Systemische Aspekte des Fußballs - Helmut Willke

„Die Welt ist alles, was der Ball ist." So – in Abwandlung des berühmten ersten Satzes im Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein – Karl Ludwig Holtz, einer der Autoren in dem einzigartigen Buch Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs. In der Holtz´schen Form könnte diesen Satz durchaus Sepp Herberger gesagt haben! So nahe können sich also über die Vermittlung von Sprachkünstlern wie Holtz große Sprach-Philosophen wie Ludwig Wittgenstein und Sepp Herberger kommen.


Die zentrale Frage ist: Wer hat den Ball? Dass mehr Ballbesitz bei einer Mannschaft nicht automatisch dazu führt, dass diese Mannschaft ein Spiel gewinnt, konnte man erneut am Auftaktspiel der Gruppe F bei der Fußball-Europameisterschaft zwischen Frankreich und Deutschland erfahren. Ballbesitz (laut „kicker“): Deutschland 62 %, Frankreich 38 % (Ballbesitze des Schiedsrichters wurden nicht gezählt). Tore: Deutschland 0, Frankreich 1. So einfach kann die digitale Codierung des Fußballs sein. Allerdings hat Christian Streich, Trainer des SC Freiburg, wohl recht, wenn er, wie kolportiert wird, sagt: „Wenn mer Tore mache will, muss mer de Ball habbe.“


Ein Special allerdings: Bei Eigentoren ist es wichtig, dass den Ball die gegnerische Mannschaft (bzw. einer ihrer Spieler) „besitzt“; nur dann ist sicher, dass das Eigentor eigentlich ein eigenes Tor ist, also eines, das für die Mannschaft gezählt wird, die den Ball in diesem besonderen und folgenreichen Augenblick nicht besaß. Ein Grund mehr, auch das Spiel ohne Ball zu beherrschen, bevor man die falschen Pässe verwandelt, weil man grad da ist wo man ist …


Mehr zum Phänomen Ballbesitz und zum Spiel ohne Ball erfahren wir von Hellmut Willke. Hier in Auszügen sein Beitrag aus Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs.


Spiel ohne Ball


Helmut Willke


Die nichttriviale Seite des Fußballs: Das Spiel ohne Ball


Jeder, der auf zwei Füßen stehen kann und den Ball in Reichweite hat, kann Fußball spielen. Aber nur ganz wenige beherrschen das Spiel ohne Ball. Dabei laufen während eines Fußballspiels die meisten Spieler die meiste Zeit ohne Ball herum. Die Hoffnung, dennoch irgendwann an den Ball zu kommen, lässt vergessen, dass zwar Technik unabdingbar ist, um den Ball zu befördern und schließlich ins Tor zu bringen, dass aber die spielerische Leistung eines Fußballspiels davon abhängt, ob und wie das Spiel ohne Ball gelingt.


Im folgenden Text sollen aus einer systemtheoretischen Sicht einige wenige Aspekte einer Begründung für diese Eigentlichkeit des Uneigentlichen skizziert werden. Im Kern geht es dabei um die Bedeutung der Differenz von realer Ballführung und virtuellen Balloptionen (Abschnitt 2), um die Analogie zwischen Spiel ohne Ball und Kommunikation ohne Worte (Abschnitt 3) und schließlich um die Emergenz einer Mannschaft aus dem Zusammenspiel von realem und kontingentem Zusammenspiel (Abschnitt 4).


Ballführung und Führung ohne Ball


»Und auf dem Kölner Literaturfest LitCologne durften sich 2005 angesagte Bundesligatrainer vor literaturdurstigem Publikum zum Thema ›Das Spiel lesen‹ auslassen. Fazit: Reine Manndeckung und das ballzentrierte Spiel sind in der Trainergilde out. Spieler müssen heute – eben – das Spiel lesen können, athletisch sein und das Spiel ohne Ball beherrschen. Kurz, Kulturwechsel ist angesagt, mit den Gehältern sind auch die Anforderungen gestiegen« (Reiners 2006).


Erst mit dem Spiel ohne Ball kommt strategische Intelligenz ins Spiel. Denn während Ballkontakt Festlegung bedeutet, eröffnet das Spiel ohne Ball die weiten Räume der Kontingenz. Auf den Ballführenden kann sich der Gegner einstellen – das ist die leichte Aufgabe. Gegen die mit einem klugen Spiel ohne Ball sich eröffnenden Möglichkeiten des Anspiels dagegen ist kaum ein Kraut gewachsen, weil es dann immer anders kommen kann, als man denkt. Erst das Spiel ohne Ball sorgt dafür, dass zwar nach wie vor nur ein (realer) Ball im Spiel ist und dieses asymmetrisiert (siehe Dirk Baecker in diesem Band), dass aber eine Vielzahl möglicher Anspielstationen eine entsprechende Vielzahl möglicher Bälle ins Spiel bringt und so das auf den ersten Blick triviale Spiel zu einer schwer zu berechnenden Komplexität emportreibt.


Wenn Kontingenzen der Ballverteilung – und damit der Spielverläufe – verfügbar werden und die Auswahl einer bestimmten Option unter vielen Möglichkeiten nicht zufällig erfolgen soll, dann schlägt die Stunde der Strategie. Fußball ist wie Schach ein strategisches Spiel, weil das Spiel ohne Ball viele Spielzüge denkbar macht, die mit sehr unterschiedlichen Folgen, Nebenwirkungen und Erfolgschancen verbunden sind. Ein strategisch angelegtes Spiel erfordert daher einen strategisch denkenden Trainer außerhalb des Spielfeldes und einen kongenialen Spielgestalter oder »Regisseur« auf dem Spielfeld.


Die kritische Kompetenz/Schwierigkeit strategischen Handelns im Allgemeinen und eines strategischen Spiels im Besonderen liegt in der »Erfindung« von Zukunft, in der Verlängerung der evolutionären Zeit, die nur die jeweils gegenwärtige Gegenwart kennt, in eine kontingente, aber geformte Zukunft. Ihre Form bekommt die Zukunft von den vorgestellten, also in der gegenwärtigen Gegenwart noch virtuellen Projektionen oder Projekten, also von vorgestellten zukünftigen Gegenwarten, die nicht mehr dem evolutionären Zufall überlassen bleiben, sondern durch eine gezielte Produktion von Optionen und Regeln/Prämissen der Selektion möglicher Alternativen kontextuiert werden. Wohlgemerkt: Sie werden nicht determiniert, sondern (nur) kontextuiert, weil alle Kontingenzen und Optionen mit unaufhebbaren Ungewissheiten behaftet sind – im Spiel natürlich vor allem die Antworten des Gegners. Eine Spielstrategie entwerfen heißt dann, weit über das lineare Denken der Ballführung hinauszugehen und in Konstellationen und Konfigurationen zu denken, welche eben nicht nur den jeweils Ballführenden im Auge haben, sondern auch seine zehn Mitspieler (wie die häufigen »Rückgaben« zeigen, ist heute sogar der Tormann ins Spiel einzubeziehen). Es ist dann dieses potenziell hoch komplexe Netzwerk von elf Spielern, das in jedem gegenwärtigen Augenblick zehn Abspielmöglichkeiten – und die elfte, besonders trickreiche Option des Nichtabspielens – eröffnet, aber mit einbezogenen weiteren Spielzügen und ihren potenziellen Anschlüssen die Zahl möglicher Varianten wie beim Schach schnell ins Unkalkulierbare steigen lässt. Und genau um diese Unkalkulierbarkeit geht es natürlich.


Allerdings ist der Gegner einem strategisch angelegten Spiel nicht hilflos ausgesetzt. Die komplementäre Fähigkeit zur Strategiefähigkeit ist diejenige, das Spiel »lesen« zu können, d. h. die strategischen Intentionen des Gegners (in Teilen) durchschauen zu können. Hier scheiden sich die Kompetenzen. Ein tumber Fußballer zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht »lesen« kann und immer nur auf den Ball schaut. Ein mittelprächtiger Fußballer kann immerhin einen Spielzug oder einen Angriff lesen. Nur ganz wenigen ist es gegeben, aus den Mustern und Konstellationen des Spielernetzes tatsächlich die strategischen Intentionen des Gegners herauszulesen und die eigene Abwehrstrategie darauf einzustellen. Beispiele für Letzteres sind etwa herausragende defensive linemen im American Football. Es sind diese Spieler, die ihr Team führen, auch wenn sie gar nicht am Ball sind.


Drei konkrete Beispiele für strategische Spielzüge sollen das Argument verdeutlichen. Der spielerisch vielleicht anspruchsvollste Fall ist der alley oop im Basketball. Hier wirft ein Offensiv-Spieler (oft über eine große Entfernung) den Ball nicht direkt in den Korb, sondern in die Nähe des Korbes, während im richtigen Moment ein Mitspieler hochsteigt, den Ball fängt und mit einem slam dunk in den Korb hämmert. Wie Wikipedia passend formuliert: »The alley-oop combines elements of teamwork, pinpoint passing, timing, and dunking.«


Was zu dieser Beschreibung hinzukommt, ist das Element der Strategie: Der Gegner hat kaum eine Abwehrchance, weil er mit einem auf den Korb gezielten Wurf rechnen muss und sich bestenfalls auf den rebound einstellen kann, während der in der Nähe des Korbes stehende Mitspieler »harmlos« erscheint und nicht speziell gedeckt werden muss. Ein ähnlicher Fall im Handball ist das Anspiel auf einen »fliegenden« Mitspieler (im Fachjargon: der »Kempa-Trick«). Der Ballführende täuscht einen Torwurf an, gibt aber an einen Mitspieler ab, der im richtigen Moment – und von der Abwehr unbeachtet, weil er keinen Ball führt – vom Wurfkreis aus in Richtung gegnerisches Tor springt, im Flug den Pass auffängt und dem verdutzten Torwart ins Tor legt.


Im Fußball ist ein besonders anspruchsvoller Fall eines strategischen Spielzugs ohne Ball das passive Abseits. Fällt es (…) schon schwer, die Abseitsregel zu verstehen, so ist das passive Abseits auch für die gegnerischen Spieler eine Falle: bei einem Angriff mit mehreren Angriffsspielern in der Nähe des gegnerischen Tores (wo beide Seiten mit der Möglichkeit einer Abseitsstellung rechnen müssen) läuft ein Spieler bewusst ins Abseits und signalisiert damit der Abwehr, dass die Gefahr vorüber ist, weil der Schiedsrichter ja nun abpfeifen müsste. Zugleich aber läuft ein zweiter Angreifer ohne Abseitsstellung in Schussposition, bekommt den Ball zugespielt (damit ist die Abseitsstellung des ersten Angriffsspielers aufgehoben) und hat nun die Chance zum Torschuss.


Die drei Beispiele machen deutlich, dass das Spiel ohne Ball die Voraussetzung für nichttriviales Spiel ist. In allen Beispielen klingt ein besonders interessanter Aspekt eines gekonnten strategischen Spiels ohne Ball an. Er ist darin zu sehen, dass der ballführende Spieler eine gegenwärtige manifeste Möglichkeit (mit einer bestimmten Erfolgschance) selbst zu punkten aufgibt zugunsten einer zukünftigen virtuellen Option, die allerdings aus der Sicht des Teams bessere Erfolgschancen verspricht. Da es am Ende darauf ankommt, ob das Team gewinnt, und nicht darauf, ob einzelne Spieler gepunktet haben, lässt sich das strategisch orientierte »mannschaftsdienliche« Spiel tatsächlich als Faktor für den Mannschaftserfolg verstehen.


(…)


Hier taucht die Kategorie des blinden Verstehens und des blinden Vertrauens in die »richtigen« Handlungen aller Team-Mitglieder wieder auf. Vielleicht lässt sich deshalb resümierend auch sagen, dass das Spiel ohne Ball erst dann gelingen kann, wenn aus einer Mannschaft eine Mannschaft geworden ist. Erst dann darf ein Spieler vom Spiel ohne Ball wieder zurückkehren und den Ballbesitz einfordern, indem er den unvergesslichen Satz von Lothar Emmerich von Borussia Dortmund tut: »Gib mich die Kirsche!«


In dem Buch Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs. – herausgegeben von Fritz B. Simon – zeigen bedeutende Systemtheoretiker (wie Hans Ulrich Gumbrecht, Hellmut Willke, Niklas Luhmann, Dirk Baecker oder Luc Ciompi) und systemische Praktiker (wie Oliver Kahn, Eckart von Hirschhausen, Bernhard K. Sprenger, Bernhard Trenkle, Karl Ludwig Holtz), und natürlich Fritz B. Simon selbst endlich und unmissverständlich: Fußball ist Systemangelegenheit, eher systemisch als systematisch; auf jeden Fall aber: Fußball lässt verstehen, was „systemisch“ bedeutet – wenn man Fußball richtig beobachtet –, und Systemtheorie lässt sich über die entsprechende Beschreibung des Fußballs relativ leicht lernen. Das ist sehr nützlich für das Verständnis aller anderen sozialen Systeme, macht aber vor allen Dingen Spaß!