System
engl. system, franz. système m, von griech. systema = »Gebilde, Verbundenes«, systein = »zusammenstellen«; bezeichnet eine Gesamtheit interdependenter Elemente in wechselnden Relationen, die sich in einer Umwelt abgrenzt und im Zeitablauf erhält beziehungsweise reproduziert. Der Begriff des Systems fasziniert, seit die alten Griechen vom System der Klänge auf einer Tonleiter oder vom System des Blutkreislaufs in einem Organismus sprechen. Hier beschreibt der Begriff einen sich selbst ordnenden Zusammenhang heterogener Elemente. Seit es in der mittelalterlichen Scholastik üblich wurde, »Systeme« beziehungsweise »Summen« zu verfassen, in denen Autoren das Wissenswerte zu einem Thema zusammenstellten, schreckt der Begriff jedoch auch ab, weil es unklar wurde, ob sich der Zusammenhang der beschriebenen Elemente der Geschicklichkeit des Autors oder der Ordnung des Sachverhalts verdankt.
Man unterscheidet einen analytischen von einem empirischen Systembegriff. Der analytische Begriff dient dem Autor zur übersichtlichen Darstellung eines Sachverhalts. Der empirische Begriff beschreibt die Fähigkeit eines Sachverhalts, sich selber als System zu ordnen und zu erhalten. Beide Begriffe sind Begriffe eines Beobachters, sodass der analytische Begriff die Rückfrage weckt, woher der Autor seine Beschreibung gewinnt, während der empirische Begriff es mit dem Problem zu tun bekommt, nachzuweisen, dass und wie das beschriebene System sich selber ordnet und erhält. Auf den Plan gerufen wurde diese Problematik durch die Entdeckung komplexer (Komplexität) Phänomene, die sich weder kausalen noch statistischen Beschreibungen fügen, sondern auf eine Fähigkeit zur Selbstorganisation verweisen, die dem Beobachter rätselhaft ist (Weaver 1948). Selbstorganisation impliziert Selbstreferenz, und Selbstreferenz impliziert die Einführung des Beobachters auch aufseiten des Gegenstands der Beobachtung. Seither spricht man immer dann von einem System, wenn Beobachter mit Beobachtern in eine Interaktion treten, die auf beiden Seiten mit irreduziblen Freiheitsgraden, aber auch mit der Fähigkeit zur Einschränkung dieser Freiheitsgrade ausgestattet ist (Glanville 1982). Die Selbstorganisation des Systems kann nur unter Einschluss eines Beobachters, der Unterscheidungen trifft und damit Einschränkungen vornimmt, beschrieben werden.
Diese selbstreferenzielle Wendung des Systembegriffs führt den Begriff über seine technische und kybernetische Fassung hinaus. Die technische Fassung beschränkt sich auf die Beschreibung eines Systems als aus wechselnden Relationen zwischen heterogenen Elementen bestehend. Die kybernetische Fassung führt darüber hinaus die Vorstellungen des Zwecks, des Ziels sowie der positiven oder negativen Kontrolle von Abweichungen ein, die das System befähigen, sich von seiner Umwelt zu unterscheiden und in dieser Umwelt zu bewähren (Rosenblueth, Wiener a. Bigelow 1943). Die systemische Fassung des Systems rechnet darüber hinaus mit einer Selbstreferenz, die das System nichttrivial werden lässt, System weil es nicht nur einer Funktion der Transformation von Zuständen in Zustände folgt, sondern währenddessen eine eigene Zustandsfunktion abfragt, die es abhängig vom Zustand, in dem es sich jeweils befindet, zu unvorhersehbaren Reaktionen motiviert (von Foerster 1993, S. 233 ff.). Talcott Parsons’ Handlungstheorie, Heinz von Foersters Kybernetik 2. Ordnung, Humberto R. Maturanas u. Francisco J. Varelas Theorie autopoietischer Systeme (Autopoiesis) sowie Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme (Sozialsystem) haben seither unterschiedliche Begrifflichkeiten geliefert, um eine Systemtheorie auszuarbeiten, die Phänomenen der Selbstreferenz und damit einhergehenden erkenntnistheoretischen Problemen Rechnung trägt (Baecker 2005). Die wichtigsten Schritte hierbei sind:
• das Verständnis des Systems als Differenz und Selbstreproduktion (Talcott Parsons);
• die Modellierung des Systems mithilfe einer Mathematik der Eigenwerte nichtlinearer, rekursiver Funktionen (Heinz von Foerster),
• die Beschreibung der operationalen Schließung des Systems im Netzwerk der Elemente, aus denen es besteht (Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela);
• sowie die Temporalisierung der Operationen des Systems zu Ereignissen, die auftauchen und wieder verschwinden und damit das Problem der Fortsetzung des Systems laufend sowohl stellen als auch lösen, solange das System sich reproduziert (Niklas Luhmann)
Die systemtheoretische Begrifflichkeit und die systemische Praxis stehen zueinander in einer nur losen Verbindung. Hier wie dort rechnet man mit Grenzziehungen gegenüber einer Umwelt, positiver und negativer Rückkopplung (Kopplung), operationaler Schließung und Selbstreferenz, doch während die Systemtheorie das Problem des externen Beobachters fachwissenschaftlich, das heißt unter Verweis auf die Mathematik, die Biologie, die Psychologie oder die Soziologie überspringt, kann die systemische Praxis den doppelten Umstand, dass sie es mit Beobachtern zu tun hat und von Beobachtern praktiziert wird, nicht übersehen. Gruppendynamik, Familientherapie (Therapie), Organisationsentwicklung und Managementberatung (Beratung) haben es mit rekursiv geschlossenen Systemen zu tun, mit denen eine Interaktion gesucht wird, deren Effekte unvorhersehbar sind und dennoch als Medium einer Intervention verstanden werden. Die systemische Praxis oszilliert zwischen Intervention und Irritation, zwischen Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung und kommt nur in einem Prozessverständnis zur Ruhe, das diese Oszillation als unvermeidlich beschreibt. Die systemische Praxis verzichtet konsequenterweise auf eine Ausarbeitung der Beschreibung des Gegenstands (Gruppe, Familie, Organisation, Gesellschaft) als System und lässt sich stattdessen auf eine Interaktion mit einem komplexen Gegenüber ein, die nur im Medium der Selbstbeobachtung kontrolliert, das heißt auf mögliche Effekte hin beobachtet und variiert werden kann (Ashby 1958). Dem entspricht ein Systembegriff, der nicht auf die operative Schließung eines »Organismus« (eines lebenden psychischen oder sozialen Systems), sondern auf die Interaktion dieses Organismus mit einer Umwelt, in der sich weitere Organismen befinden können, abstellt (Ashby 1961). Man hat es mit der Entfaltung einer leeren, weil für den Organismus wie für den Beobachter uneinsehbaren Selbstreferenz im Medium variierbarer Fremdreferenz zu tun.
Verwendete Literatur
Ashby, W. Ross (1958): Requisite variety and its implications for the control of complex systems. Cybernetica 1: 83–99.
Ashby, W. Ross (1961): Principles of self-organization. In: Heinz von Foerster a. G. W. Zopf jr. (eds.): Principles of self-organization. New York (Pergamon), pp. 255–278.
Baecker, Dirk (2005) (Hrsg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesbaden (VS).
Foerster, Heinz von (1993): Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Glanville, Ranulph (1982): Inside every white box there are two black boxes trying to get out. Behavioral Science 27: 1–11.
Rosenblueth, Arturo, Norbert Wiener a. Julian Bigelow (1943): Behavior, purpose, and teleology. Philosophy of Science 10: 18–24.
Weaver, Warren (1948): Science and complexity. American Scientist 36: 536–544.
Weiterführende Literatur
Baecker, Dirk (2002): Wozu Systeme? Berlin (Kadmos).
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).