15 Thesen zur Überlebenssicherung nach Corona

Krisenzeiten - so schwer sie jetzt auch für viele Unternehmen und Selbstständige sein mögen - sind Zeiten des Lernens und Zeiten der kritischen Reflexion. Insbesondere sollten bisherige Annahmen und Denkprämissen auf den Prüfstand gestellt werden. In diesem Sinne sind die folgenden Thesen von Torsten Groth, systemischer Berater bei Simon, Weber & Friends, Heidelberg, zu verstehen.


1. Systemdenken ist aktueller denn je. Die Coronapandemie zeigt auf, dass wir in einer vernetzten, komplexen Welt leben - in einer Welt voller Wechselwirkungen, die Undurchschaubarkeiten erzeugen. Bei allen Entscheidungen ist zukünftig damit zu rechnen, dass Unberechenbares passiert.


2. Das Bearbeiten von Unsicherheit (man spricht von „Unsicherheitsabsorption“) wird immer wichtiger. Wir haben es mit einer Welt zu tun, in der wir uns von Ideen und Tools der Vorhersagbarkeit verabschieden müssen. Für Organisationen und Teams werden die Fähigkeiten, sich bewusst in Unsicherheiten (und nicht in illusionären Scheinsicherheiten) zu bewegen, an Bedeutung gewinnen.


3. Ansätze zum „Managing the unexpected“ (ursprünglich formuliert von Karl E. Weick und Kathleen M. Sutcliffe) sollten wieder an Aufmerksamkeit gewinnen und sind weiterzuentwickeln. Hier geht es um die anspruchsvolle Aufgabe, auf allen Ebenen einer Organisation eine „kollektive Achtsamkeit“ zu installieren.


4. Wenn es vermehrt um Achtsamkeit geht, treten Fragen der Kopplung von Körper-Psyche-Interaktion-Organisation-Gesellschaft stärker hervor. Ansätze, die bewusst die Systemdifferenzierungen aufzeigen, um im Anschluss das spezifische Zusammenwirken einzelner Systemtypen in den Blick zu nehmen, können relevanter werden. Ein zukünftiges Thema könnte die Kopplungskunst sein: Wann fragt und hört man auf Bauchgefühle, die vermehrt auftreten, ab wann folgt man stärker einer Gesellschaftsentwicklung, die sich noch nicht in Zahlen zeigt, wann gibt man Teams Autonomie, wann vertraut man auf Verfahren.


5. Management und Beratungsansätze, die das langfristige Überleben als Kriterium führungsseitig höher bewertet als rein ökonomische Erfolgskriterien, bedürfen nun der weiteren Ausarbeitung: An welchen Kriterien wird „Überleben“ gemessen, was sind die relevanten Überlebenseinheiten, und was sind die relevanten Zeithorizonte des Denkens?


6. Führung bleibt „postheroisch“ (Dirk Baecker). Auch wenn derzeit auf der Vorderbühne einzelne Personen heroisiert werden und Prozesse der Autoritätszuschreibung in Krisenzeiten funktional sein können, so zeigt sich auf der Hinterbühne, dass erfolgreiche Interventionsstrategien Strategien der Vernetzung und Koordination von verteiltem Wissen sind. Wenn sich Führung stärker in Netzwerken zeigt, welche Kompetenzen sollten Führungskräfte zukünftig mitbringen?


7. Strategisch geht es zukünftig mehr um Robustheit und Resilienz. Ein bewusst vorgehaltener Ressourcenüberschuss, Räume für experimentelle Vorgehensweisen, Möglichkeiten, alternative Geschäftsmodelle zu erdenken, sollten in ihrer Bedeutung für die Überlebensrelevanz erkannt werden.


8. Die „Intelligenz“ von Familienunternehmen tritt deutlicher hervor. Gemeint ist die von vielen (aber sicher nicht allen) Familienunternehmen mit „Enkelfähigkeit“ zusammengefasste Ausrichtung auf Langlebigkeit. Von vielen langfristig erfolgreichen Familienunternehmen ist praktisch wie historisch zu lernen, wie Krisenbewältigung gelingt. Diese Fähigkeit ist eng verknüpft mit der Entkopplung vom Kapitalmarkt.


9. Das Entscheiden wird anspruchsvoller. Welche moderativen Kompetenzen werden wichtiger? Welche (intuitiven, qualitativen, quantitativen) Daten fließen in Entscheidungen ein? Interdisziplinär besetzte Teams sind hierbei noch stärker gefordert, die Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen zu integrieren und in Entscheidungen zu überführen.


10. Wann ist Schluss mit der Überhöhung von toolorientierten (Mode-)Ansätzen? Vielleicht ist es an der Zeit, sich nicht immer wieder auf reißerisch formulierte Managementansätze einzulassen. Man könnte diese Herangehensweise „postmodisch“ nennen. Postmodisch zu agieren hieße, Ansätze wie Agilität, Holokratie, Purpose keineswegs zu verdammen, sondern sie als Impulsgeber zu nutzen und in einen größeren Kontext der skizzierten Überlebensfragen zu stellen.


11. Alle Überlegungen zur zukunftsfähigen Strategie sind in den Kontext „Disruption und Digitalisierung“ zu stellen. Wie sähe zum Beispiel eine systemisch reflektierte, resiliente Digitalisierungsstrategie aus? Wie lassen sich Start-ups mit ihrem Fokus auf neue digitale Geschäftsmodelle oder auch auf Nachhaltigkeit langfristig und nutzbringend mit größeren Organisationseinheiten verknüpfen? 12. Die Coronazeit ist eine Zeit verstärkter digitaler Vernetzung. Mit dem Fokus auf die Resonanzfähigkeit ist zu reflektieren, welche Formate, Architekturen und Designs sich bewährt haben. Was heißt „New Normal“? Hiervon betroffen sind nicht nur Fragen der Balance von Lebens- und Arbeitszeiten, sondern vor allem auch von Orten.


13. Die Zeit nach Corona ist eine Zeit, in der zunächst die Folgen der Krise zu bewältigen sind und zugleich alles oben Genannte relevanter wird: Kurzfristige Krisenbewältigung und langfristige Krisenresistenz sind zu balancieren. Dies wirft neue Fragen eines Managements im Modus des „Sowohl-als- auch“ auf.


14. Krisen sind als Lernchancen zu begreifen. Gesellschaften, Organisationen, Teams und Individuen sind zurzeit mit der Anpassung an die Krisenlagen beschäftigt. Und zugleich hatte sich das Lerntempo erhöht, ohne dass bisher Zeit blieb, die Formen der Anpassung als eines solche zu reflektieren. Viele Unternehmen haben Fähigkeiten entwickelt, von denen sie bisher nicht dachten, dass sie diese Fähigkeiten wirklich haben. Nach einem Jahr im Krisen- und Anpassungsmodus wird es Zeit, bewusster in einen Modus zu wechseln, in dem gelernt wird, wie gelernt wird.


15. Unternehmen werden immer kritischer befragt werden, welchen gesellschaftlichen Beitrag sie leisten. Wie lange kann sich ein Großteil der Unternehmen noch von diesen Rückfragen und damit von der fundamentalen Aufgabe eines nachhaltigen Schutzes der Umwelt abkoppeln?


Der Artikel ist erschienen in wirtschaft + weiterbildung 06_2021