autobahnuniversität / Hans Albert - Einführung in den kritischen Rationalismus 2

Zum Charakter der Erkenntnislehre


Albert wendet sich nunmehr der Frage nach dem Status der Erkenntnislehre zu. Vielfach wurde sie für ein rein philosophisches Unternehmen gehalten, das strikt von den Einzelwissenschaften zu unterscheiden sei. Sie wurde als eine den Wissenschaften vorgeordnete Fundamentaldisziplin gedacht mit der Aufgabe, die Bedingungen aller Erkenntnis zu eruieren . Die Erkenntnislehre sollte Mittel zur Verfügungstellen, um beispielsweise wissenschaftliche Erkenntnisse zu beurteilen, ihrerseits aber durch wissenschaftliche Befunde nicht berührt werden. Immanuel Kants transzendentale Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis sollte also alle in mit den Mitteln der Philosophie beantwortet werden. Für diejenigen, die am klassischen Erkenntnis idealorientiert waren stellte sich damit ein zweistufiges Begründungsproblem: Die Erkenntnistheorie sollte die Wahrheitsansprüche wissen­schaftlicher Erkenntnisse begründen, mußte jedoch, um das leisten zu können, selbst zweifelsfrei begründet sein. Kant beantwortete die transzendentale Fragestellung mit Verweis auf sogenannte „synthetische Urteile apriori". Darunter werden gehaltvolle Aussagen über die Realität verstanden, die unabhängig von der Erfahrung gelten, der Vernunft entstammen und „mit unstreitiger Gewißheitwirklich gegeben sind" (Kant). Kant dachte dabei an Sätze der reinen Mathematik oder der reinen Naturwissenschaft (Beispiel: Kausalprinzip). Für ihn stellte die Newtonsche Physik das Paradebeispiel einer Wissenschaft dar, die allgemeine und unbezweifelbare Erkenntnisse zu liefern schien. Wie war das möglich? Kant meinte, diese Physik enthalte apriorische Elemente, die Gewißheit verbürgen, etwa die Newtonschen Anschauungen vom absoluten Raum und der absoluten Zeit oder auch das Kausalprinzip. Diese apriorischen Elemente sind Strukturen der Vernunft, die Erfahrung erst ermöglichen: ,,Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor" (Kant). Diese Position wird in der Philosophie als transzendentaler Idealismus bezeichnet. Die Wirklichkeit als solche - das „Ding an sich" - bleibt hiernach unerkennbar, da wir unausweichlich jenen subjektiven Verstandesstrukturen verhaftet sind, mit deren Hilfe wir die Realität erkennen wollen. Die scheinbare Gewißheit der Newtonschen Physik ist selbstfabriziert.


Kant ging in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen vom Faktum der Vernunft aus, also von in der Vernunft gegebenen synthetischen Urteilen a priori, die apodiktisch gewiß sein sollten. Aber hier ergeben sich die gleichen Schwierigkeiten, wie bei der Begründung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Synthetische Urteile a priori mögen subjektiv gewiß sein, aber ihre subjektive Gewißheit vermag nicht objektive Wahrheit zu verbürgen. Diese kann daher nur behauptet werden, das heißt, wir haben hier ein Dogma gemäß dem oben erläuterten Trilemma vor uns. Und in der Tat haben sich die Kantschen Gewißheiten als zweifelhaft erwiesen. Ähnlich gelagerte Versuche einer Letztbegründung, etwa von Leonard Nelson oder Hugo Dingler, offenbaren vergleichbare Schwächen. Auch in der Erkenntnistheorie endet das Streben nach absoluter Gewißheit im Münchhausen-Trilemma.


Wie wir gesehen haben, empfiehlt es sich jedoch, das klassische Erkenntnisideal fallenzulassen. Kants Bemühungen können dann gedeutet werden als Hypothesen, die die Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis erklären sollen. Die Erklärung erfolgt durch Rückgriff auf die Beschaffenheit der menschlichen Vernunft, des menschlichen Erkenntnisvermögens, nunmehr jedoch ohne Anspruch auf absolute Gewißheit.


Es ist zweckmäßig, wie Albert erläutert, in Kants transzendental­ idealistischer Konstruktion zwei Elemente zu unterscheiden: 1) die zentrale Bedeutung, die der Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens für die Erkenntnis zugeordnet wird, und 2) die Ansicht, Subjekte hätten unmittelbaren, Gewißheit verschaffenden Zugang zu dieser Struktur. 2) ist unhaltbar, 1) dagegen auch für den an einer realistischen Erklärung des Erkenntnisgeschehens Interessierten bedeutsam. Das ist ein wichtiger Punkt, denn hier werden nunmehr Befunde der Realwissenschaft für die Erkenntnistheorie relevant. Psychologie, Biologie - unter anderem - beschäftigen sich mit dem menschlichen Erkenntnisapparat, mit Wahrnehmungsvorgängen, Denken etc., die Evolutionsforschung untersucht die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Umwelt. Der Evolutionstheorie zufolge ist das menschliche Erkenntnis-vermögen im laufe der Evolution entstanden. Es hatte bestimmte, mehr Erkenntnisleistungen zu erbringen, um das überleben des jeweiligen Individuums zu ermöglichen - ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt für das Verständnis der Erkenntnisfähigkeit. Wie man sieht, sind Philosophie und Wissenschaft in diesem Bereich gar nicht scharf zu trennen, die Idee einer reinen Erkenntnislehre ist folglich nicht aufrechtzuerhalten. Erklärungen des Erkenntnisgeschehens können weder auf philosophisch, noch auf realwissenschaftliche Elemente verzichten.


Echtes Wissen im klassischen Sinne ist nicht erreichbar, so hatten wir erfahren. Statt dessen können wir mit Popper unsere Erkenntnisse als Vermutungen auffassen, die stets fehlbar und eventuell revisionsbedürftig sind. Die These von der Fehlbarkeit menschlicher Problemlösungsversuche- in allen­ Bereichen, nicht nur in den Wissenschaften - wird als Fallibilismus bezeichnet. Zur Beurteilung von Problemlösungsvorschlägen, von hypothetischen Einsichten, benötigen wir natürlich Maß­stäbe, die ihrerseits wiederum abhängig sind von den Zielen, die wir erreichen wollen. Dazu können zählen: Interesse an technischem Erfolg, an wirtschaftlichem Nutzen, an militärischer Überlegenheit, an moralischer Vervollkommnung, aber auch an der Erkenntnis wirklicher zusammenhänge. Zumindest als Teilmotiv dürfte in allen diesen Fällen das Interesse an der Wahrheit im realistischen Sinne eine Rolle gespielt haben, denn „ohne ein gewisses Maß an realistischer Einsicht ist ja eine erfolgreiche Praxis kaum möglich" (Albert). Allerdings ist mit Hindernissen zurechnen, die Erkenntnisbemühungen erschweren, mit Hindernissen, die aus der Beschaffenheit der mensch­lichen Erkenntnisapparatur, aus bestimmten Interessenlagen, unbrauchbaren Maßstäben und Methoden oder aus unrealistischen Zielsetzungen resultieren.



Zum Problem der Zielsetzung der Erkenntnis


Vom Standpunkt des Realismus aus ist Wahrheit das zentrale Ziel der Erkenntnistätigkeit. Wissenschaftler und Philosophen neigen allerdings zuweilen dazu, das Streben nach Wahrheit für naiv zu halten und zu behaupten, Theorien könnten vielleicht nützlich für bestimmte Zwecke, nicht aber wahr sein. Eine solche Ansicht kann als Antirealismus bezeichnet werden. Der Naivitätsvorwurf wird übrigens häufig unter Hinweis auf Kants Erkenntnisphilosophie erhoben, obwohl diese unhaltbar ist.


Der Realismus, der hier angegriffen wird, umfaßt zwei Kernthesen: 1) Es existiert eine subjektunabhängige Wirklich­keit. 2) Diese ist prinzipiell erkennbar. Weder der Realismus noch seine Gegenthesen sind absolut beweisbar oder widerlegbar. Sie sind metaphysische Hypothesen, die aber argumentativ durchleuchtet werden können.


Für den kritischen Realismus, um den es hier geht, ist die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung kennzeichnend. Die Realität wird nicht nach Art des naiven Realismus mit den wahrgenommenen Erscheinungen gleichgesetzt, das Denken erlaubt es vielmehr, hinter die Erfahrungen zurückzugehen und sie auf einer tieferen Ebene zu erklären.


Zu den antirealistischen Positionen zählt zum Beispiel der ldealismus Kants oder auch die weit radikalere Auffassung des Solipsismus. Diesem zufolge existiert keine materielle Realität die Gegebenheiten der Außenwelt - auch andere Personen: sind tatsächlich nur Bewußtseinsinhalte des erkennenden Subjekts. Diese absurd anmutende These wird erklärlich, wenn man bedenkt, daß sie vor dem Hintergrund des klassischen Gewißheitsideals aufgestellt wurde. Gewiß schienen bei einigem Nachdenken nur die eigenen Bewußtseinsinhalte zu sein. Die eigenständige Existenz einer Außenwelt blieb dann folgerichtig auf der Strecke.


Der Antirealismus dürfte weitgehend eine enttäuschte Reaktion auf die erfolgreiche Unterminierung der Vergewisserungs­ bestrebungen sein: Wenn nichts sicher gewußt werden kann kann gar nichts gewußt werden. Gibt man dagegen die - unerfullbare Forderung nach absoluter Begründung auf, kann der Glaube an den metaphysischen Realismus beibehalten werden, ohne daß dieser absolut begründet werden muß. Als Argument für den Realismus kann dann unter anderem geltend gemacht werden, daß dieser den Erfolg unserer Erkennt­nisbemühungen verständlich macht. Nach Alberts Ansicht ist Kants Philosophie der Ausgangspunkt für drei Distanzierungsversuche vom kritischen Realismus: 1) Die Entwertung der wissenschaftlichen Erkenntnis, da diese auf die Erscheinungen beschränkt sei und keine wahren Einsichten in die eigentliche Wirklichkeit, in das „Ding an sich" liefern könne. Hier könne nur die Metaphysik erfolgreich sein. 2) Die Entwertung der wissenschaftlichen Erkenntnis zugunsten der Alltagserfahrung, die allein einen zuverlässigen Zugang zur Wirkllchkeit gestatte. Tiefere Einsichten mittels der Wissenschaften werden hier als Illusion betrachtet. 3) Die Entwertung der wissenschaftlichen Erkenntnis durch Zurückweisung des ihr innewohnenden Realismus als metaphysische Fiktion. In allen drei Fällen werden wissenschaftliche Theorien auf „technisch brauchbare Konstruktionen ohne Erkenntniswert" (Albert) reduziert.


Was ist dazu zu sagen? Oswald Külpe hat Kants transzenden­talen Idealismus unter anderem unter Rückgriff auf eigene denkpsychologische Untersuchungen kritisiert. Die von Kant vorausgesetzte These, Denken könne nur Anschauliches erfassen (und bliebe damit auf die Welt der Erscheinungen beschränkt), hat sich dabei als unhaltbar herausgestellt. Überdies weist Külpe auf zwei Lücken in Kants Argumentation hin: Kant hat nicht gezeigt, daß dieVerstandesstrukturen, mit denen die Realität erfaßt wird, rein subjektiv sind und daß ihre Subjektivität eine entsprechende Beschaffenheit derWirklichkeit ausschließt. Külpes denkpsychologischer Einwand ist übrigens ein gutes Beispiel einer Korrektur erkenntnistheoretischer Ansichten durch Befunde der Realwissenschaften. Im Verlauf der Wahrnehmungsforschung, um ein weiteres Beispiel zu nennen, hat sich die Annahme als falsch herausgestellt, Wahrnehmung sei passives Registrieren des Gegebenen. Wahrnehmung wurde als aktiver Zeichendeutungsprozeß erkannt, der das Gegebene transzendiert, als Prozeß, in dem Theorien eine Rolle spielen, der auch keineswegs unfehlbar ist, unter Umständen aber korrigiert werden kann. Das bringt den radikalen Empirismus in Schwierigkeiten, der auf subjektive Wahrnehmungs­gewißheit als Wahrheitsindiz zurückgreift.


Zurück zu den drei Entwicklungen im Anschluß an Kant. Bezüglich 1) wäre zu fragen, inwiefern die Intuition, auf die die metaphysische Spekulation baut, Wahrheitsgarantien verschaffen kann. Der phänomenologische Ansatz 2) verzichtet auf das kritisch-konstruktive Potential der Wissenschaft, wie Albert sagt. Er ist ein Rückfall in den naiven Realismus. Die Alltagserfahrung, an die hier angeknüpft wird, ist selbst theoretischer Natur (s.o.: Wahrnehmung als Interpretation) und keineswegs zuverlässig. Sie wird immer wieder durch wissenschaftliche Ergebnisse korrigiert (und erklärt). 3) läuft auf den sogenannten Instrumentalismus hinaus. Theorien können diesem zufolge nützliche Instrumente für allerlei Zwecke sein, beispielsweise für Prognosen, sie können aber nicht wahr oder falsch sein. Allerdings ist es rätselhaft, wie zutreffende Prognosen möglich sein können, wenn die in den zur Debatte stehenden Theorien formulierten Gesetz­mäßigkeiten, auf denen jene Prognosen beruhen, angeblich keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Das ist nur einer der vielen Einwände gegen den Instrumentalismus. Der kritische Realismus dagegen kann das Funktionieren, die Anwend­barkeit von Theorien zwanglos erklären. Prognosen etwa sind einfach deshalb möglich, weil in den jeweiligen Theorien tatsächlich bestimmte Eigenschaften der Realität zumindest einigermaßen zutreffend erfaßt sind. Der kritische Realismus hat außerdem nicht mit problematischen Wahrheitsgarantien zu kämpfen und braucht nicht auf tiefere Erklärungen jenseits der Alltagserfahrung zu verzichten. Wie sich aus den kritischen Erwägungen insgesamt ergibt, dürfte er den geschilderten antirealistischen Strömungen vorzuziehen sein.


Albert streift in deisem Teil seines Vortrags noch kurz den sogenannten Essentialismus, den Versuch der unmittelbaren Einsicht in die letzten Gründe, das Wesen der Dinge. Albert hält die entsprechenden Unternehmungen für illusorisch. Der Essentialismus ist nur eine weitere Version des Gewißheits­strebens. In einem etwas anderen Sinne könnten Letzterklärungen möglich sein, dann nämlich, wenn die menschliche Erkenntnis bei den grundlegenden Strukturen unserer Realität angelangt ist.