autobahnuniversität / Hans-Georg Gadamer - Wahrheit und Bewusstsein

Was lernt, wer Medizin studiert und als Wissenschaft lernt? Wofür? Und was kommt dann? Im hier dokumentierten Vortrag vor Medizinerinnen und Medizinern aus dem Jahr 1996 geht der große Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) der Frage nach dem Verhältnis von Bewusstsein und Wahrheit im Kontext von Gesundheit und medizinischer Wissenschaft und Praxis auf die Spur. Gadamer bringt es auf diesen Punkt: Wer die Wissenschaft gelernt hat, muss dann erst noch lernen, Arzt oder Ärztin zu sein. Wie für alle anderen pädagogischen Bemühungen, so gilt auch für ärztliches Leben und Lernen: Pädagogik heißt, sich frei zu machen, um andere frei zu machen. Gesundheit kann man nicht machen.


Aus der griechischen Antike gibt es laut Gadamer für den Begriff „Bewusstsein“ kein wirkliches Pendant bzw. keinen echten Vorläufer. Trotzdem, oder gerade deshalb, eröffnet Gadamer seine Reflexionen mit einem Bezug zu drei Aussagen des vorsokratischen griechischen Arztes und Philosophen Alkmaion (6./5. Jhdt. v. Chr.):



  1. Die Menschen nehmen nicht nur etwas wahr, sondern sie begreifen.

  2. Die Menschen sind nicht in der Lage, das Ende mit dem Anfang zu verbinden, und gehen daran zugrunde.

  3. Gesundheit ist Verhinderung von Monarchie. Sie ist Einklang des Gegensätzlichen und Gleichgewicht. Aber man kann Gesundheit nicht beherrschen.


In eindringlichen Gedankenbewegungen kommt Gadamer im Anschuss an die zweite Aussage Alkmaions zu der zentralen Frage, die sich allen Menschen stellt: die Frage nach Sterblichkeit und Endlichkeit; die Frage nach dem Tod. Hier stellt sich die Aufgabe – ausgehend von der Vorstellung des Todes als Lebenskraft, den Menschen in sich tragen –, in ein orientierendes Bewusstsein von größeren Zusammenhängen zu kommen. Die eigene Endlichkeit steht in Zusammenhängen mit Unendlichem, die eigene Begrenztheit findet sich im Bezug zum sie umgebenden Unbegrenzten. Das Geheimnis der Gesundheit schließt auch die Frage ein, welchen Bewusstseins und welcher Erfahrungen mit Bewusstsein es bedarf, um im Einklang mit sich selbst zu sein.


Hans-Georg Gadamer ist einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er folgte mit 48 Jahren Karl Jaspers auf dessen Lehrstuhl in Heidelberg. Gadamer lebte und lehrte bis zu seinem Tod in Heidelberg. Er verstarb 2002 im Alter von 102 Jahren.


Gadamers philosophische Hermeneutik steht in der Tradition der Phänomenologie von Edmund Husserl und Martin Heidegger. Sämtliche renommierten philosophischen Ansätze und deren zeitgenössische Vertreter in der ganzen Welt haben Gadamers Ideen wahrgenommen, integriert und ausführlich diskutiert. Richard Rorty, Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel, Giorgio Agamben - um nur einige zu nennen – haben mit Gadamer ausführlich debattiert. Ihre Arbeiten wurden dadurch teils stark beeinflusst.