autobahnuniversität / Hans Albert - Einführung in den Kritischen Rationalismus 5

Geschichte und Gesetz: Zum Problem der Erkenntnis des historischen und sozialen Geschehens


Wer Geschichte als wissenschaftliche Disziplin betreibt, sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob Wissenschaften, die sich mit menschlichen Kulturleistungen und gesellschaftlichen zusammenhängen beschäftigen, einer grundsätzlich anderen Methode bedürfen als die Naturwissenschaften. Die schottischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts orientierten sich am naturwissenschaftlichen Denkstil und suchten nach theoretischen Erklärungen sozialer (insbesondere wirtschaftlicher)Vorgänge gemäß demVorbild der Physik. Ihr prinzipielles Erklärungsprogramm beinhaltete sowohl allgemeine Gesetzmäßigkeiten als auch Spezifizierungen der Anwendungsbedingungen, wie das im obigen Abschnitt über die logische Form von Erklärungen erläutert wurde; dieses naturalistische Programm ist im gesamten Bereich der Humanwissenschaften, also auch in der Historik, mit durch­ schlagendem Erfolg angewendet worden.


Demgegenüber betont der sogenannte Historismus die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit geschichtlicher Ereignisse und schließt daraus, die Annahme allgemeiner Gesetzmäßig­keiten in diesem Bereich könne den Zugang zu solchen Ereignissen nur verbauen. Grundsätzlich geht es in diesem antinaturalistischen Erkenntnisprogramm darum, die Welt des Menschen gegenüber der Welt der Natur abzugrenzen und für erstere eine eigenständige Methodologie zu entwickeln. In der Geschichte bestimme das Wirken der Willenskräfte das Geschehen, nicht die Mechanik der Atome, meinte beispielsweise der Historiker Johann Gustav Droysen. Als Ausdruck des menschlichen Geistes könne Geschichte zwar verstanden, nicht aber nach naturwissenschaftlicher Manier erklärt werden. Dabei setzte Droysen das historische Verstehen mit dem Verstehen sprachlicher Äußerungen gleich: ,,Unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, daß wir die Erinnerungen und Überlieferungen, die Überreste und Monumente einer Vergangenheit so verstehen, wie der Hörende den Sprechenden versteht, daß wir aus jenen uns vorliegenden Materialien forschend zu erkennen suchen, was die so Formenden, Handelnden, Arbeitenden wollten, was ihr Ich bewegte, das sie in solchen Ausdrücken und Andrücken ihres Seins aussprechen wollten." (Droysen S. 26).


Hier scheint es also darum zu gehen, a) denSinn von Äußerungen irgendwelcher Art zu erfassen und b) die Motive, die jeweils dahinter stehen, zu deuten. Um das Sinnverstehen bemüht sich die sogenannte ältere Hermeneutik, die Kunstlehre von der Auslegung von Texten beziehungsweise von sprachlichen Äußerungen überhaupt. Als spezifische Methode, die - wie vom Historismus gewünscht - ohne allgemeine Gesetz­mäßigkeiten auskommt, ist sie jedoch nicht rekonstruierbar. Will ein Historiker einen historischen Text verstehen, muß er annehmen, daß sein Textverständnis zumindest prinzipiell mit dem des Textproduzenten zusammenfallen kann, er muß also von der „Universalität des menschlichen Verstehens" (Albert) ausgehen. Universalität bedeutet aber die Existenz von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten.


Nun zu Punkt b).Wer nach Motiven forscht, sucht nach Ursachen von Handlungen. Damit verschwindet aber der Gegensatz zwischen der verstehenden Methode und der kausalen Herangehensweise, wie sie in der Suche nach Erklärungen auf nomologischer Grundlage zum Ausdruck kommt. Für Handlungserklärungen sind theoretische Erkenntnisse der Psychologie von Bedeutung, und diese theoretischen Erkenntnisse haben, wie diejenigen anderer Wissenschaften auch, den Charakter von Gesetzen. Somit ergibt sich auch hier die Unhaltbarkeit des Historismus. Auf allgemeine Gesetze in der Geschichtswissenschaft verzichten zu wollen, scheint kein gangbarer Weg zu sein.


Ein weiteres Problem für den Historismus resultiert aus der Frage, wie eine Rekonstruktion der Vergangenheit anhand von Quellen eigentlich möglich sein soll. Da induktive Schlüsse nicht in Frage kommen (vgl. Kap. I), kann die Rekonstruktion nur so funktionieren: Es werden solche Theorien über Vergangenes konstruiert, aus denen sich die heute vorgefun­dene Quellenlage als Folgerung ergibt. In diesen theoretischen Erklärungen des verfügbaren historischen Tatsachenmaterials spielen Gesetzmäßigkeiten aller Art eine Rolle Gesetzmäßigkeiten, die beispielsweise die Motive bestimmter Handlungen resultiert, oder die physikalische Vorgänge betreffen, die erklären, warum diese Quellen überhaupt noch vorzufinden sind, usw. Analog zu den empirischen Befunden der Naturwissenschaften ist das Quellenmaterial einerseits ein Problem, das zur Theoriebildung herausfordert, andererseits der Prüfstein für die Tauglichkeit der Rekonstruktionen der Vergangenheit. Neue oder zuvor nicht berücksichtigte Daten können ja diese in Schwierigkeiten bringen, unter Umständen Revisionen nahelegen etc. Ein prinzipieller Unterschied zur naturwissenschaftlichen Methode ist nicht zu sehen.


Neben der bloßen Rekonstruktion des historischen Geschehens dürfte auch die Erklärung des inneren Kausalzusammenhangs dieses Geschehens kaum ohne die Annahme bestimmter Gesetzmäßigkeiten möglich sein. Insbesondere das nomolo­gische Wissen der Psychologie ist dabei von Interesse, wenn auch die jeweils relevanten psychologischen Annahmen (etwa über Kosten-Nutzen-Analysen der Akteure) häufig so trivial zu sein scheinen, daß sie nur schwer zu entdecken sind oder für nicht erwähnenswert gehalten werden. Beides fördert die Tendenz zu einer rein erzählenden Geschichtsschreibung (Narrativismus). Diese Art der Historiographie mag mitunter die geeignete Darstellungsform sein, sie verschleiert aber den nomologisch-theoretischen Unterbau der Geschichtsfor­schung. Albert nennt - nach einem Exkurs über das Problem der Existenz spezieller historischer Gesetze wie dem Marx­ sehen Bewegungsgesetz der Gesellschaft - eine Untersuchung des Wirtschaftshistorikers Jakob Strieder, die die tatsächliche Vorgehensweise der Geschichtswissenschaft besonders deutlich macht. Strieder unterzog Werner Sombarts Theorie uber die Entstehung des modernen Kapitalismus einer kritischen Prüfung. Dazu griff er zum einen auf bestimmte Quellen zurück (Steuerbücher aus den Jahren 1396-1540 u.a.), zum anderen auf bestimmte psychologische Thesen. Sombarts Auffassung hielt dieser Kritik nicht stand und mußte schließlich einer angemesseneren theoretischen Alternative weichen.


Mit reinem Narrativismus hat dieserVorgang nichts zu tun, er ist vielmehr Ausdruck der kritisch-konstruktiven Methode aller Wissenschaften. Die Historisten konnten diese Übereinstim­mung in den Methoden nicht bemerken. Sie schlossen, wie Georg lggers konstatiert, dogmatisch die Möglichkeit einer allgemeinen Menschennatur, die rationaler Erfahrung zugänglich ist, aus, indem sie darauf bestanden, Geschichte sei „das Reich des Einmaligen". Wer aber an Erklärungen geschichtlicher Ereignisse interessiert ist, kommt an dieser allgemeinen Menschennatur und damit an bestimmten Gesetzmäßigkeiten nicht vorbei. Da das naturalistische Erklärungsprogramm dies berücksichtigt, ist es dem Historismus vorzuziehen.


Bezüglich der theoretischen Erklärung gesellschaftlicher (also auch geschichtlicher) Vorgänge lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: 1) individualistisch und 2) kollektivistisch orientierte Programme. Zunächst zu 1): Zu dieser Richtung zählen Theoretiker wie Thomas Hobbes, David Hume, Adam Smith, Georg Simmel oder Max Weber. Hier wird versucht, gesellschaftliche Phänomene auf der Basis individueller Verhaltensweisen plus deren Zusammenwirken zu erklären. Die Existenz kollektiver Phänomene aller Art wird anerkannt, also die Existenz von Gemeinwesen wie Staaten, Gemeinden, Gruppen, Unternehmen, Märkten und so fort, von sozialen Prozessen beziehungsweise Ereignissen wie Revolutionen, Konjunkturen, Wanderungsbewegungen, Differenzierungs­prozessen etc., von sozialstrukturellen Tatbeständen wie soziale Schichtung, Ordnung, Einkommensverteilung und so weiter. In der Erklärung solcher Erscheinungen spielen zunächst sowohl individuelle als auch soziale Faktoren eine Rolle. David Humes Erklärung der Stabilität eines sozialen Systems zum Beispiel nennt als ein wesentliches individuelles Element das wohlverstandene Selbstinteresse (mit dem Wunsch nach Kooperation) der Beteiligten. Auf dieser Grundlage können allgemein akzeptierte Regelungen (Gesetze) etabliert werden, deren Einhaltung zum Teil freiwillig ist, zum Teil durch Sanktionen gefördert wird - durch ein System gegenseitiger Belohnung und Bestrafung. Das Prinzip der Reziprozität besagt, wie Albert darlegt, ."daß die Steuerung des Verhaltens der Individuen, die zu einem sozialen System gehören, weitgehend auf der Tatsache beruht, daß Verhaltensweisen mit negativen Konsequenzen für andere von diesen bestraft werden und solche mit positiven Konsequenzen von ihnen belohnt werden". Dabei ist es möglich, die Durchführung von Sanktionen an eine mit entsprechenden Machtmitteln ausgestattete Gewalt zu delegieren.


Für ein gesellschaftliches Phänomen wie den sozialen Frieden könnte eine grobe Teilerklärung also so aussehen: Individuen handeln im wohlverstandenen Selbstinteresse (der individuelle Faktor). Daher versuchen sie, Bestrafungen zu vermeiden und in ihren Handlungen den vorhandenen Gesetzen und dem hinter diesen stehenden Machtapparat (die sozialen Faktoren) Rechnung zu tragen. Diese sozialen Faktoren wiederum sind ebenfalls auf individualistischer Basis erklärbar, wenn das gewünscht wird oder notwendig erscheint.


Häufig ist es jedoch nicht nötig, alle sozialen Phänomene, die in soziologischen Erklärungen eine Rolle spielen, in ihre Komponenten zu zerlegen. Es kann zum Beispiel genügen, zur Erklärung des internationalen Kräftespiels Staaten als kollektive Akteure zu behandeln. Die Vorgehensweise hängt hier von den zur Diskussion stehenden Problemen ab. Ein zweiter beachtlicher Punkt: Aus dem Zusammenspiel individueller Handlungen können soziale Erscheinungen resultieren die weder beabsichtigt noch auch nur zu erwarten sind. Albert nennt als Beispiele unter anderem: die soziale Schichtung, die Einkommens- und Vermögensverteilung in einer Gesellschaft, die Veränderung des Legitimitätsglaubens, der eine soziale Ordnung stütz.


Das ausgefeilteste individualistische Erklärungsprogramm bietet die Ökonomie, insbesondere die Neoklassik. Der ökonomische Ansatz, wonach Individuen als rationale Akteure betrachtet werden, die vor dem Hintergrund bestimmter Werthaltungen Kosten-Nutzen-Analysen ihrer Handlungen vollziehen, dürfte bei entsprechenden Modifikationen auch für andere Sozialwissenschaften erfolgversprechend sein.


Zur kollektivistischen Tradition in den Sozialwissenschaften zählen Theoretiker wie Henri de SaintSimon, Auguste Comte (ihm verdankt die Soziologie ihren Namen), Emile Durkheim, Talcott Parsons oder Niklas Luhmann. Die „Schlüsselfigur" (Albert) hier ist Emile Durkheim, der die individualistische Herangehensweise für untauglich zur Lösung soziologischer Erklärungsprobleme hielt. Seiner Ansicht nach ist das Soziale eine Realität eigener Art. Individuen finden soziale Tatsachen - insbesondere Normen - als äußere Gegebenheiten vor. Diese Tatsachen, diese Normen gehören zur sozialen Organisation und lassen sich nicht auf individuelle Dispositionen zurück­fuhren. Durkheims berühmte Selbstmordstudie begründete den funktionalistischen Zweig der Soziologie. Moderne Systemtheoretiker knüpfen an seinen Gedanken einer Suigeneris-Realität namens Gesellschaft an, bei näherer Analyse erweisen sich ihre Erklärungsversuche aber als individualistisch (etwa bei Parsons), im Falle Luhmans scheint die Suche nach Erklärungen überhaupt obsolet geworden zu sein. Der Neomarxismus der Frankfurter Schule distanziert sich vom Systemfunktionalismus und reklamiert für sich eine dialektische Totalitätsbetrachtung, in der ein anderes Wissenschafts­verständnis als das traditionelle zum Zuge kommt. Demnach müsse die Wissenschaft verstärkt dem emanzipatorischen Interesse der Menschen Rechnung tragen, sie müsse kritisch orientiert sein (dazu später mehr).


Welches Erklärungsprogramm- das individualistische oder das kollektivistische - ist vielversprechender? Wenn man bedenkt, daß die kollektivistischen Unternehmungen dann, wenn sie tatsächlich Erklärungen anbieten, individualistisch argumen­tieren, und wenn man weiterhin bedenkt, daß die individualistischen Versionen ihrerseits keine prinzipiellen Schwierigkeiten mit der Erklärung kollektiver Phänomene (etwa von Normen) haben, dürfte es auf der Hand liegen, welches Erklärungsprogramm vorzugswürdig ist. Die individualistische Tradition berücksichtigt überdies die Bedeutung normativer Regelungen und institutioneller Rahmenbedingungen für das individuelle Verhalten und vernachlässigt auch nicht die unbeabsichtigten (sozialen) Nebenfolgen von Handlungen.