Brief 12 - Zur Frage der Rückbezüglichkeit - von Oliver
Liebe Andrea,
Deine Zeilen greifen mehrere Stränge auf, so dass ich gut überlegen und sortieren muss, welche ich aufnehme, und wo ich passe. Deine Frage nach der syntaktischen Struktur unseres Austauschs finde ich interessant, wobei wir immer schauen müssten, wofür wir die Syntax anwenden. Angenommen, wir würden einen Diskurs führen, in dem wir uns missverstünden und in unseren Positionen verhärteten, so dass der Diskurs die Struktur hätte, dass es eine Position A gibt, die von einer Position B konterkariert würde, sähe ich die syntaktische Möglichkeit, mittels des Wertequadrats (nach Aristoteles, Nicolai Hartmann, Friedemann Schulz von Thun und SySt®) nach Lösungen zu suchen. Wir könnten untersuchen, ob unsere Positionen im Diskurs Überbetonungen von Werten darstellen, die sich eigentlich gegenseitig ergänzen könnten. Wäre dies der Fall, könnten wir uns des Wertequadrats bedienen, um, statt in die Übertreibungen der Werte zu gehen, vielmehr danach zu streben, in einer lemniskatischen Balancierung der positiven Werte das Gespräch zu führen, so dass eine dynamische dritte Qualität entstünde – im Wissen darum, dass jede Positionseinnahme für einen Wert dessen Schatten schon beinhaltet.
Wenn das Wofür darin bestünde, zu betrachten, wie vielfältig die bisherigen Inspirationen für unseren Dialog waren und vielleicht Ideen für den weiteren Verlauf zu bekommen, könnten wir auch mittels des schon mehrfach zitierten Tetralemmas auf unser Gespräch schauen. Wir könnten Deinen Ausgangstext als das Eine, meine Antwort darauf als das Andere bezeichnen und untersuchen, ob es im weiteren Verlauf zu einer Form von Beidem und/oder zu Aspekten von Keines von Beidem schon gekommen ist oder noch kommen könnte, wovon ich jedenfalls ausgehe, weil wir sowohl Formen der Übereinstimmung gefunden als auch Kontextwechsel vorgenommen haben. Und da wir uns immer wieder getraut haben, überraschende und humorvolle Aspekte einzuladen, war sicherlich auch das eine oder andere Mal die fünfte Nicht-Position, die Negation des Tetralemmas, im Spiel.
Ebenfalls denkbar wäre es, unseren Dialog unter dem Blickwinkel zu untersuchen, ob wir verschiedene Dimensionen des menschlichen Seins genügend einbezogen haben und dabei zu besprechen, durch welche Eintrittstüren des Glaubenspolaritäten-Schemas nach SySt® wir in unseren Austauschraum getreten sind, und wie unsere Bewegung in diesem Raum als Gesamt-Choreographie aussieht. Ich vermute, dass wir weitgehend über die Tür der Erkenntnis, der Klarheit, der Logik und Kognition diesen doch ziemlich kopflastigen Austausch führen – also syntaktischer gesprochen Aspekte der Balancierung betonend –, wobei immer wieder zentrale Gesichtspunkte des Pols der Verantwortung, des Handelns und der Struktur eingeflossen sind, und durch Positionsbezüge auch Abgrenzungen entstanden sind, als eine Form der Weg-Von-Bewegung, die ebenfalls zum Wortfeld des Verantwortungspols gehört. Und wäre da nicht eine grundsätzliche Form der Wertschätzung, der Sympathie und des Vertrauens – also eines Hin-zu – zwischen uns, wäre dieser Austausch wohl nicht zustande gekommen, oder es fehlten ihm Grundlagen der Beziehungsgestaltung, die ich als gesund betrachte, um in eine fruchtbare Auseinandersetzung zu kommen. Auch bin ich überzeugt, dass wir beide in diesem Austausch immer wieder verschiedene Aspekte der dynamischen Weisheit eingeladen haben (nicht dass ich sicher wäre, dass sich diese auch eingestellt hätte) – die da sind: Das Nicht-Wissen als Schwelle zur Erkenntnis, die Hilflosigkeit als Schwelle zur Handlung und die Verzweiflung als Schwelle zum Vertrauen. Unter dem Blickwinkel dieses Schemas könnten wir dann evtl. den Schluss ziehen, bisher nicht genügend berücksichtigte Zugänge zum Thema stärker zu betonen.
So gesehen haben wir – je nachdem, worauf wir blicken – verschiedene logische Grundstrukturen zur Verfügung, um auf syntaktischere Weise auf unseren Austausch zu blicken (um nur drei zu nennen).
Zur Frage der Rückbezüglichkeit…
Das führt mich zum nächsten Strang, nämlich zur Frage der Rückbezüglichkeit. Wenn ich es richtig verstehe, was Matthias Varga von Kibéd zum Unterschied von Schemata und Modellen sagt, sind Modelle auf bestimmte Anwendungsbereiche beschränkt und brauchen Rückbezüglichkeit, während Schemata keinen spezifischen Anwendungsbereich haben und aufeinander gegenseitig angewandt werden können. So ist es z. B. möglich, das negierte Tetralemma auf das Glaubenspolaritätenschema zu beziehen und umgekehrt, und ebenso das Wertequadrat auf das Tetralemma oder das Glaubenspolaritätenschema etc. Und wie schon an mehreren Beispielen gezeigt, gibt es keine Einschränkungen des Anwendungsbereichs bei diesen Schemata, vielmehr werden durch ihre Anwendung auf verschiedene Bereiche unterschiedliche Aspekte des Betrachteten beleuchtet. Wenn ich nun Watzlawicks Aussage betrachte, dass eine Konstruktivistin sich durch drei Eigenschaften auszeichne: Freiheit, Toleranz und Verantwortung, so könnte ich mit Blick auf das Glaubenspolaritätenschema fragen, welche Aspekte des Wortfelds des Vertrauenspols notwendig sind, um tolerant oder konziliant zu sein, z. B. Wertschätzung für unterschiedliche Sichtweisen, oder welche Aspekte des Erkenntnispols, z. B. die Einsicht darin, dass die Wirklichkeit konstruiert wird, welche Aspekte des Verantwortungspols, z. B. für die eigenen Positionsbezüge – nämlich auch jenen der Toleranz – verantwortlich zu sein, eine Entscheidung getroffen zu haben. Oder wenn ich auf den Begriff der Freiheit blicke, kann ich wiederum untersuchen, was im Sinne dieser Triade gegeben sein muss, um sich frei fühlen zu können, z. B. das Vertrauen in die eigene Handlungs- und Wahrnehmungsfähigkeit, sowie die Fähigkeit, Erkenntnisse zu gewinnen, um dann frei handeln zu können. Ich könnte Watzlawicks Idee aber genauso gut unter dem Blickwinkel des Wertequadrats betrachten. So wäre es vielleicht interessant zu fragen, ob nicht Freiheit und Verantwortung zwei sich bedingende Werte darstellen, die – wenn sie überbetont werden – in der Regel zu Schwierigkeiten führen, während Toleranz evtl. die Qualität einer dynamischen Balancierung dieser beiden Werte wäre, um nur eine Möglichkeit der Anwendung dieser Aussagen Watzlawicks unter dem Blickwinkel des Wertequadrats anzudeuten. Ich könnte mich dem Konstruktivismus und seinen Folgen auch über das Tetralemma nähern. So könnte ich die konstruktivistischen Paradigmen als das Eine und eine eher ontologischere Betrachtungsweise als das Andere benennen. Dann wäre es sicherlich interessant zu untersuchen, welche Formen von Beidem dabei auftauchten und natürlich auch, was mir in den Sinn käme, wenn ich unter dem Aspekt von Keines von Beidem in Richtung übersehener Kontexte und Hintergründe blickte, um dann das Wagnis einzugehen, dies alles zu negieren, um nochmals zu völlig neuen Perspektiven zu gelangen.
Strukturen des Bewusstseins…
Ich greife nun wieder die Frage der Strukturen des menschlichen Bewusstseins und der Rückbezüglichkeit auf, die Du ja bereits schon begonnen hast, ins Mystische zu verlängern. Wenn ich Dich richtig verstehe, beschäftigt Dich dabei die Frage des Zusammenhangs von Dualität und Non-Dualität. Ken Wilber hat in seinen Werken dazu viel geschrieben und kommt ja zur Auffassung, dass die Wirklichkeit eben beides ist – dual und non-dual, je nachdem, aus welcher Perspektive wir sie betrachten. Zu ähnlichen Schlüssen kommt Stephen Gilligan, berühmter Schüler von Milton Erickson und Begründer des Generative-Trance-Ansatzes, der an verschiedenen Stellen ausführt, dass der Mensch über sein Unwillkürliches (und ich würde hinzufügen: und über seine Imaginationsfähigkeit) einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten angehört, in der es keine Gegensätze – keine Dualität –, keine Grenzen und keine Logik oder Naturgesetze geben muss. Während er gleichzeitig der materiellen Welt angehört, in der es eben Entscheidungen, Handlungen, Umsetzungen braucht, damit etwas in dieser Welt entsteht, und wo es Natur- und andere Gesetze gibt, die also eher dual funktioniert. In diesem Verständnis ist der Mensch also sowohl dual als auch non-dual. Auch der Begründer des NPI in Holland, der Arzt, Pädagoge und Entwicklungsforscher Bernard Lievegoed, beschreibt den Menschen als Wesen, das drei verschiedenen Welten angehört, einer physisch-körperlichen, einer seelisch-sozialen und einer geistigen, für die jeweils unterschiedliche Paradigmen und Prinzipien relevant sind, und die zueinander in Wechselwirkung stehen.
Folgen wir diesen Überlegungen, könnten wir der Idee nachgehen, ob es evtl. einen Unterschied machen würde, wenn wir die Frage, ob es möglich ist, etwas zu erkennen, ohne jemanden als Beobachterin zu haben, die auf das Erkannte blickt, ob es also eine Art von Eigenwert in der Erkenntnis gibt, davon abhängt, welche Dimension des Menschseins wir betrachten.
Praktisch relevant wird dies in meiner Arbeit als Begleiter von Entwicklungsprozessen, wenn ich eben syntaktisch anwendbare Schemata und Modelle zur Verfügung habe, die den Menschen Sortier- und Orientierungshilfe geben – und dies auf eine ziemlich intuitiv zugängliche Art und Weise, weil sie aus meiner Sicht den Menschen in seiner Grundstruktur als duales und non-duales Wesen berühren. Ob ich deswegen den Anspruch habe, die Strukturen des Bewusstseins erkannt oder erfasst zu haben? Keinesfalls! Aber mich ihnen ständig anzunähern, erscheint mir lohnenswert. Eine für mich zentrale philosophisch-logische Begründung aus indischer Quelle, die zwischen einem radikalen und einem konsequenten Konstruktivismus unterscheidet, könnte ich auf Wunsch in meinem nächsten Beitrag erläutern ...
Herzliche Grüße,
Oliver
Luzern, ist Gesellschafter Trigon Entwicklungsberatung, Organisationsberater BSO, Mediator SDM, Senior Coach DBVC, Lehr-Trainer DGfS, Master Trainer infosyon, Dozent Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule Luzern, Hochschule der Künste Bern, Milton Erickson Institut Heidelberg, Metaforum SommerCamp, Gast-Dozent Universität Tiflis; Berät seit 2003 Organisationen der freien Wirtschaft, des NGO-Sektors und von Verwaltungen sowie im Zusammenspiel Politik-Gesellschaft-Wirtschaft; Leitung von Lehrgängen in Organisationsentwicklung, Mediation und Persönlichkeitsentwicklung. Forschungsschwerpunkt: Verbindung der Trigon-Beratungsmodelle mit den hypnosystemischen Konzepten von Gunther Schmidt und den syntaktischen Ideen und Formaten des SySt-Instituts zu einem systemisch integrierten Beratungsansatz.
Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/