autobahnuniversität / Hans Albert - Einführung in den Kritischen Rationalismus 7

Die Idee der rationalen Jurisprudenz und das Problem der sozialen Ordnung


Normen regulieren das soziale Leben. Für die Sozialwissen­schaften sind sie Tatsachen, deren soziale Verankerung und Verhaltenswirksamkeit ihnen Geltung verschafft. Sie dienen der Steuerung gesellschaftlicher Vorgänge und werden in sozialwissenschaftlichen Erklärungen solcher Vorgänge als Argumente im Entscheidungskalkül der jeweiligen Individuen behandelt. Damit haben wir die beiden wichtigsten Faktoren des naturalistischen Erkenntnisprogramms, wie es schon die schottische Moralphilosophie kennzeichnete, identifiziert: 1)einen methodischen Individualismus, der soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken von Individuen unter Berücksichtigung ihres Eigeninteresses erklären will und 2) einen theoretischen lnstitutionalismus, der historisch variablen institutionellen Bedingungen (z.B. Normen) Rechnung trägt, die Handlungen und damit soziale Prozesse kanalisieren können, indem sie als Teil der Anreizkonstellation im Entscheidungskalkül wirksam werden. Dieses grundsätzliche Erklärungsprogramm kann bei geeigneten Modifizierungen auf alle möglichen Bereiche der Sozialwissenschaft ausgedehnt werden. Wegen seines Erklärungspotentials ist es die geeignete Grundlage für gesellschaftliche Steuerungsprozesse. Zu solchen praktischen Zwecken werden sozialwissenschaftliche Befunde in sozialtechnologische Systeme transformiert. Aus diesen Befunden können Informationen darüber gewonnen werden, welche Mittel eingesetzt werden können oder müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen.Zu möglichen Mitteln für soziale Steuerungsprozesse zählen, wie gesagt, auch normative Regulierungen. Das Teilgebiet „Rechtsnormen" ist nun der Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft, der Jurisprudenz; dieser wird aber selten der Charakter einer sozialtechno­logischen Disziplin zugesprochen.


Die Jurisprudenz wird in der Regel überhaupt nicht als Wissenschaft im üblichen Sinne des Wortes betrachtet. Statt dessen wird sie, da ihre zentralen Aussagen normativer Natur seien, als normative Wissenschaft eingeschätzt, was gänzlich unvereinbar ist mit dem Weberschen Prinzip der Wertfreiheit, welches alle sonstigen Wissenschaften kennzeichnet.Wäre sie eine Wissenschaft herkömmlicher Art, könnten ihre zentralen Aussagen nicht normativ sein. Weil der Jurisprudenz als Wissenschaft die Kompetenz zur Rechtssetzung fehle - diese Kompetenz kommt nur den zuständigen Instanzen (etwa Gesetzgebungsgremien, Richtern) zu - könne sie lediglich die Aufgabe haben, geltende Normen zu eruieren und damit Hilfestellungen für die Rechtspraxis, für Entscheidungsfindungen zu geben. Da die betreffenden Normen in Form von Texten codiert sind, könne es der Jurisprudenz nur darum gehen, jene Texte zu identifizieren und zu interpretieren. Kurz: Die Jurisprudenz wäre demnach eine hermeneutische Wissenschaft, die sich mit der Ausdeutung von Gesetzestexten befaßt, welche Geltung, das heißt Autorität beanspruchen. Sie wäre also eine normative, hermeneutische und dogmatische Wissenschaft, die sich nur mit dem geschriebenen Wort beschäftigt, nicht aber mit der sozialen Realität. Dieses Bild der Jurisprudenz ist, wie Albert feststellt, überzeichnet. Bei der Lösung rechtlicher Probleme spielt die Berücksichtigung von Lebensbedürfnissen und Interessen durchaus eine Rolle. Insgesamt scheint jedoch eine Auffas­sung von Jurisprudenz als normativ-hermeneutische Disziplin vorzuherrschen. Die Berechtigung der Charakterisierung der Rechtswissenschaft als „normativ" im obigen Sinne kann allerdings in Frage gestellt werden. Zu unterscheiden sind hier die normativen Aussagen, wie sie in Rechtsnormen zum Ausdruck kommen, einerseits und die Aussagen über das Recht, wie sie von der Jurisprudenz formuliert werden, andererseits. Letztere brauchen selbstverständlich nicht normativ zu sein. überdies wäre zu berücksichtigen, daß eine
 recht verstandene Jurisprudenz teleologischen Gesichtspunkten Rechnung trägt, also Fragen nachgeht wie: Sind bestimmte Rechtsinterpretationen oder Rechtsneuerungen zweckdienlich für gegebene Ziele? Können sie die erwünschte Steuerungs­funktion erfüllen? 



Die realistisch-soziologische Richtung der Rechtsphilosophie betont diesen sozialtechnologischen Aspekt. Albert plädiert nun für eine „rationale Jurisprudenz", die den Charakter einer Technologie, einer Kunstlehre hat. ,,Sie hat effiziente Normen zu konstruieren, das heißt, Normen, deren Installierung nach unserem Wissen als wirksame Mittel im Sinne bestimmter hypothetisch vorausgesetzter Zwecke angesehen werden kann. Ein Teil dieser Aufgabe ist offenbar durch eine effiziente Interpretation der relevanten Texte des geltenden Rechts zu erreichen, die ebenfalls unter Zweckgesichtspunkten erfolgt." (Albert). Eine so verstandene Jurisprudenz beansprucht keine Kompetenz der Rechtsetzung, kann trotzdem produktiv sein, indem sie Vorschläge für normative Regulierungen erarbeitet, und kann dabei relevante psychologische und soziologische Faktoren einkalkulieren. Sie würde nicht normative Aussagen, sondern informative Hypothesen präsentieren wie etwa:,,Diese und diese Norm ist das geeignete Mittel für diese und diese Zwecke.“ Solche Hypothesen können wahr oder falsch sein und mit wissenschaftlichen Mitteln kritisch geprüft werden. Um derartige Hypothesen aufstellen zu können, bedarf es natürlich sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie sie im Rahmen des eingangs skizzierten individualistisch-institutionalistischen Erkenntnisprogramms erzielt zu werden pflegen. Eine so verstandene Sozialwissenschaft wäre also eine brauchbare Grundlage für eine rationale Jurisprudenz.


Soziale Steuerungsprozesse dienen dem Aufbau und Erhalt einer bestimmten sozialen Ordnung. Wie eine adäquate soziale Ordnung auszusehen hat, ist in modernen Gesellschaften eine Frage des praktischen Kompromisses. Dabei ist zum einen die Frage zu klären, an welchen Wertgesichtspunkten überhaupt die angestrebte Ordnung zu orientieren ist, zum anderen wie diese Wertgesichtspunkte zu akzentuieren sind. Für Thomas Hobbes zum Beispiel stand im Zentrum seiner Lösung des Ordnungsproblems die Antwort auf die Frage nach der Sicherung des sozialen Friedens. Seiner Ansicht nach richten Individuen ihr Handeln an ihrem Selbstinteresse aus, sehen sich dabei aber im allgemeinen mit der Knappheit von Gütern konfrontiert. Das führt zu Konkurrenz und Konflikt. Um in dieser Situation den Frieden zu sichern, so argumentierte Hobbes, müsse ein funktionierendes Gewaltmonopol etabliert werden. Die Sicherung des Friedens ist also eine regulative Idee, eine Wertung, auf die Hobbes seine sozialtechnologischen Vorschläge (Errichtung eines Gewaltmonopols) ausrichtete. Andere regulative Ideen können sein: Sicherung des Wohlstands, der Freiheit (Selbstbestimmung, Herrschafts­beteiligung), der Gerechtigkeit und so weiter.


Um Mittel für die Realisierung solcher Wertgesichtspunkte eruieren zu können, müssen diese in Leistungsmerkmale umgeformt werden. Es muß also beispielsweise festgelegt werden, welche Merkmale eine Ordnung aufweisen muß, damit ihr das Prädikat „gerecht" verliehen werden kann. Ein besonderes Problem stellt hier die Tatsache dar, daß Leistungsmerkmale oftmals in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen (etwa: Freiheit versus innere Sicherheit), so daß über ihre Gewichtung diskutiert und entschieden werden muß. Erst dann könnenVorschläge für erforderliche normative Regulierungen und institutionelleVorkehrungen ausgearbeitet werden, die realisiert sein müssen, um die angestrebten Leistungsmerkmale zu verwirklichen. Die diesbezüglichen Aussagen sind Sachaussagen, keine Werturteile. Zwar spielen normative Aussagen hier eine Rolle, aber lediglich als Gegenstände, über die gesprochen wird (etwa: Diese oder jene Norm ist zweckdienlich/nichtzweckdienlich hinsichtlich des Ziels Z). Insgesamt kann festgehalten werden, daß Rechts- und Sozialwissenschaft darüber informieren, was getan werden kann und wie es getan werden kann. Das hat Bedeutung für die Frage, was getan werden soll - Sollen impliziert ja bekanntlich Können - nimmt uns aber unsere Entscheidungen letztlich nicht ab.


 


Hans Alberts Vorlesung über den kritischen Rationalismus dürfte also deutlich gemacht haben, daß es sich hier um mehr als eine erkenntnistheoretische Konzeption handelt. Indem der kritische Rationalismus den prinzipiell hypothetischen Charakter unserer Erkenntnisse und Problemlösungen betont, macht er auf die Notwendigkeit der kritischen Diskussion in allen Bereichen des menschlichen Problemlösungsverhaltens aufmerksam. Mit dogmatischen Wahrheitsansprüchen, sei es in der Wissenschaft, in der Politik, im Recht oder wo auch immer, ist das unvereinbar.