Führung zwischen Ost und West

Führung zwischen Ost und West


Peter Fuchs hat in seinem Essay aus dem Jahre 1994 Westöstlicher Divan. Zweischneidige Betrachtungen (Frankfurt/M.: Suhrkamp) gezeigt, wie nach der deutsch-deutschen Vereinigung die Ost-/West-Unterscheidung zu einer „Superdifferenz“ und damit zu einem Fundament wurde, das zahlreiche weitere Unterscheidungen, mit denen soziale Phänomene beschrieben und erklärt werden, in bedeutender Weise prägt. Vielleicht bekommen wir erst jetzt in aller Deutlichkeit mit, also 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, dass nicht nur unser Denken in Ost-/West-Kategorien eingewoben ist, sondern dass diese Unterscheidung viel tiefer geht, dass sie mithin emotionale Einstellungen und innere Haltungen formt und damit unserem Wissen und Handeln regelmäßig vorausgeht.


Auch unser Umgang mit Führung scheint von dieser Differenz geprägt zu sein. Ostdeutsche führen anders als Westdeutsche. Sie nehmen Führung anders wahr, gehen unterschiedlich damit um, bewerten sie different. So lautet zumindest meine These, die ich hier nur äußerst skizzenhaft entfalten will.


Ich selbst wurde in Ostdeutschland, in der Nähe von Schwerin geboren, wo ich 16 Jahre lang lebte. Danach habe ich von 1986 bis 1989 Berlin als Hauptstadt der DDR erfahren können, bevor zumindest jene durch zementierte Mauern errichtete Ost-/West-Unterscheidung kollabierte. Nach dem Mauerfall gewann ich sehr viel. Neben existenziellen Lebensereignissen, wie der Heirat mit einer westdeutschen Frau und der Geburt unserer wunderbaren Söhne, war es mir möglich, nie geahnte berufliche Perspektiven zu realisieren, Studienabschlüsse und Zertifikate zu erwerben sowie Positionen zu erklimmen, die es so im Osten nicht einmal gab.


Nun wohne ich in Potsdam, lehre und forsche jedoch im Westen, und zwar am Rande des Ruhrgebietes, an der Universität Witten/Herdecke. Damit oszilliere ich zumindest zwischen den offensichtlichen, mithin räumlichen Ost-/West-Unterscheidungen hin und her. Und dennoch verliert für mich diese deutsche Fundamentaldifferenz nicht an Beschreibungs- und Erklärungswert, was ich zunächst an vier alltäglichen Beispielen aus dem Führungsalltag veranschaulichen möchte.


Beispiel 1: Beginnen möchte ich an der Fachhochschule Potsdam. Dort war ich vier Jahre lang Dekan des Fachbereichs Sozial- und Bildungswissenschaften. Im Unterschied zu meinem Nachfolger, der als ein in Westdeutschland sozialisierter Kollege Führung im heroischen Sinne der personellen und zeitlichen Präsenz und Einflussnahme in den Machtgremien der Hochschule und des Fachbereichs versteht, praktizierte ich tendenziell ein „postheroisches Führungskonzept“ (Dirk Baecker) und verstand mich als „servant leader“ (Robert K. Greenleaf), der dafür sorgt, dass die Kolleginnen und Kollegen in ihren intrinsischen Motivationen der Mitwirkung und akademischen Selbstorganisation gestärkt werden. Ich blieb also – bildlich gesprochen – im Rücken der Kollegenschaft, versuchte dort zu stärken und zu stützen sowie so zu wirken, dass die Kommunikation angeregt und Konflikte moderiert werden konnten.


Beispiel 2: An der Universität Witten/Herdecke fungiere ich als Lehrstuhlinhaber, habe also direkt mir zugeordnete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu führen, insbesondere zwei bis drei wissenschaftlich und eine administrativ Arbeitende sowie Stipendiaten. In einem Gespräch mit einem Kollegen wurde ich gefragt, wer den bezüglich einer speziellen Fragestellung, die gerade zu bearbeiten war, einen Mitarbeiter von mir führen würde. Spontan antwortete ich: „Der führt sich selbst.“ Ich erntete Erstaunen und Unverständnis.


Beispiel 3: Kürzlich traf ich einen ehemaligen Potsdamer Studenten von mir, der seit einigen Jahren in einem renommierten kulturellen Projekt in einer ostdeutschen Großstadt arbeitet. Er berichtete mir, wie gerade ein neuer, aus Westdeutschland kommender Leiter gekündigt hat, weil er mit der Mentalität und Teamarbeit der Mitarbeiter nicht zurechtkam. Was war das Problem? Das Team agierte offenbar sehr selbstorganisiert, z.B. in der Planung der Arbeit sowie in der Bewältigung von Aufgaben. Er jedoch versuchte, mit klaren Anweisungen Prozesse zu steuern und deren Erledigung zu kontrollieren. Dies wurde von den Mitarbeitern als übergriffig und misstrauend empfunden; denn sie erledigten die Arbeiten grundsätzlich passend und zufriedenstellend, aber eben in ihrer Weise. Dennoch hielt der Leiter an seinem Stil fest, was dazu führte, dass es anhaltende Konflikte gab, die letztlich darauf hinausliefen, dass der Kollege schließlich im Projekt wieder aufhörte


Beispiel 4: Angela Merkels Führungsstil ist schon oft thematisiert worden. Daher will ich nur knapp erwähnen, dass sie in postheroischer Weise führt, moderiert, verbindet und ausgleicht. Genau dies scheint ihr (ostdeutsches) Erfolgsrezept zu sein.


Vielleicht mache ich es mir zu einfach, wenn ich die Führungsformen, die ich in den oben knapp skizzierten Beispielen veranschauliche, mit der Ost-/West-Unterscheidung zu fassen versuche. Aber für mich sind das Beispiele für eine bestimmte Art, wie Ostdeutsche Führung praktizieren: Sie sind leiser als Westdeutsche, vertrauen auf die Selbstorganisation ihrer Mitarbeiter, moderieren vor allem, statt klare Anweisungen zu geben, sehen sich als Ermöglichende, statt als Sanktionierende. Diese Führungsform hat sicherlich ihre Schwächen, ist in bestimmten Situationen und Kontexten kontrainduziert. Aber sie passt gerade sehr zu den Managementtrends der Selbstorganisation (siehe aktuell dazu etwa Olaf Geramanis/Stefan Hutmacher [Hrsg.], 2020, Der Mensch in der Selbstorganisation. Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt, Wiesbaden: Springer/Gabler).


Meine differenzierende Vermutung ist, dass diese Form der Führung natürlich auch nur bestimmte Ostdeutsche präferieren, nämlich die, die ihr Leben in der DDR und insbesondere ihre Erfahrungen mit der friedlichen Revolution von 1989 in einer bestimmten Weise zusammenführen und verarbeiten. Erwachsen ist diese Führungshaltung also aus zwei Erfahrungen, zum einen aus dem Erleben einer Diktatur, in der das praktiziert werden musste, was Niklas Luhmann (2016, Der neue Chef, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 90 ff.) „Unterwachung“ nennt. Wir Ostdeutschen verstehen uns auf das Unterlaufen von Hierarchien, auf das Einnisten in die Ambivalenz, dass wir Führung scheinbar anerkennen, aber dann doch unser „eigenes Ding“ machen. Zum anderen haben wir erlebt, wie von einem auf den anderen Tag alle formale Autorität und Führung zusammengebrochen ist. Daher trauen wir institutionalisierten Führungen nicht wirklich, schauen immer auch auf das, was diese Führungen infrage stellt und stürzen kann. Informale Beziehungen scheinen uns wichtiger als formale Hierarchien.


Diese Erfahrungen haben mindestens zwei Umgangsweisen hervorgebracht, die auch altersabhängig sind, und zwar einerseits einen pragmatischen Anarchismus, den ich den Angehörigen meiner Generation zuschreibe – zumindest all jenen, welche in der DDR „Unterwachung“ betrieben haben und die Wende-Zeit als revolutionär-befreienden Bruch erleben, genießen und potentialentfaltend nutzen konnten. Andererseits ging aus der DDR-Sozialisation, die nahtlos an die nationalsozialistische Diktatur anschloss, eine extreme Ambivalenz Autoritäten gegenüber hervor, die zugleich geachtet und verachtet, immer wieder gesucht und eingefordert, dann aber wieder abgewertet werden, weil die Erwartungen, die ihnen entgegenbracht werden, in komplexen Verhältnissen enttäuscht werden müssen.


Diejenigen jedoch, die dem pragmatischen Anarchismus folgen, haben ein unbeirrtes Vertrauen in die Intelligenz der sozialen Selbstorganisation. Dies hält flexibel im Denken, Fühlen und Handeln.