Brief 14 - Vasubandus drei Selbstexistenzen - von Oliver

Liebe Andrea,


irgendwie scheint sich der Kreis auf eine fast schon ideale Weise zu schließen, denn die berührenden und tiefgründigen Zitate aus der Feder Deines Großonkels Paul passen zu den drei unabhängigen Selbstexistenzen, die ich in meinem letzten Beitrag erwähnt habe, und die mich intensiv beschäftigen, schon seit ich zum ersten Mal von ihnen gehört hatte in einem längeren Gespräch mit Matthias Varga von Kibéd, in dem es ebenfalls um verschiedene Verständnisse von Konstruktivismus ging.


Vasubandus drei Selbstexistenzen


Matthias unterscheidet dabei zwischen einem radikalen Konstruktivismus und einem konsequenten Konstruktivismus. Er geht dabei auf eine der ältesten bekannten Quellen einer konstruktivistischen Theorie ein, den Madhyamika-Buddhismus (2. – 8. Jahrhundert) von Nagarjuna. Eine der zentralen Ideen dort ist die sogenannte Prattiitya Samuthada, was übersetzt so viel heißt wie Interdependenz oder abhängiges Entstehen oder in einer anderen Übersetzung auch Das-in-wechselseitiger-Abhängigkeit-voneinander-Entstehen-der-Erscheinungen. Dass also nichts betrachtet werden kann, ohne es auf die Bezogenheit mit anderem zu betrachten. Man könnte sagen, dass dies eine Art systemischer Grundbegriff ist, auf dem die ganze systemisch-konstruktivistische Theorie aufgebaut werden kann.
Nun gibt es eine Kritik an dieser Idee bei Vasubandu (ca. 350 – 400), der darauf hinweist, dass es drei sogenannte Selbstexistenzen gibt, die aus dem Konstruktivismus herausfallen. Also etwas, das ich betrachten kann, ohne dass ich es schon in der Verwobenheit mit etwas anderem betrachten muss. Es geht also um Dinge, die ein konsequenter Konstruktivist für sich als gegeben annehmen muss:


1. Das, was erscheint – das Interdependente, dass unsere Wirklichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander besteht. Die Einsicht, dass wir kein wirkliches Verständnis von Systemen haben, ohne die Bezogenheit auf andere Systeme. Dies kann ich als gegeben betrachten, ohne es schon auf anderes beziehen zu müssen.


2. Das, wie es erscheint, das Konstruierte. Die Konstruktion, die wir uns über die Welt machen, ist etwas anderes als die Erscheinung, auf die sich die Konstruktion bezieht.


3. Die Unauffindbarkeit von dem Interdependenten im Konstruierten (wir bilden uns Modelle, und das, was wir versuchen zu erfassen, erfassen wir nicht vollständig, was uns aber nicht davon abhalten soll, unsere Modellbildungen ständig zu verbessern im Wissen darum, dass wir damit die Wirklichkeit nie ganz erkennen können.)


Daraus könnte man ableiten, dass ein*e konsequenter Konstruktivist*in folgende Nicht-Konstruktionen berücksichtigen sollte:


1. Die Gegebenheit von Interdependenz.


2. Die Gegebenheit von Konstruktionen.


3. Die Notwendigkeit des Versuchs der Verbesserung von Modellen im Wissen darum, dass diese die Wirklichkeit nicht letztlich erfassen. (Wer sich für die Original-Ausführungen von Matthias Varga von Kibéd interessiert, findet diese hier: https://youtu.be/jSFeO1lyadY )


Diese drei unabhängigen Selbstexistenzen beschäftigen mich deswegen so intensiv, weil sie letztlich die Frage der Suche nach Sinn, Wahrheit – oder wie man es auch immer nennen will – betreffen. Und so verstehe ich – in anderen Worten – auch die Aussagen Watzlawicks: Dass es ein sinnvolles Unterfangen ist, nach dem Sinn (oder der Wahrheit) zu suchen, im Wissen ihn (oder sie) nie ganz erfassen zu können, und dass es aber auch unsinnig wäre, nur deshalb die Suche sein zu lassen. Wenn ich unseren ganzen Dialog hier betrachte, dann ging es mir immer darum zu beschreiben, dass Schemata und Modelle, die syntaktisch verwendbar sind und auf logischen Grundstrukturen oder Archetypen beruhen, fortgeschrittene Konstruktionen sind, sich der Wahrheit anzunähern, Hilfestellungen, um die eigene Situation zieldienlich zu sortieren und ihr bewusst Bedeutung zu geben, im Wissen darum, dass sie keine allgemein gültige Wahrheit darstellen, sehr wohl aber eine im Moment für die jeweiligen Personen zeitlose Wahrheit – im Sinne der Stimmigkeit. Denn, wie schon in meinem letzten Text angedeutet, geht es mir bei diesen syntaktischeren Schemata und Modellen nicht um die Beschreibung einer Wahrheit, sondern um das zur Verfügung-Stellen von geeigneten Mitteln, die eigene (immer wieder) neu zu finden.


In diesem Sinne – auf den konsequenten Konstruktivismus!


Herzlich, Oliver


 


Sommer-Ausblick – Impressionen zu Watzlawicks Reise-Destinationen


Lieber Leser!


Den Sommer über schenken wir Ihnen Einblicke in Urlaubs- und Reise-Destinationen von Paul Watzlawick, die dieser in seinen frühen Jahren gesammelt hat. Viel Freude mit den Vintage-Impressionen!


 


Oliver Martin
Oliver Martin

Luzern, ist Gesellschafter Trigon Entwicklungsberatung, Organisationsberater BSO, Mediator SDM, Senior Coach DBVC, Lehr-Trainer DGfS, Master Trainer infosyon, Dozent Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule Luzern, Hochschule der Künste Bern, Milton Erickson Institut Heidelberg, Metaforum SommerCamp, Gast-Dozent Universität Tiflis; Berät seit 2003 Organisationen der freien Wirtschaft, des NGO-Sektors und von Verwaltungen sowie im Zusammenspiel Politik-Gesellschaft-Wirtschaft; Leitung von Lehrgängen in Organisationsentwicklung, Mediation und Persönlichkeitsentwicklung. Forschungsschwerpunkt: Verbindung der Trigon-Beratungsmodelle mit den hypnosystemischen Konzepten von Gunther Schmidt und den syntaktischen Ideen und Formaten des SySt-Instituts zu einem systemisch integrierten Beratungsansatz.




Bardia Monshi
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/