Konfliktsysteme / Systemische Konflikte

In meinem Artikel "Konflikte - Wenn Systeme sich bilden" habe ich geschrieben:


Bei Konflikten geht es darum, ein anderes System zu werden. Hier soll nicht nur wechselseitig integriert und über einander bestimmt werden, auch das Konfliktsystem selbst versucht ein anderes zu werden.


Referenz: Konflikt Versuch, ein anderes System zu werden/integrieren/bestimmen
((1) Peyn G., 2020)


Und im Artikel „Autopoiesis und Strukturelle Kopplung für Teilsysteme wie Organisationen und Konflikte“:


Organisationen und auch Konflikte sind Strukturen in Gesellschaft, Teilsysteme; sie bilden sich als FORMen von Gesellschaft. Ihre Grenzen schließen sich nicht, sie bleiben der Gesellschaft gegenüber, aus der sie sich entwickelt haben, offen, um (mit/durch Gesellschaft) überleben zu können: Organisationen und Konflikte erschaffen sich nicht autonom und autark genug, um einen selbständigen, geschlossenen autopoietischen Zyklus zu generieren. Sie partizipieren an der Autopoiese des gesamtgesellschaftlichen Systems. ((2) Peyn G., 2023)



Liste ich einige Merkmale komplexer lebender Systeme und ihrer Teilsysteme auf, um von dort weiterzuarbeiten:



  • Komplexe lebende Systeme funktionieren autopoietisch, autonom und autark. ((3) Peyn G., 2021)

  • Lebende Systeme existieren in sich selbst. Alles, was sie über Umwelt erwarten oder meinen über Umwelt zu wissen, konstruieren sie als Vorstellung von Umwelt, als interne Umwelt.

  • Teilsysteme lebender Systeme existieren in ihren Overall Systems.

  • Die Grenzen autopoietischer Systeme werden über ihre Elemente determiniert.

  • Lebende Systeme operieren informationell geschlossen.

  • Organisationen in autopoietischen Systemen haben Enden organisationeller Reichweite, keine (unüberwindbaren) Grenzen zu ihrem Overall System in dem sie sich konstituieren und ausdifferenzieren. ((2) Peyn G., 2023)

  • Lebende, autopoietische und selbstreferenzielle Systeme können sich über ihre FORMen rhythmisieren. ((4) Peyn G., 2018)

  • Einige Teilsysteme können sich mit sich und in/über Relation, Interaktion, Interdependenz mit ihren Umfeldern wie auch anderen Teilsystemen oder auch Akteuren in ihren Umfeldern rhythmisieren.

  • Lebende Systeme können Rhythmen entwickeln, die in Zyklen spezifische FORMen hervorbringen.

  • Lebende Systeme passen sich in kontinuierlicher Selbstanpassung nicht nur an sich selbst, sondern, wenn sie überleben, auch an ihre Umwelt an.

  • Lebende Systeme, die sich nicht mehr an sich selbst und ihre Umwelt anpassen können, zerfallen, verrauschen, sterben.

  • Kontinuierliche Selbstanpassung bedeutet einerseits kontinuierliche Veränderung und andererseits kontinuierliche Identitätssuche.

  • Teilsysteme lebender Systeme haben an der kontinuierlichen Selbstanpassung des Overall System und derer Folgen teil und bemühen sich nach ihren Möglichkeiten mit um Selbstreferenz.



Konflikte können wir einmal als Systeme, und zwar als Teilsysteme von Gesellschaft betrachten und untersuchen, und ein andermal können wir Konflikte, und damit auch Kriege, als systemische Konflikte beobachten, über die sich das Overall System so rhythmisieren kann, dass die jeweiligen KonfliktFORMen zyklisch auftauchen.


So können manche Konflikte sowohl als Einzelkonflikte beobachtet werden wie auch als wiederkehrende Konflikte im Kontext der Selbstanpassung und Selbstrhythmisierung des Overall System.


Wir können Konflikte als Systemstörungen beobachten und beschreiben, aber dann gilt zu berücksichtigen, dass lebende Systeme sich kontinuierlich selbst stören und dabei gelernt haben, ihre Störungen als Teilsysteme oder FORM(en) ihrer Selbstanpassungs- und Selbstrhythmisierungsprozesse zu operieren. Konflikte und Kriege finden nicht in der Umwelt des Sozialsystems statt. Sie bilden sich als sich selbst organisierende Strukturen des Sozialsystems und können es in dieser FORM auch selbststören.


Merkmal systemischer Kriege als Teilsysteme oder FORM(en) der Selbstanpassungs- und Selbstrhythmisierungsprozesse von Gesellschaft ist, dass der/die Gewinner darüber entscheidet/entscheiden, wann Kriege beendet sind, nicht der/die Verlierer1.

Für die Juden in Paris war der deutsche Krieg gegen Frankreich im Zweiten Weltkrieg nicht mit der Kapitulation Frankreichs erledigt. Für alle Bürger Frankreichs begann eine Zeit, in der sie mit Machtfragen neu umgehen, sie neu verhandeln lernen mussten – mit einer französischen Widerstandsbewegung, welche ihren Krieg gegen Deutschland fortgeführt hat.


Nachdem die Franzosen kapituliert hatten, haben die Deutschen nicht aufgehört, gegen sie Krieg zu führen. Sie haben damit angefangen, Frankreich auszubeuten, sich die französische Wirtschaftsstärke zunutze zu machen ... – alles Teil ihrer Kriegsziele und alles andere als Zeichen von Frieden.


Sollen wir uns vorstellen, dass Kriegsende bedeutet, dass der Gewinner den Verlierer ausbeutet, ermordet, versklavt?
Ist ein Kalter Krieg kein Krieg?
Hat der Einmarsch der sowjetischen Armee in Ungarn und in die Tschechoslowakei nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun?
Können Kriege überhaupt von den Beteiligten beendet werden, wenn Kriege und Konflikte als sich selbst organisierende Systeme funktionieren?
Liegt es der Macht der Beteiligten?


Erst als die Alliierten Teile ihrer Kriegsziele durchgesetzt hatten, war für die letzten überlebenden Juden der Krieg soweit vorbei, dass sie nicht mehr weiter von Nazideutschland marginalisiert und vernichtet wurden.


Erst als die Alliierten ihre Kriegsziele durchgesetzt hatten, begann für alle eine Grauzone, in der sich entscheiden musste, ob der harte Konflikt, der Krieg, wieder aufflammt oder nicht. Und in Anbetracht aktueller Ereignisse befinden wir uns allem Anschein nach immer noch in dieser Grauzone, obwohl Deutschland doch schon längst kapituliert hat ...


Die Aussage: "Der Verlierer entscheidet über das Kriegsende" ist empirisch nicht haltbar.


Ich erinnere an die Referenz: Konflikt Versuch, ein anderes System zu werden/integrieren/bestimmen.


Das hat damit zu tun, dass erklärte Kriegsenden eben nicht mit klaren Abgrenzungen kommen, sondern dass dem erklärten Kriegsende immer eine Grauzone folgt, in der Machtfragen in Sub- und Teilsystemen über viele kleinere Konflikte neu ausgehandelt werden.2


Diese Grauzonen können so Teil von Systemrhythmisierung des Overall System werden, dass sich in Gesellschaft Zyklen abwechselnd harter und weicher Konflikte bilden, in denen in den jeweiligen „Friedens“-Phasen die Machtfragen durch die Sub- und Teilsysteme durchgereicht und neu verhandelt werden, bis sie von der jeweils nächsten Kriegs-Phase abgelöst werden.


Mit Kriegsende beginnt eine Phase vieler kleinerer und größerer Konflikte, über die Macht in allen Subsystemen der Verlierergesellschaft neu verhandelt wird. Solche Phasen können kürzer oder länger dauern, um dann endgültig in Friedensperioden überzugehen oder wie in/mit "One Hundred Years of War (,Revolution and Peace)" beschrieben den ganzen Planeten überziehen. ((7) Ferguson 2006, Ferguson Hanson 2019)


Größere harte Konflikte wie der Kalte Krieg können kleinere Konflikte für eine geraume Zeit unterdrücken – fallen die größeren in sich zusammen, können die kleineren ihren Zyklus wieder aufnehmen und möglicherweise zu größeren werden. Der Kosovo-Krieg ist dafür ein gutes Beispiel.


System versucht, ein anderes System zu werden, und über die damit verbundenen Machtfragen rhythmisiert System sich über systemische Konflikte mit ihren Kriegen und ihren Grauzonen.


Gab es je seit Entstehung menschlicher Zivilisationen eine Zeit ohne Krieg?
Wie wirksam war die Kapitulation der Verlierer?


Niklas Luhmann schreibt „Als soziale Systeme sind Konflikte autopoietische, sich selbst reproduzierende Einheiten. Einmal etabliert, ist ihre Fortsetzung zu erwarten und nicht ihre Beendigung.“ ((8) Luhmann 1984)


Damit hat er insoweit recht, als dass sich solche Teilsysteme auch an sich selbst anpassen und sich selbst zu reproduzieren bemüht sind, doch sie tun das nicht über Elemente, die nur ihnen gehören, sondern über Elemente des Overall System. Wir können sie als sich selbst reproduzierende Einheiten beobachten, nicht aber als soziale Systeme mit Grenzen zum sozialen System und unabhängiger Autopoiese.


Sie können nicht einfach ihre Unabhängigkeit erklären und auf den Mond auswandern oder sagen: „So, jetzt habe ich mit Gesellschaft nichts mehr zu tun, ich rolle einfach so als System für mich hin ohne jeden Anschluss an gesellschaftliche Kommunikation und ohne dass gesellschaftliche Kommunikation in mich weiter hineinreichen kann.“


Konfliktsysteme funktionieren nicht wie Psychen. Wäre Gesellschaft für sie Umwelt, sie wären keine gesellschaftlichen Konflikte mehr. Sie wären keine Kommunikationssysteme mehr. Gesellschaft hätte mit ihnen nichts mehr direkt zu tun. Sie würden dann vielleicht wie Asteroiden wirken und thematisiert. Oder es müsste etwas Emergentes passieren, das für Konfliktsysteme und Gesellschaft das leistet, was Kommunikation für Psychen tut.


Konfliktsysteme wie Kriege können sogar ihre eigene Systemzeit entwickeln und darüber ihre organisationelle Reichweite einschränken oder ausweiten, aber solche Dynamiken können und werden ebenso durch das Overall System mit beeinflusst – und das direkt, wie sich am Ukraine-Krieg zeigen lässt, wo Maßnahmen der UN und Sanktionen direkt als Kommunikation ins Teilsystem integriert werden können.

Je länger sich das Konfliktsystem selbst rhythmisiert, desto geringer die Chance, dass es sich in nächster Zeit wieder auflöst. Es kann sich zwar durchaus abrupt und im nächsten Moment auflösen, die Wahrscheinlichkeit dafür steigt jedoch nicht mit seinem Andauern/Alter. In dieser Eigenschaft selbstähnelt es dem Sozialsystem: Ist die Kommunikation einmal entstanden, ist sie nicht mehr so einfach wegzukriegen.


Konfliktsysteme funktionieren nach ähnlichen Mechanismen wie sie von Robert Axelrod für Kooperationssysteme festgestellt wurden: Ausstieg aus Kooperation ist am Anfang und gen Ende der Kooperation am wahrscheinlichsten. ((9) Axelrod, 1987)


Bildlich gesprochen können sich Konfliktsysteme in sich selbst hineinrollen, und wenn sie das erst einmal begonnen haben, rollen und rollen sie immer weiter. Wer möchte, dass sich harte Konflikte gar nicht erst in sich hineinrollen, der muss am Anfang und schnell reagieren und dabei die Regeln von Kooperationssystemen berücksichtigen.


Putins Krieg hatte zu Beginn gute Chancen, schnell durch direkte und klare Kommunikation, nämlich mit Bad-Boy-Antworten auf Bad-Boy-Kommunikationsangebote, beendet zu werden. Doch je länger er andauert, desto mehr Sinn generiert das Overall System am Konflikt und desto mehr Interaktionen/Relationen/Interdependenzen gibt es auch mit anderen Teilsystemen und Akteuren. Die Machtfragen, die dabei auftauchen, sind dieselben, welche später in den Grauzonen wirken und von dort aus Wiederaufflammen des Konflikts wahrscheinlicher machen.


Wenn der Krieg mal läuft wie der Putin-Krieg, dann haben die Beteiligten in den Krieg sowohl aus Macht-, wie auch aus Wirtschaftsperspektive investiert. Und diese Investitionen können sie nicht so einfach ohne riskante Konsequenzen für sich selbst verloren geben.


Konflikte können für ihr Overall System und andere Teilsysteme und Akteure produktiv, neutral oder (einschließliches Oder) destruktiv wirken – und sie können sogar systemstabilisierende und identitätsbildende Eigenschaften für sich selbst, für ihr Overall System und/oder für andere Teilsysteme und Akteure aufweisen. Konflikte und Störungen können systemerhaltend wirken/funktionieren.


Je nachdem können sie dazu beitragen, dass ihr Overall System stagniert, untergeht oder floriert. Ich erinnere hier an eigenFORM: Systeme, die versuchen, sich ohne weitere Binnendifferenzierung in sich selbst wieder einzuführen, verlieren ihre Fähigkeit zu entscheiden, nicht das Ganze zu beobachten. ((10) Peyn, R. 2021)

So können einige Konflikte zu ihren eigenen Fressfeinden werden, aber es ist das Overall System, welches über (ihre) Funktionalität entscheidet – so, wie der Streit für die Ehe als spritziges Moment und zusammen haltend funktionieren kann, obwohl die Konfliktpartner ihn als belastend empfinden.


Konflikte können aus Veränderungsbestrebungen und aus Identitätsbemühungen emergieren und zu beiden und/oder ihrem wechselseitigen Extremisieren beitragen.


Sie emergieren immer aus/in Kooperationssystemen. ((1) Peyn G., 2020). Sie können Kooperation motivieren, müssen das aber nicht, während in komplexen Kooperationssystemen immer Konflikte emergieren. Sie folgen komplexer Selbstanpassung.


Opportunistische Konfliktrhetorik, die als Teilfunktion für einige beteiligte Teilsysteme und Akteure am Konflikt wirken kann, trägt systemisch zur Rhythmisierung der Konflikte bei: Das System kann sich darüber noch tiefer in den Konflikt schaukeln.


Konflikte können sowohl in Interdependenzen im Overall System funktionieren als auch als strukturell gekoppelt mit biologischen und psychischen Systemen. ((2) Peyn G., 2023).


Psychen können sich an ihnen an- oder aufregen, Körper daran eigene Selbstanpassung leisten wie, dass sie Adrenalin und Noradrenalin oder Endorphine ausschütten.


Systemische gesellschaftliche Konflikte können mit psychischen Konflikten strukturell gekoppelt sein – und umgekehrt. Psychische Traumatisierungen können mit gesellschaftlichen Konflikten strukturell gekoppelt funktionieren – und umgekehrt. Kriege und ihre Grauzonen, Grauzonen und ihre Kriege funktionieren für das Overall System als komplexe Kommunikationsangebote, und über Strukturelle Kopplung mit Psychen kann ihre Attraktion steigen – oder sinken.


Und da sich auch Konfliktsysteme an Meinen/Mitteilen/Verstehen verbauen, also über Gesellschaft an ihren Umwelten Elemente konstituieren, können Akteure über Themenattraktion versuchen, Konfliktsysteme (zu ihren Vorteilen) zu orientieren – was wiederum Teil des Konfliktsystems und systemischer Konfliktorganisation werden kann. ((11) Peyn G., 2018)


So wird anschaulich, wie Konfliktsysteme als Teil von Gesellschaft funktionieren und voll und über viele Bande direkt an sie anschlussfähig sind.


 



Referenzen:




  1. Peyn Gitta, 2020, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/konflikte-wenn-systeme-sich-bilden




  2. Peyn Gitta, 2023, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/autopoiesis-und-strukturelle-kopplung-fur-teilsysteme-wie-organisationen-und-konflikte?




  3. Peyn Gitta, 2021, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/autonomie-autarkie-autopoiesis




  4. Peyn Gitta, 2018, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/how-does-system-function-operate-3




  5. Simon Fritz B., 2013, https://www.youtube.com/watch?v=5Ch2jsRHsm8




  6. Simon Fritz B., Tödliche Konflikte, 2001, Heidelberg




  7. Ferguson Niall, The War of the World, 2006, NYC
    Ferguson Niall, Hanson Victor Davis, One Hundred Years of War, Revolution and Peace, 2019, https://www.youtube.com/watch?v=g_GGm-ZHJ-Q




  8. Luhmann Niklas, Soziale Systeme, 1984, Berlin




  9. Axelrod Robert, die Evolution der Kooperation, 1987, München




  10. Peyn Ralf, eigenFORM, 2021, https://uformiform.info/downloads/




  11. Peyn Gitta, Information, 2018, https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/nformation





1Fritz B. Simon geht noch davon aus, der Verlierer bestimmt, wann der Krieg zuende ist ((5) Simon 2022).
2 Damit widerspreche ich dieser These: „Wie immer der Krieg ausgeht, er führt im „Idealfall“ – wenn es Gewinner und Verlierer gibt – zu dieser Klarheit. Mit Klarheit ist hier die Entscheidung über die künftige Machtverteilung ... gemeint“
((6) Simon 2001)
Dieser „Idealfall“ hat keine empirische Entsprechung außer, der Verlierer wurde komplett vernichtet, und das soll hier wohl nicht mit „Idealfall“ gemeint sein.