sie ist ebenfalls niemals endgültig abzuschließen.


Somit resultiert folgende Situation: Wer an erklärungskräftigen Theorien und an ihrer Beurteilung aufgrund kritischer Prüfung interessiert ist, hat allen Anlaß, nach Anomalien und Alternativen zu suchen. Die Entdeckung von Anomalien kann darüber hinaus die Konstruktion von Alternativen fördern, Alternativtheorien können zur Auffindung von Anomalien führen. Ohne methodisch disziplinierte Phantasie dürften allerdings weder Gegenbeispiele aufgespürt noch alternative Erklärungsansätze entwickelt werden können. Aus diesen Überlegungen wird nun auch ersichtlich, wie tief Fragen des sogenannten Entdeckungszusammenhangs in der Methodolo­gie verankert sind.


Übrigens können weder Argumente noch die Beachtung logischer Regeln jemanden dazu zwingen, Behauptungen als wahr zu akzeptieren. Voraussetzungen können bestritten werden, umbestimmte Konsequenzen nicht ziehen zu müssen, Konsequenzen können bestritten werden, um bestimmte Prämissen nicht anerkennen zu müssen. Daneben kann auch die Geltung methodologischer Regeln (beispielsweise:Vermeide Dogmatisierungen!) angezweifelt werden.


Methodologie wurde oben als Technologie zur Erreichung gesetzter Ziele charakterisiert. Die Methodologie der Erkenntnis muß dazu der realen menschlichen Erkenntnissituation Rechnung tragen, um die Produktion von Wissen zu ermöglichen. Die jeweilige Erkenntnissituation hängt mit dem Stand des Wissens zusammen, mit den verfügbaren Kenntnissen der Logik und Mathematik etwa, den verfügbaren Beobach­tungs- und Experimentiertechniken, die ihrerseits wieder vom Stand der Wissenschaft abhängen, und so weiter. Die Methodenlehre ist also auf andere Wissenschaften angewiesen. Dem Forscher, der sie akzeptiert, liefert sie Gesichtspunkte für die Theoriensuche und -beurteilung (gemessen an den von ihm befürworteten Zielen, etwa dem Streben nach Wahrheit und Erkenntnisfortschritt), läßt aber zugleich Freiräume. Die hier verfochtene kritisch-rationale Auffassung betont die Bedeutung des Theorienpluralismus und der Kritik, sie kann aber im Falle des Fehlschlagens einer Theorie nicht festlegen, ob die Theorie zu verbessern oder gänzlich zu ersetzen ist, ob die vorgebrachte Kritik stichhaltig ist und so fort. Um solche Probleme zu lösen, sind die kreativen Kräfte des Wissenschaftlers gefragt.


Albert geht nun noch kurz auf Poppers ursprünglichesVorhaben ein, ein Abgrenzungskriterium zwischen Realwissenschaft und Metaphysik zu formulieren, nachdem er die induktive Vorgehensweise als angebliches Kennzeichen der Wissenschaften grundlegend kritisiert hatte. Popper schlug als Alternative das Prinzip der kritischen Prüfung von wissenschaftlichen Theorien anhand empirischer Befunde vor, später dehnte er die Idee der kritischen Prüfung auf Problemlösungen aller Art aus.