autobahnuniversität / Hans Albert - Einführung in den Kritischen Rationalismus 6

Erkenntnis, Kultur und Gesellschaft


Wissenschaftliches Wissen beeinflußt in hohem Maße unseren Lebensstil und unsere Weltauffassung. Es ist die „dominierende Wissensform“ (Albert) in modernen Gesellschaften. Diese Wissensform ist aber nur eine von mehreren, sie wurde und wird nicht immer besonders geschätzt. Max Seheier zum Beispiel unterschied drei Formen des Wissens: das Heils- oder Erlösungswissen, das Bildungswissen und das Herrschafts- oder Leistungswissen. Die Reihenfolge repräsentiert die Rangfolge, wissenschaftliches Wissen zählt zur niedrigsten Kategorie, nach Seheier zielt es ausschließlich auf die Beherrschung der äußeren Natur ab. Das Streben nach reinem Wissen ohne praktische Zwecksetzungen war bei Seheier an keiner Stelle vorgesehen. Jürgen Habermas und Karl Otto Apel knüpften in den sechziger Jahren an diese Lehre an, ihre Hierarchie der Wissensformen sah folgendermaßen aus: Unterste Stufe - die empirisch analytischen Wissenschaften, das Herrschaftswissen. Zweite Stufe - die historisch-hermeneutischen Wissenschaften, das Verständigungswissen; oberste Stufe - kritisch orientiertes Wissen, kritische Theorie, das emanzipatorische Wissen. Auch hier wird die Idee des reinen Interesses an Erkenntnis zurückgewiesen, die Wissensformen werden zu Technologien: zur Technologie der Herrschaft, der Verständigung und der Emanzipation. Wie bereits bei Max Seheier wurde auch in diesem Konzept die Naturwissenschaft einer problematischen instrumentalistischen Deutung unterzogen. Sie konnte zwar ein brauchbares Werkzeug zur Beherrschung der Natur sein, ihre Theorien konnten jedoch nicht den geringsten Anspruch auf Wahrheit erheben.


Die Leistungsfähigkeit der (Natur-)Wissenschaften dürfte jedoch kaum darin begründet sein, daß sie nach Herrschaft streben. Sie verdankt sich vielmehr der Tatsache der Konzentration auf ein zentrales Interesse: das Interesse an Erkenntnis. In erster Linie ist Wissenschaft ein Erkenntnisunternehmen. Ihre Einsichten sind natürlich praktisch verwertbar, was wie gesagt am einfachsten dadurch erklärt werden kann, daß ihnen zumindest ein gewisser Gehalt an zutreffender Darstellung zugebilligt wird. Unterstellt man Erkenntnisinteresse und Wahrheitsgehalt, wird auch klar, warum wissenschaftliche Befunde die Inhalte anderer Wissensformen (Religion, Politik z.B.) in Frage stellen können. Das Streben nach Wahrheit verdrängt dann das Streben nach Absicherung überkommener Wissensbestände.


Diesen Punkt vertiefend, kommt Albert nochmals auf die Unterscheidung von primärer und sekundärer Theoriebildung (Horton) zurück. Die primären Theorien (Alltagstheorien) dürften auf genetisch verankerten Kategorien beruhen, Kategorien der räumlichen und zeitlichen Anschauung, der Kausalität usw., die im Evolutionsprozeß entstanden sind und sich im Überlebenskampf bewährt haben. Diese Theorien sind interkulturell weitgehend gleichartig. Sekundäre Theorien dagegen sind interkulturell verschieden, obwohl auch hier Gemeinsamkeiten nachzuweisen sind. Alle sekundären Theorien können zunächst alsVersuche der tiefergreifenden Erklärung des der alltäglichen Erfahrung Zugänglichen betrachtet werden. Sie bedienen sich dazu verborgener Entitäten, allerdings Entitäten von ganz unterschiedlicher Art. Während die Wissenschaften mit unpersönlichen Faktoren operieren, spielen in der spiritualistischenVersion sekundärer Theoriebildung göttliche und ähnliche Wesenheiten eine zentrale Rolle. Dabei ist zu beachten, daß auch die vermuteten spirituellen Kräfte für pragmatische Zwecke der Kontrolle gegenwärtiger und zukünftiger Daseinsumstände herangezogen werden. Gebete etwa können als Versuche gewertet werden, göttliche Mächte zur Verwirklichung bestimmter gewünschter Ziele zu bewegen.


Anders als der wissenschaftlichen Weltauffassung ist der spirituellen stets die Auffassung einer sinnhaften Wirklichkeit inhärent. Sie bietet eine kognitive Weltorientierung, in der der Mensch Teil eines übergreifenden, göttlich bewirkten Sinnzusammenhangs ist. Dies erlaubt einerseits, die Welt als wirkliche Heimat zu betrachten, andererseits eine bestehende Ordnung zu legitimieren, falls plausibel gemacht werden kann, daß diese Ordnung sich in den erwähnten Sinnzusammenhang einfügt.


De facto scheint mit der spiritualistischen und mit der wissenschaftlichen Weltorientierung jeweils eine eigene Weise der Theoriebildung verbunden zu sein. Während erstere (die traditionalistische) auf die Tradition setzt und keine grundlegenden Neuerungen zuläßt, baut letztere (die progressivistische) auf Kritik und auf die Entwicklung theoretischer Alternativen, die durchaus revolutionären Charakter haben können. Erkenntnisfortschritte können hier also einen einmal vorgegebenen Rahmen sprengen. Im Fall der traditionalistischen Variante ist eine Art von „natürlicher Kritikimmunität" (Albert) gegeben, die sich der konsensualen Auffassung verdankt, Tradition sei die allein maßgebliche Instanz. In Schwierigkeiten können solche Gedankengebäude dann geraten, wenn sie mit anderen Anschauungen konfrontiert werden, in denen jener Maßstab abgelehnt wird. So hat sich etwa innerhalb des vom christlichen Glauben geprägten westeuropäischen Bereichs die moderne Wissenschaft entwickelt, die die traditionellen Inhalte weitgehend in die Defensive gedrängt hat. Die protektionistischen Bemühungen zur Rettung der christlichen Lehre sind bekannt. Der Erfolg der Wissenschaften beruht aber nun gerade darauf, daß sie sich von erkenntnisfremden Interessen - wozu neben der Beherrschung der Natur auch die Verpflichtung auf eine Tradition zählt - emanzipiert hat. Das reine Erkenntnisinteresse hatte sich durchgesetzt - eine Tatsache, die von den oben erwähnten Denkern wie Habermas etc. ignoriert wird.


Kritik und Konkurrenz kennzeichnen jedoch nicht nur die Wissenschaften. Die Besonderheit der europäischen Kultur besteht neben ihrer wissenschaftlichen Orientierung vor allem in der „Zähmung der Herrschaft" (Albert) und einem hohen Maß an Freiheit der Individuen. Dies ist, wie Albert sagt, auf die ,,Institutionalisierung von Konkurrenz und Kritik" auch in Bereichen wie Politik, Wirtschaft und so fort zurückzuführen, das heißt auf die „institutionelle Absicherung einer bestimmten Methode des Problemlösungsverhaltens", die auf schöpferische Phantasie und kritische Prüfung setzt.


Diese Methode ist natürlich nicht auf allen Gebieten gleichermaßen verwirklicht. Die Naturwissenschaften, in denen sich rein kognitive Kriterien für die Beurteilung von Problemlösungen etabliert haben, dürften hier Vorteile zu verbuchen haben. Bereits in den Sozialwissenschaften spielen erkenntnisfremde Gesichtspunkte moralischer, ästhetischer oder emotionaler Art für die Akzeptanz von Erkenntnissen eine gewisse Rolle. Max Webers Prinzip der Wertfreiheit sollte dem entgegen wirken und auch in diesen Wissenschaften den rein kognitiven Interessen mehr Raum verschaffen. Werturteile spielen, wie in einer früheren Passage erläutert, eine wichtige Rolle in den Wissenschaften – etwa was die Frage der Bewertung von Theorien betrifft. Liegen konkurrierende Theorien zu einem Problembereich vor, so müssen drei Fragen beantwortet werden, will man eine Entscheidung darüber herbeiführen, welche der Alternativen vorzuziehen ist. Frage 1: Welchem Zweck soll die Theorie dienen? Frage 2: Welchen Anforderungen muß sie dazu genügen? Frage 3: Welche Theorie erfüllt die Anforderungen am besten? Dazu ein Beispiel: In Kapitel VI hatten wir die Suche nach Theorien von hoher Erklärungskraft als Ziel der wissenschaftlichen Betätigung ausgemacht. Hohe Erklärungskraft bedeutete dabei: große Allgemeinheit, hohe Genauigkeit, große Tiefe einer Theorie. Als normative Forderung formuliert: „Suche stets nach möglichst erklärungskräftigen, das heißt möglichst allgemeinen, genauen und tiefen Theorien!“ Die drei letztgenannten Merkmale müßte eine Antwort auf Frage 2 nennen – bei gegebenem Ziel der genannten Art. Eine Antwort auf Frage 3 müßte für verschiedene Alternativtheorien das Ausmaß des Vorliegens dieser Merkmale angeben. Daraus ließe sich dann eine Rangfolge der diskutierten Theorien hinsichtlich ihrer Erklärungskraft konstruieren.


Wie man sieht, sind die Fragen 2 und 3 reine Sachfragen, die Antworten auf diese Fragen sind Sachaussagen. Eine normative Forderung läßt sich also teilweise, so weit es um die zielbedingten Anforderungen geht, auf Sachaussagen reduzieren. Insofern kann sie wahr oder falsch sein, nicht jedoch bezüglich ihres spezifischen Wertcharakters. Dennoch ist sie auch in dieser Hinsicht rational diskutierbar: ,,Man kann über die Berechtigung von Forderungen ebenso diskutieren, wie über die von Behauptungen. In beiden Fällen gibt es keine absoluten Begründungen. Aber es gibt Möglichkeiten kritischer Unter­suchungen, die einer Entscheidung für oder gegen bestimmte Lösungen der betreffenden Probleme dienlich sein können." (Albert).


Wissenschaftliches Wissen ist die dominierende Wissensform in modernen Gesellschaften, hatte es geheißen. Wie steht es nun um den Wert dieser Wissensform, um den Wert der Wissenschaft? Ihre Resultate sind bekanntlich höchst unterschiedlich verwertbar. Der technische Fortschritt, der durch sie ermöglicht wird, erleichtert einerseits die Lösung unserer Lebensprobleme, trägt andererseits jedoch zur Schaffung neuer, zum Teil schwerwiegender Probleme bei. Man wird denWissenschaften allerdings nicht gerecht, versucht man sie lediglich aufgrund ihrer lebenspraktischen Bedeutung einzuschätzen. Hinter den Wissenschaften steht ein unmittel­bares Erkenntnisinteresse, das nicht nur den Spezialisten, sondern häufig auch den Laien attestiert werden kann. In ihm kommt der Wunsch nach einer realitätsgerechten Weitsicht zum Ausdruck, der Wunsch nach Aufklärung. Doch nicht immer wird dies für ein wertvolles Ziel gehalten. Wie schon gesagt, unterminiert Aufklärung den Glauben an einen sinnhaften, von Gott gestifteten Kosmos und kann die Legitimations­grundlage etwa einer angeblich gottgegebenen Ordnung in Frage stellen. Das wird zuweilen nicht gern gesehen. Es sind dann Versuche zu beobachten, Wissenschaft instrumentalistisch umzudeuten, ihr so jeglichen Wahrheitsgehalt abzusprechen und sie damit für die Beurteilung metaphysischer Vorstellungen zu entwerten. Überhaupt kann im religiösen oder auch im politischen Bereich die Bagatellisierung der Ergebnisse einer unvoreingenommenen Wahrheitssuche gemäß den Prinzipien von Konkurrenz und Kritik höchst zweckdienlich sein. Mitunter wird auch versucht, den Stellenwert der Wissenschaften dadurch zu relativieren, daß man sie zu einem Glaubenssystem unter anderen erklärt. Sie habe sich ein Deutungsmonopol verschafft und andere Wissensformen unberechtigterweise verdrängt - unberech­tigterweise deshalb, weil diese anderen Wissensformen den gleichen Geltungsanspruch erheben können, wie die Wissen­schaften.


Hier wird allerdings die Tatsache übergangen, daß Wissenschaft kein exklusives System ist; in ihr werden zunächst alle Theorien zugelassen, die möglicherweise einen Beitrag zur Erklärung irgendwelcher Phänomene leisten können. Die Theorien müssen dann allerdings ein strenges Prüfverfahren überstehen, das wiederum durch Konkurrenz und Kritik geprägt ist. In der progressivistischen Form der sekundären Theoriebildung wird also der Frage nach der komparativen kognitiven Leistungs­fähigkeit von Theorien nachgegangen, ein Vorgang, der in traditionsorientierten Systemen keinen Platz hat (vgl. oben in diesem Kapitel). Ein Theorienwettbewerb wie in den Wissen­schaften ist hier nicht vorgesehen, alternative Erklärungsansätze haben also von vornherein keine Chance. Die kognitive Gleichrangigkeit dieser Unternehmungen mit den Wissen­schaften und ihren zum Teil hochbewährten Theorien dürfte zweifelhaft sein.


Für die Sicherung des Erkenntnisfortschritts ergibt sich daraus folgende Konsequenz: Es müssen politische Maßnahmen ergriffen werden, die die progressivistische Variante der Theoriebildung stützen. Für die Staatsgewalt empfiehlt sich das schon deshalb, ,,weiI ohne die Resultate und Methoden der modernen Wissenschaft die heutige Zivilisation nicht aufrechtzuerhalten wäre" (Albert). Dazu bedarf es natürlich der Kenntnisse über die entsprechenden ordnungspolitischen Regelungen. Dabei gilt es, den Kurzschluß zu vermeiden, Wissenschaft im Sinne von identifizierten gesellschaftlichen Bedürfnissen einer Globalsteuerung zu unterwerfen, sie also auf bestimmte Problemstellungen oder -lösungen zu verpflichten.Wissenschaftshistorische Untersuchungen zeigen die in der Tat außerordentliche Fruchtbarkeit freier, nicht praxisgebundener Theoriebildung für die Lösung praktischer Probleme. Versuche, die Praxisrelevanz von theoretischen Ansätzen im vorhinein zu bestimmen, also etwa zu behaupten, dieser oder jener Ansatz habe keinerlei praktische Bedeutung, scheitern schon an der Tatsache der unendlichen Folgerungs­menge solcher Ansätze.


Die sozialen Auswirkungen neuer theoretischer Ansätze hängen davon ab, ob und gegebenenfalls in welcher Form sie in die Praxis umgesetzt werden. Das wiederum hängt mit Werthal­tungen, Entscheidungen und Handlungsmöglichkeiten der involvierten Individuen und gesellschaftlichen Kräfte zusammen.Was den einen als wünschenswert erscheint, kann für andere gänzlich inakzeptabel sein. Hier spielen demnach gesellschaftliche Macht- und Interessenkonstellationen eine wichtige Rolle, nicht aber die politische Gesamtplanung von Wissenschaft. Eine solche Planung, etwa im Interesse eines wie auch immer gearteten Gemeinwohls, würde außerdem „bei den Trägern der politischen Willensbildung weiterreichende Kenntnisse voraussetzen, als sie innerhalb des Bereichs der wissenschaftlichen Forschung vorhanden sind" (Albert). Sie müßten beispielsweise die zukünftigen Entwicklungen bestimmter Bereiche der Wissenschaften vorhersehen können, müßten wissen, welche der theoretischen Ansätze erfolgver­sprechend in ihrem Sinne sind und so fort. Kurz: Sie müßten Kompetenzen für sich in Anspruch nehmen, die mit der fallibilistischen Auffassung von der Fehlbarkeit des Menschen nicht vereinbar sind.


Statt unrealistische Globalsteuerungspläne benötigt die Wissenschaft die institutionelle Absicherung einer effektiven Selbststeuerung. Albert nennt folgende Rahmenbedingungen, die von Seiten der Politik zu gewährleisten sind: Freiheit der Forschung, Verbreitung ihrer Resultate, Schutz gegen Störung durch Inkompetente, Schutz vor politischem Druck, Entlastung der Forschenden von administrativenAufgaben, die Möglichkeit der Rekrutierung unter Leistungsgesichtspunkten, die Bereitstellung von Mitteln. Letzteres dürfte am besten funktio­nieren, wenn über die Mittel weder Politiker noch Wissen­schaftler allein, sondern beide gemeinsam entscheiden. Auch für die praxisbezogene technologische Forschung ist die Zusammenarbeit kompetenter Fachkräfte aus beiden Lagern angezeigt. Hier kann die Politik schon durch die Mittelvergabe Forschungsschwerpunkte setzen, wie es etwa im Bereich der Raumfahrt geschieht.


Planung ist also nötig, aber nicht Gesamtplanung. Diese würde eine freie Forschung behindern und folglich dem Ziel des Erkenntnisfortschritts nur hinderlich sein. Die Verpflichtung auf die Wahrheit, die das freie Erkenntnisstreben prägt, birgt allerdings ein kritisches Potential, welches überkommene Inhalte politischer, religiöser oder sonstiger Art in Schwierig­keiten bringen kann. Es ist der für die Suche nach Wahrheit unerläßliche methodische Kritizismus, der es gestattet, Macht­ und Erkenntnisansprüche systematisch zu hinterfragen. Damit ist es kaum möglich, wie Albert sagt, ,,seine Wirksamkeit auf die Dauer einzuschränken, wenn man gleichzeitig eine Verfassung der Freiheit zu behalten wünscht". Wie daraus auch ersichtlich wird, haben erkenntnistheoretische Überle­gungen einige Bedeutung für Probleme der Sozialphilosophie und der Politik.