Führung

engl. leadership, franz. la direction, im Sinne von leiten, geleiten, den Weg begleiten, den Weg zeigen, zu einem Ziel führen, ein Schwert führen, einen Wagen führen, die Zügel führen, allgemein: durch Mitsein bewirken (Jacob und WilhelmGrimms Deutsches Wörterbuch 1999, Bd. 4, Sp. 474). Der Begriff der Führung bezeichnet die Orientierung eines Verhaltens an Einschränkungen in der Sache, am Aufweis von Möglichkeiten in der Zeit und vielfach an Personen, denen hinreichende Erfahrung (Bergführer, Blindenführer, Hundeführer), außeralltägliche Einsichten (charismatische Führer) und/oder Macht über Dritte (Herrschaft) zugeschrieben werden.


Es gibt keinen systemischen (System) Begriff der Führung, wohl aber Überlegungen zur Rolle von Führung in Organisationen, der jeweils die Markierung, der Wechsel und die Verschaltung von Systemreferenzen zugeschrieben wird. Führung bedeutet, in der Sache und in der Zeit die Grenzen von Organisation, Abteilung, Projekt und Person auf jeweils beiden Seiten der Grenzen, das heißt die Grenzen einhaltend und sie überschreitend, so aufeinander zu beziehen, dass sie voneinander unterschieden und fallweise miteinander integriert werden können. Erforderlich werden diese Rolle und das Verständnis dieser Rolle in dem Moment, in dem eine Organisation nicht mehr als institutionelle Selbstverständlichkeit gelten kann, etwa weil ihre Normen wegen einer sich verändernden Umwelt, interner Meinungsverschiedenheiten und einer kritisch beobachtenden Öffentlichkeit problematisch werden (Luhmann 1964, S. 206 ff.; Selznick 1957; Perrow 1978). Führung trägt unter diesen Umständen zur Ausbildung von Verhaltenserwartungen (Erwartung) bei, die einerseits dank der Selbstbindung der Führung und nur im Maße der Selbstbindung der Führung als vorbildlich und verlässlich gelten und andererseits nach der Maßgabe der Abstimmung zwischen Führung, Organisation und Gesellschaft in der Organisation auch gewechselt werden können. Unterschiedliche Grade der Institutionalisierung und Wiederauflösung der Institutionalisierung erlauben es, diese Funktion der Führung je unterschiedlich auf Personen auf verschiedenen Leitungsebenen, auf in Situationen abrufbare Entscheidungsprämissen, auf ein in der Architektur und Kultur der Organisation verkörpertes Verständnis von Arbeit, Arbeitsgegenstand und Arbeitstechnik sowie auf aus der Umwelt der Organisation (Märkte, Professionen, Öffentlichkeit, Moral, Religion, Kultur) zu gewinnende Orientierungsleistungen zu verteilen. Die tatsächliche Leistung von Führung in einer Organisation ist daher prinzipiell diffus und vor diesem Hintergrund von allen Beteiligten interpretierbar und in Grenzen gestaltbar.


Es deutet sich ein systemischer Begriff der Führung an, der diese als Funktion der Ausdifferenzierung und Reintegration einer komplexen (Komplexität) Organisation in einer turbulenten Umwelt begreift und Anpassungsleistungen sowohl der Organisation an ihre eigene Veränderung als auch der psychischen (Psyche) Umwelten der Organisation (lokalisiert im Personal der Organisation) an diese Veränderungen erleichtert (Krusche 2008; Seliger 2008; Pinnow 2011). Dieser Begriff ist umso schärfer, je präziser er auf die Unterscheidung und Verschaltung unterschiedlicher Systemreferenzen (Person, Organisation, Gesellschaft) abstellt. Umstritten ist, ob man Führung von Management in der Hinsicht unterscheiden kann, dass das Management primär mit der Referenz auf Wirtschaft und Technik (Effizienz und Effektivität) und die Führung primär mit der Referenz auf Gesellschaft (Verantwortung, Leistung, Nachhaltigkeit) rechnet (Malik 2000; Wimmer/Schumacher 2009; Baecker 2009, 2011a und 2011b). Nach wie vor kann man außerdem zwischen einem administrativen und einem unternehmerischen Führungsverständnis unterscheiden, je nachdem, ob der Akzent der Führungsleistung mehr auf der Absicherung einer konditionalen Programmierung (immer dann, wenn …) oder einer Zweckprogrammierung der Organisation (um zu …) liegt (Luhmann 1968). Ein ebenso postmodernes wie postheroisches Verständnis von Führung deutet sich in dem Moment an, in dem die modernen Unterscheidungen von Natur und Gesellschaft, Kultur und Technik, Politik und Wirtschaft, Individuum und Kollektiv nicht mehr entsprechende Sachbereiche unterscheiden, sondern in Netzwerken, Ökologien und Projekten je eigenwillig und eigensinnig rekombiniert werden. Führungsleistungen verlagern sich unter diesen Umständen auf die Markierung und Profilierung des Eigensinns einer Organisation und die Symbolisierung dieses Eigensinns derart, dass seine Attraktivität in den internen und externen Milieus einer Organisation laufend getestet werden kann.


Nach wie vor gilt die machiavellistische, kybernetische und spieltheoretische Einsicht, dass Führung nur zu leisten ist, wenn die Führung sich auch vom Geführten führen lässt und dies durch ihre Selbstbindung auch kommuniziert (Machiavelli 1532; von Foerster 1993/1984; Elster 2000). Ein einfaches Kalkül dieser Zirkularität und der Probleme, als deren Lösung sie sich darstellen lässt, lässt sich aus dem Begriff der pattern variables des Systemtheoretikers Talcott Parsons ableiten. Parsons begreift jede Handlung als die Lösung von Orientierungsdilemmata, die in jeder Situation gegeben sind und, kaum gelöst, in der nächsten Situation erneut gegeben sind. Führung kann man als eine Generalisierung von Lösungen dieser Dilemmata derart begreifen, dass sie auch in künftigen Situationen wieder zur Verfügung stehen. Allerdings gilt dies nur unter der Bedingung, dass es der Führung gelingt, sich selbst an die Stelle der Dilemmata zu rücken, also von Situation zu Situation die Ungewissheit ihrer eigenen Leistung sicher zu stellen und sich so die erforderliche Aufmerksamkeit zu erhalten (Crozier/Friedberg 1977). Parsons und Edward A. Shils haben fünf Orientierungsdilemmata unterschieden: 1. Affekt versus Affektneutralität, 2. Egoismus versus Kollektiv, 3. Universalität versus Partikularität, 4. Qualität versus Performanz und 5. Spezifizität versus Diffusität (Parsons/Shils 1951, Spp. 77 f.). In jeder Situation kann man erstens emotionale Komponenten betonen oder nicht, zweitens sich an der Situation selber oder an übergreifenden Kontexten orientieren, drittens die Besonderheit des eigenen Handelns oder seine Allgemeingültigkeit herausstellen, viertens den Respekt vor den Gegebenheiten oder die Bedeutung der eigenen Leistung unterstreichen und schließlich fünftens benennen oder offen halten, worauf es ankommt. An Parsons’‹ These, dass jede Handlung sich entscheiden muss und sich auch nur jeweils selbst (voluntaristisch) entscheiden kann, kann man die These anschließen, dass die Führung bei dieser Entscheidung hilft, diese Hilfe jedoch nur leisten kann, wenn sie jeweils die eine Seite des Orientierungsdilemmas betont und dabei die andere Seite als im Moment ausgeschlossene, aber jeden Moment aus Respekt vor der Fülle der Möglichkeiten auch wieder einzuschließende Möglichkeit mitlaufen lässt. Führung heißt daher paradoxerweise, die Oszillation zwischen den Alternativen dieser Dilemmata zu symbolisieren und aus dieser Oszillation ein Gedächtnis für situativ bedingte Präferenzen zu gewinnen (Barnard 1948; Weick 1978; Luhmann 1998).


Es liegt auf der Hand, dass jede Führung diese mehrdeutige Orientierungsleistung nur erbringen kann, wenn sie sich auf die Kommunikation einer ihrerseits situativ bedingten Kombination von Kompetenz und Intuition, Forderung und Rücksichtnahme, Ernst und Humor, Benennen und Verschweigen einlässt. Führung bedeutet, Setzungen im Hinblick auf einen Rahmen vorzunehmen, der den Blick auf die Möglichkeit anderer Setzungen freigibt. Daran können Präferenzen anschließen, die auch und gerade dann jeden Moment zwischen Führenden und Geführten neu ausgehandelt werden, wenn sie beibehalten werden.


Verwendete Literatur


Baecker, Dirk (2009): Die Sache mit der Führung, Wien: (Picus).


Baecker, Dirk (2011a): Wer rechnet schon mit Führung? In: ders., .: Organisation und Störung: Aufsätze, Frankfurt am Main: (Suhrkamp), S. 257–268.


Baecker, Dirk (2011b): Postheroische Führung., Iin: ders.,: Organisation und Störung: Aufsätze., Frankfurt a.m M.ain: (Suhrkamp), S. 269–288.


Barnard, Chester I. (1948): The Nature of Leadership, . Iin: Barnard, Chester I.: ders.,Organization and Management., Cambridge, MA: (Harvard University Press), ppS. 80–110.


Crozier, Michel u. /Erhard Friedberg (1977):Crozier, Michel/Erhard Friedberg (1993): Die Zwänge kollektiven Handelns: Über Macht und Organisation. A, aus dem Französischen von Erhard Friedberg und Steffen Stelzer., Neuausgabe Bodenheim: (Athenäum), Neuausgabe 1993.


Elster, Jon (2000): Ulysses Unbound: Studies in Rationality, Precommitment, and Constraints, . Cambridge. (Cambridge University Press).


Foerster, Heinz von (1984): Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich. In: ders.: Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Aus dem Englischen von Wolfram K. Köck, hrsg. von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 1993, S. 233–268.


Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm (1999): Deutsches Wörterbuch. München (dtv).  


Krusche, Bernhard (2008): Paradoxien der Führung: Aufgaben und Funktionen für ein zukunftsfähiges Management., Heidelberg. (CarlAuer-Systeme Verlag).


Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation., 4. Aufl., mit Mit einem Epilog 1994, . Berlin: (Duncker & Humblot), 4. Aufl. 1995.


Luhmann, Niklas (1968): Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen., Neuausgabe Frankfurt am Main: (Suhrkamp), Neuausgabe 1977.


Luhmann, Niklas (1998): Die Kontrolle von Intransparenz., Iin: Heinrich W. Ahlemeyer, Heinrich W. und u. Roswita Königswieser (Hrsg.), .): Komplexität managen: Strategien, Konzepte und Fallbeispiele, . (Wiesbaden) (Gabler), S. 51–76.


Machiavelli, Niccolò (1532): Der Fürst, aus Aus dem Italienischen von Rudolf Zorn., Stuttgart: (Kröner), 1978.


Malik, Fredmund (2009): Führen, Leisten, Leben: Wirksames Management für eine neue Zeit., Stuttgart: (DVAeutsche Verlagsanstalt).


Parsons, Talcott a. /Edward A. Shils (1951): Categories of the Orientation and Organization of Action., Iin: Parsons, Talcott a. Edward A. Shils 515 Führung 5 dies.(Hrsgeds.):, Toward a General Theory of Action., Cambridge, MA. (Harvard University Press), Spp. 53–109.


Perrow, Charles (1978): Demystifying Organizations. I, in: Saari, Rosemary C./. a. Yeheskel Hasenfeld , Yeheskel (Hrsgeds.):, The Management of Human Services., New York, NY: (Columbia University Press), Spp. 105–120.


Pinnow, Daniel F. (2011): Unternehmensorganisationen der Zukunft: Erfolgreich durch systemische Führung., Frankfurt a.m Main. (Campus).


Seliger, Ruth (2008): Das Dschungelbuch der Führung: Ein Navigationssystem für Führungskräfte., Heidelberg. (Carl-Auer-Systeme Verlag).


Selznick, Philip (1956 1957): Leadership in Administration: A Sociological Interpretation., Nachdruck Berkeley, CA. (University of California Press), Nachdruck 1984.)


von Foerster, Heinz (1984): Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich,in: ders.,Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke,aus dem Englischen von Wolfram K. Köck, hrsg. von Siegfried J. Schmidt,Frankfurt am Main: (Suhrkamp, 1993) S. 233–268.


Weick, Karl E. (1978): The Spines of Leaders., Iin: McCall, jr., Morgan W./. a. Lombardo, Michael M. Lombardo, (edsHrsg.), Leadership: Where Else Can We Go? Durham, NC. (Duke University Press), Spp. 37–81.


Wimmer, Rudolf/ u. Thomas Schumacher (2009): Führung und Organisation. I, in: Rudolf Wimmer, Rudolf, Jens O. Meissner und u. Patricia Wolf (Hrsg.): Praktische Organisationswissenschaft: Lehrbuch für Studium und Beruf, . Heidelberg. (Carl-Auer-Systeme Verlag), S. 169–193.