Sinn

engl. meaning, franz. sens m; bezeichnet das Verwenden der Unterscheidung »aktuell/potenziell«. Sinn ist Auswahl aus anderen Möglichkeiten. Wir haben die Welt sinnförmig – als gewählte (!) Be-Deutung. Sinn ist eine der Bedingungen der Möglichkeit von Psychotherapie (Psyche; Therapie). Das Theoriestück des Sinns entnimmt die Systemtheorie Niklas Luhmanns der Phänomenologie Edmund Husserls. Die Welt erscheint (griech. phainein = »erscheinen«) nicht »an sich«, sondern so, wie das Bewusstsein sie erkennt: sinnförmig. Eine Katze hält sich selbst nicht für eine Katze: Erst das sinnhafte Bewusstsein interpretiert jenes Lebewesen so. Sinn ist »angesonnen« oder »hinbeobachtet« (Fuchs 2004). Am Ende von Fuchs’ Abhandlung steht (in Absetzung von Ludwig Wittgenstein): »Die Welt ist alles, was der Sinn ist« (Fuchs 2004, Satz 5.8.2). Sinn gehört zu den Grundbegriffen der Theorie (Luhmann 1971). Die obige Unterscheidung von Aktualität und Potenzialität impliziert Kontingenz. Der Sinn, den die Welt (»Welt an sich«) angesonnen bekommt, ist aktuelle Auswahl aus potenziellen Alternativen. Sinn kann daher – anders als Wahrnehmung – negiert werden. Sinn porträtiert nicht Welt, er formiert sie. Sinn ist nicht authentisch, sondern ironisch (im Sinne der Romantik), die Vernunft ein Glasperlenspiel.


Als Selektion verweist Sinn nicht auf Realität, sondern auf anderen, nicht ausgewählten Sinn (Selbstreferenzialität). In gewisser Weise ist Sinn haltlos: Er hält nicht an, er bietet keine Festigkeit, denn jeder Sinn verfließt in weiteren, alternativ auswählbaren Sinn hinein: Möglichkeiten, die man auch hätte wählen können. So hat Sinn keine Grenze, er ist nicht definierbar (wie auch Ich und Welt). Man kann nicht auf die andere Seite des Sinns gelangen. Das Auswählen selbst ist eine Operation. Die Operation ist das Unterscheiden und Bezeichnen (= Beobachten). Einheiten entstehen, indem Beobachtung die Grenze zwischen ihnen und dem Rest der Welt »hinsieht« und eine der beiden Seiten der Unterscheidung durch ein Sinnzeichen (Zeichen) hervorhebt. Die Unterscheidung mit den beiden Seiten und der Grenze dazwischen nennt Spencer-Brown (1997) eine Form. Sinn = Form + Bezeichnung. Die »Welt an sich« ist die unbeobachtete und unbeobachtbare Welt. Sinn ist Auswahl aus Gleichartigem, aus anderem Sinn; »Form« ist Auswahl aus anderen Formen. Mit der Unterscheidung von Form und Medium (gewählter Sinn/Sinnhorizont) trägt Systemtheorie dieser Überlegung Rechnung (entlehnt von Fritz Heider 1927 und modifiziert). Das Medium ist lose gekoppelt (Kopplung), während selektierter Sinn fest verkettet ist (= Sinnsystem). Das Medium selbst ist nicht beobachtbar; es ist errechnet als das »Woraus« aller beobachtbaren Formen. Husserl knüpft Sinn an das Bewusstsein. Bewusstsein wird damit ontologisiert; ihm wird ein Selbststand als subiectum zugeschrieben. Aber wenn Bewusstsein als sinnförmig aufgefasst wird – Bewusstsein besteht nicht aus Molekülen –, müsste ihm eine Differenz zugrunde liegen. Luhmann (1984) postuliert daher ein zweites Sinnsystem: Kommunikation. Weder Kommunikation noch Bewusstsein existieren »an sich«, sondern jeweils als Differenz zum anderen (Bewusstsein zusätzlich als Differenz zu Gehirn bzw. Körper). Diese sinnprozessierende Systeme entstehen als »konditionierte Ko-Produktion« (Spencer-Brown 1997, p. ix; Fuchs 2004): Sie erscheinen nur zusammen (wenn auch mit unterschiedlicher Operation) oder gar nicht. Hier ist weder Henne noch Ei allein. Auf den Punkt gebracht:


»Phänomenologie ist hier weder gemeint als Erscheinen des Geistes in der Welt noch als Erscheinen der Welt im Geiste. Wir setzen weder das hegelsche noch das husserlsche Theorieprogramm fort, sondern begreifen Phänomenologie als Lehre vom Erscheinen der Differenz, und zwar zunächst: der Differenz des Wirklichen und des Möglichen« (Luhmann 2008, S. 15).


Sinn als Differenz ist nicht räumlich bestimmt. Ein Sinnsystem ist kein Container mit Inhalt: Das System ist seine Differenz zu seiner Umwelt. Sinnsysteme haben eine zeitlich organisierte Autopoiesis. Ihre Operation ist die Verkettung von Sinn in der Zeit. Ein Ereignis wird im Nachhinein mit Sinn versehen, während es mit seiner Zeitstelle entschwindet. Was bleibt, ist der Sinn. Damit dieser Sinn als Sinn beobachtet werden kann, muss ihm im (zweiten) Nachhinein ein zweites Sinnelement mit der Bedeutung »Dies ist Sinn« angefügt werden. Ein Sinnereignis ist kein Sinnereignis: Es muss ihm mindestens ein zweites folgen, das wiederum nur dann ein zweites ist, wenn ihm ein drittes folgt usw.: Sinn operiert stets als: Nachtrag (Derridas »différance« 1988; Fuchs 2004). Sinn ist nur systemisch zu haben. Nimmt man hinzu, dass ausgewählter Sinn auf Sinnverweisungen hinweist und diese zugleich durch Verkettungen ausschließt, so kann man sagen: Die Funktion von Systemen ist es, Dauer herzustellen. Die Verkettungen verknüpfen dauerhaft Sinnelemente – gegen die Zeit. Nur als System »bleibt« Sinn.


Erst seit man historisch die Kontingenz von Sinn denken kann, ist Psychotherapie möglich. Bis dahin waren Gespräche eher pädagogische Verfahren, in denen der Klient oder die Klientin auf die Wahrheit des Ratgebers oder der Ratgeberin getrimmt wurde. Psychotherapie setzt die jedem Sinn impliziten Verweisungen auf andere, ungenutzte Möglichkeiten voraus. Ereignisse können anders beschrieben werden. Und Psychotherapie setzt auf jene seltsame »Zuspätheit« von Sinn: Nicht, was ein Ereignis wirklich ist, ist die Wirkung, sondern welche interpretierenden Anschlüsse im Nachhinein das Ereignis qualifizieren. Das problemgebundene Sinnsystem wird »verflüssigt« (mit Humor genommen, ironisiert), es verrutscht in seine Verweisungsmöglichkeiten:


Man sucht die andere Seite der von Klienten und Klientinnen verwendeten Unterscheidungen. Man schlägt (z. B. mit der Wunderfrage) alternative erste Unterscheidungen vor.


Man ändert oder verlässt den Rahmen (Kontext), in dem die problematische Unterscheidung situiert ist (Streit im Bad statt im Bett). Man sabotiert Wirkung (auf Betroffene und andere) durch Alternativen. Man generiert alternative Nachträge.


Psychotherapie ist Sinnveränderungsmanagement (Management), sie ist ein Verfahren der Formverschiebung und Formabwandlung.


Verwendete Literatur


Derrida, Jacques (1988): Die différance. In: Jacques Derrida (Hrsg.): Randgänge der Philosophie. Wien (Passagen), S. 29–52.


Fuchs, Peter (2004): Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Beobachtungen. Weilerswist (Velbrück).


Heider, Fritz (1927): Ding und Medium. Symposion 1: 109–157.


Luhmann, Niklas (1971): Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Jürgen Habermas u. Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 25–100.


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luhmann, Niklas (2008): Ideenevolution. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Spencer-Brown, George (1997): Laws of Form/Gesetze der Form. Lübeck (Bohmeier).


Weiterführende Literatur


Emlein, Günther (2010): Zum Systembegriff in der systemischen Praxis. In: Maria L. Staubach (Hrsg.): Systemische Geschichten für Praktiker. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 21–49.