Brief 8 - Bedeutungsgebung, VerANTWORTung, Konstruktivismus und Strukturen des Bewusstseins - von Oliver

Danke für die Einladung, liebe Andrea!


Es ist mir eine Freude und Ehre, hier mitwirken und meine Konstruktionen beisteuern zu dürfen. Ohne ein profunder Kenner der Theorie Deines Onkels Paul zu sein, habe ich vor mehr als 20 Jahren über ihn meine erste bewusste Begegnung mit der konstruktivistischen Weltsicht und deren Nutzen gehabt – über das von Dir erwähnte Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“. Rückblickend konstruiere ich meine Erinnerung so, dass ich über die darin enthaltenen Geschichten erstmals konkret darauf aufmerksamer gemacht wurde, wie ich einem Phänomen Bedeutung gebe. Für mich ist die Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus in den letzten 20 Jahren zu einer spannenden und work-in-progress-Angelegenheit geworden. Dabei sehe ich mich in der Polarität – zumindest konstruiere ich sie als solche – pendelnd zwischen der persönlichen Überzeugung, dass es so etwas wie Wahrheiten gibt, und dem Wissen darum, dass selbst dann, wenn es sie gäbe, wir nicht in der Lage sind, sie wirklich zu erkennen. Im praktischen Sinne versuche ich, der (hypno-)systemischen Prämisse zu folgen, dass kein Phänomen an sich irgendeine Bedeutung aus sich heraus hat. Bedeutung wird stets gegeben von jenen, die sich zum Phänomen in Bezug setzen, was ja der Wirklichkeit 2. Ordnung im Sinne Watzlawicks entspricht. Diese Prämisse hat enorme und zumindest potentiell äußerst hilfreiche Wirkungen in Beratung, Therapie, Coaching und vielen weiteren Gebieten. Hier sind wir uns aus meiner Sicht komplett einig.


Was die Wirklichkeit 1. Ordnung angeht, verstehe ich es so, dass Watzlawick meint, es gebe messbare – dadurch objektivierbare – Phänomene, wie z. B. die Temperatur der Luft, wobei natürlich die verschiedenen zur Messung verwendeten Skalen (Celsius, Kelvin, Fahrenheit ....) bereits schon wieder Konstruktionen sind, auf die man sich geeinigt hat – ganz zu schweigen von der Bedeutung, die eine bestimmte Temperatur der Luft für jemanden hat, während z. B. medizinisch gesehen die Körpertemperatur eines Menschen innerhalb einer relativ schmalen Bandbreite durchaus bedeutungsvoll ist. Das heißt, hier müsste man sagen, dass z. B. eine Körpertemperatur von über 42.5 Grad Celsius in der Regel eindeutig bedeutet, dass der betroffene Mensch kaum mehr lange leben wird, wenn die Temperatur nicht sinkt. Was dies für den Einzelnen auf einer anderen – sinnbezogenen – Ebene bedeutet, ist wiederum eine andere Frage. Praktisch relevant ist für mich in diesem Zusammenhang, dass die Frage der Eigenverantwortung dabei zentral ist. Wenn ich zwar nicht für das Phänomen an sich Verantwortung trage, sehr wohl aber für die Bedeutung, die ich diesem Phänomen gebe, wächst aus meiner Sicht mein Freiheitsgrad massiv, damit einhergehend aber auch die Pflicht, mich zu verANTWORTen, ganz im Sinne Frankls.


Sind Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten mit dem Konstruktivismus vereinbar?


Eine andere Frage ist es, und hier bin ich mir nicht sicher, ob wir es ähnlich sehen, ob es so etwas gibt wie grundlegende Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die über Modellbildung und Konzeptionen Orientierung geben können – z. B. in Therapie, Beratung, Coaching und so weiter.


So, wie ich den radikalen Konstruktivismus verstehe, lehnt dieser tendenziell Modelle ab, weil sie für ihn Konstruktionen sind, die dazu führen können, dass sie für Wahrheiten gehalten werden, was wiederum als unzulässig und als Gefahr gesehen wird (wobei hier dann natürlich die Frage auftaucht, ob denn der Konstruktivismus als Modell nicht ebenfalls nur eine Konstruktion ist, was meiner Erfahrung nach bei radikalen KonstruktivistInnen oft in Vergessenheit gerät). Nach meiner Überzeugung gibt es so etwas wie Strukturen des menschlichen Bewusstseins. Matthias Varga von Kibéd folgend wären diese auf logischen Strukturen beruhende Schemata, die universell anwendbar sind, wie z. B. das negierte Tetralemma nach SySt als logische Grundstruktur für die Bearbeitung jeder erdenklichen Form von Gegensätzen, das aber genauso als Prozess-Schema für Entwicklung betrachtet und genutzt werden kann. Ebenso sehe ich auf Archetypen beruhende Schemata und Konzeptionen nahe bei den logischen Strukturen, da sie weitgehend kulturübergreifend und für die Menschen intuitiv erfassbar sind, wie z. B. der Archetypus von Körper, Seele und Geist als Dimensionen des Menschseins. Wenn wir also davon ausgehen würden, dass es solche Prinzipien oder Gesetzmäßigkeiten gäbe, und es unser Bemühen wäre, solche zu finden, um sie hilfreich und für die Anliegen von Menschen zieldienlich nutzen zu können – würde das Deiner Ansicht nach der konstruktivistischen Sicht von Paul Watzlawick widersprechen? Oder käme es nur darauf an, wie mit solchen Schemata und Formaten umgegangen wird? Denn man kann ja jedes Modell normativ (= so muss es sein), deskriptiv (= so ist es) oder kurativ (= angenommen, wir betrachten die Fragestellung unter dem Blickwinkel dieses Modells, wäre es hilfreich?) nutzen – eine Idee, die ich ebenfalls der Arbeit des SySt-Instituts verdanke.


In meinem Verständnis wäre eine kurative Verwendung von Schemata und Modellen durchaus verträglich mit Watzlawicks Verständnis, weil die Verantwortung für die Bedeutungsgebung beim Betroffenen bleibt, und das Modell oder Schema als Sortier- und Orientierungshilfe dient. Jedenfalls interessiert mich da Deine Sichtweise, denn für mich sind Schemata, Formate und Modelle, die etwas Grundsätzliches, sozusagen die Struktur (= Syntax) eines Themas, einer Fragestellung erfassen können, unabhängig von den jeweiligen Inhalten (= Semantik) und für meine Arbeit und mein Weltbild hoch relevant. Auf der Arbeitsebene z. B. kann ich mit Hilfe solch syntaktisch anwendbarer Formate sehr präzise und relativ hypothesenfrei (natürlich ist schon die Annahme, dass eine bestimmte Fragestellung einer bestimmten Struktur entsprechen könnte eine Hypothese) arbeiten, und der Nutzen für Klientinnen und Klienten (-Systeme) ist meiner Erfahrung nach sehr hoch, diese Arbeitsweise entlastet aber auch die Beratenden und Therapierenden. Vor allem aber ermöglicht sie eine Lehr- und Lernbarkeit, weil sie – wie Matthias Varga von Kibéd es nennt – eine Art von Grammatik zur Verfügung stellt, die Menschen Lernprozesse ermöglicht, z. B. in Therapie, Coaching und Beratung, und dadurch weniger Abhängigkeiten von reiner Intuition und Begabung entstehen. So gesehen bieten solche Formate, Schemata und Modelle eine Art Grammatik der Intuition – oder wie oben schon angemerkt, es geht um Strukturen des menschlichen Bewusstseins. Dass dies von radikalen KonstruktivistInnen jedoch als nicht konstruktivistisch betrachtet werden könnte, ist mir bewusst. Wie es Dein Onkel Paul gesehen hätte, weiß ich nicht. Und ich freue mich darauf, von Dir zu hören, wie Du es siehst!


 


Oliver Martin
Oliver Martin

Luzern, ist Gesellschafter Trigon Entwicklungsberatung, Organisationsberater BSO, Mediator SDM, Senior Coach DBVC, Lehr-Trainer DGfS, Master Trainer infosyon, Dozent Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule Luzern, Hochschule der Künste Bern, Milton Erickson Institut Heidelberg, Metaforum SommerCamp, Gast-Dozent Universität Tiflis; Berät seit 2003 Organisationen der freien Wirtschaft, des NGO-Sektors und von Verwaltungen sowie im Zusammenspiel Politik-Gesellschaft-Wirtschaft; Leitung von Lehrgängen in Organisationsentwicklung, Mediation und Persönlichkeitsentwicklung. Forschungsschwerpunkt: Verbindung der Trigon-Beratungsmodelle mit den hypnosystemischen Konzepten von Gunther Schmidt und den syntaktischen Ideen und Formaten des SySt-Instituts zu einem systemisch integrierten Beratungsansatz.




Bardia Monshi
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/