Caring Democracy
Caring Democracy oder Vom Tisch zwischen uns
Draußen zieht die Landschaft des Inntals vorbei. Weite Wiesen, der Fluss, die Berge, ein Wasserfall, der mir beim ersten Erkennen kurz den Atem nimmt und mich lange zurückschauen lässt, wie ich es als Kind getan habe. Irgendwann ist er tatsächlich nicht mehr auszumachen. „Nichts geschieht ohne den Ort, an dem wir gerade sind”, schreibt Astrid Habiba Kreszmeier in „Natur-Dialoge” (2021, S.13). Dieser Blog-Beitrag wird in dem Raum einer Reise von Graz in die Schweiz entstehen. Aus dem Sitzen in Fahrtrichtung, dem Zurückschauen und aus Gesprächen mit klugen Frauen und Männern, deren Stimmen sich eingemischt haben, sobald ich wusste, dass ich diesen Text schreiben werde, ihr kennt das vermutlich. Ein paar Stunden Fahrtzeit bleiben noch. Ich klappe das Tischchen im Railjet und meinen Laptop auf.
„In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, dass eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist.”
Hannah Arendt in „Der öffentliche Raum. Das Gemeinsame”,
Vita activa oder Vom tätigen Leben. 2021, S. 78
Tischgespräche
Vor etwa sechs Jahren habe ich gemeinsam mit Kolleginnen1 ein Format entwickelt, das sich auf einer informativen Ebene recht schnell beschreiben lässt: Wir bieten moderierte Erzählkreise an, in denen sich jeweils acht bis zwölf Personen, manchmal gleicher, öfter unterschiedlicher Generationen zu einem Thema über biografische Erinnerungen oder auch über weitergegebene Familiengeschichten austauschen. Die Themen sind jeweils so gewählt, dass sie sowohl aktuelle gesellschaftspolitische Relevanz haben, als auch transgenerational sozial- und zeitgeschichtlich Interessantes vermuten lassen. Es geht zum Beispiel um persönliche oder familiäre Erinnerungen von Krieg, Diktatur, Nationalsozialismus, um Erfahrungen mit demokratischen Prozessen, Beteiligung, Medien. Wir sprechen über Berufsbiografien von Frauen, Erziehung, Bildung, Ernährung oder Wohnen, besitzen und teilen, Individualismus und Gemeinsinn. Der Ort, an dem diese Erzählkreise stattfinden, ist jeweils ein anderer, wir sind nomadisch unterwegs, „lassen uns einladen” in Küchen, Wohnzimmer, Kulturhäuser, Ateliers. Wichtig ist uns, dass es dort, wo wir uns „niederlassen”, einen großen Tisch gibt, und die Gastgeber*innen bereit sind, einen Eintopf oder eine Suppe zu kochen und in die Mitte des Tisches zu stellen.
Erzählen als politische Handlung
Entstanden sind diese Tischgespräche aus unserem persönlichen und beruflichen Interesse für die dramatischen und traumatischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Als Journalistin, Historikerin, Kulturschaffende, Systemische Beraterin und Psychotherapeutin, aber auch in unseren Familiengeschichten und individuellen Biografien als „Kriegsenkelinnen”2, waren wir immer wieder mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus, der Shoah und mit den Widersprüchlichkeiten der Nachkriegszeit beschäftigt. Wir alle sind in Österreich aufgewachsen und in den 1970er und 80er Jahren zur Schule gegangen. Je nachdem, an welchen Orten mit welcher Geschichte wir das taten und welche Lehrer*innen wir hatten, wurden die Themen des Krieges und des Nationalsozialismus ganz unterschiedlich behandelt. Die Jahre 2015 und 2016 hatten uns erneut gezeigt, wie viele schräge Altlasten in den Knochen dieser österreichischen Gesellschaft stecken. In Verbindung mit einem neoliberalen „Weltverlust” (vgl. Hannah Arendt) eine gefährliche Mischung (und damals wussten wir noch gar nichts von 2021, seinen antisemitischen Verschwörungserzählungen und seinen offen demokratiefeindlichen Entwicklungen).
Über das erzählende Erinnern in einem sozialen Rahmen (vgl. Maurice Halbwachs 1925) zirkuläre „Fragen” in Richtung der Vergangenheit zu stellen, sollte diese brüchige Gegenwart etwas besser begreifbar machen und Handlungsmöglichkeiten im Hier und Jetzt lebendig und auch freudvoll erweitern.
„Erinnerungen sind eine sinnliche Angelegenheit. Wie formlos, unsichtbar oder abstrakt die Welt des Speichers sein mag, der Eintritt in unseren aktiven Gedächtnisraum geht nur über ein Bild, ein Symbol, einen Ort, eine Figur. Erst dann wird eine Ahnung zu Erinnerung und erst dann kann unser Bewusstsein Wahrnehmungen von Erinnerungen, Erinnerungen von Vorstellungen und Vorstellungen von Jetzt-Wahrnehmungen unterscheiden. Und das ist, wie wir wissen, ziemlich nützlich im Zusammenleben mit sich und der Welt.”
Astrid Habiba Kreszmeier in “Natur-Dialoge” 2021, S. 163
Raum anderer Möglichkeiten
Der Tisch, um den wir sitzen und ein schlichtes, wohlschmeckendes Eintopfgericht in der Mitte sind die strukturierenden und Atmosphäre schaffenden Elemente unserer Erzählkreise geworden. Dazu kommen das nomadische Weiterziehen, die wechselnde Gastgeber*innenschaft (und natürlich auch eine kundige Moderation und offene Teilnehmer*innen). Es sind die Dinge, die Sinnlichkeit, der Raum, die Form, die Bewegung, die gleichsam miterzählen. “Wie kann unser Geschichtsgedächtnis, das von Gewalt, Krieg und Herrschaftsstrukturen traumatisch besetzt ist, für freundlichere Erinnerungen durchlässig werden?” – fragt Astrid Habiba Kreszmeier (2021, S. 167) und erzählt von einer Erweiterung des Erinnerungshorizontes, von Erinnerungsräumen, in denen sie sympoietische Verbündete sieht.
Unsere Tischgespräche bewegen sich mit ihren Fragestellungen in individuell-sozial-kulturellen Gedächtnisräumen, oft sogar in genau jenen, die “traumatisch besetzt” sind. Wir begegnen uns für drei Stunden, meist Indoor, nur manchmal entfachen wir ein Feuer. Und doch: Tisch (Kreis), Topf (Gefäß), Suppe und Eintopf, nomadisches Weiterziehen zeigen sich für mich als diese Verbündeten, als lebendige Mitspieler*innen. Sie verhelfen uns zu einer Atmosphäre, die möglicherweise jener freundlichen Erinnerung die Türe öffnet.
Es handelt sich bei unserem Topf auf dem Tisch so gesehen um nicht weniger als einen Zauberkessel, der, liebevoll und kundig zubereitet und serviert, Nahrung, Düfte, Geschmäcker, aber auch Gastfreundschaft, Aufmerksamkeit, Sammlung, Konzentration, Tiefe und Verbundenheit zum Inhalt hat.
Der Tisch ist der Ort der Multiperspektivität, der Ort für das „Miteinander-Sein der Vielen und Verschiedenen” (vgl. Arendt 2007; Hark 2021). In der „Vita activa“ schreibt Arendt von der Massengesellschaft, in der „die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden. Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihrer Mitte verschwinden sieht, sodass nun zwei sich gegenüber sitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind“ (Arendt 2021, S. 78).
Wir wollen zumindest für die Zeit unserer Tischgespräche diesem „unheimlichen magischen Trick”, den wir im Dauerstress unserer Anpassungsleistungen an eine eben nicht mehr geteilte und menschengerechte Welt offenbar nicht einmal bemerkt haben, den Zauber anderer Möglichkeiten entgegenhalten. Den Zauber der gemeinsamen Welt, des öffentlichen Raumes, des Kreises, der Teilhabe, der Gleichen und Verschiedenen, der Anerkennung, des Nicht-direktiven-Leitens, des Sprechens, des Hörens, des Fragens, des Antwortens, des Zirkulären, des Weiblichen, der Pausen, der Körper, des Sinnlichen, der Resonanzen, des communi*carings, des Zwischenraums.
Communi*care3
Der Zwischenraum, das Dazwischen oder das Zwischen – Begriffe, die möglicherweise ambivalent und verunsichernd, ja gar bedrohlich daherkommen. Was kann in einem Zwischenraum schon Gutes zu entdecken sein? Die kurze Antwort ist: das Neue, das lebendig Verwandelnde.
Nicht ein unverbundenes Neues, das über uns hereinbricht, auch nicht eines, das wir versuchen aus uns selbst, aus unserem Ich zu entwickeln, sondern ein Neues, das mit den Verschiedenen, die – in unserem Fall, oder im Bild Hannah Arendts – um den gemeinsamen Tisch sitzen, verbunden ist. Das „Zwischen” ist in lebendiger Freundschaft mit der Sympoiese (Kreszmeier 2021; Haraway 2018), der Resonanz (vgl. Rosa 2016), dem Archipelischen Denken (Glissant 2005), dem Dritten Raum (Bhabha 2017) und sicher mit weiteren Ideen kluger Menschen.
Ein wirklich gutes Gespräch, ein Dialog, ein gelungenes Tischgespräch findet nicht im wechselnden Sprechen „mal ich”, „mal du”, sondern im Raum dazwischen statt.
„Diá meint [...] durch, hindurch, auseinander, zwischen. Der Diá-log(os) ist ein Fließen von Sprache und Sinn. Es ist ein suchendes Unterscheiden von Bedeutungen, ein Sinnfluss, der zwischen Menschen oder zwischen Menschen und der Welt entsteht. Es ist ein Gespräch, in dem alle zu Forschenden werden: im Dienst dessen, was im jeweiligen Raum und Moment zwischen allen Anwesenden gesagt, gesprochen und gehört werden kann.”
Kreszmeier 2021, S. 146
Im Zwischenraum des Tischgespräches lässt sich gewiss Vertrautes entdecken – „Bei uns war das genau wie bei Ihnen!” oder „Mir geht es da so wie Dir!” – aber besonders auch Differenz – “Da habe ich andere Erfahrungen gemacht!”, “In meiner Familie wäre das für eine Frau nicht denkbar gewesen!”, “Anders als Ihrer hat mein Vater viel vom Krieg erzählt, in unserer Familie wollte das aber niemand hören.” Differenz lädt zum Nachfragen ein – “Ich kann mir das garnicht vorstellen, woher hast du den Mut dazu genommen?”, “Wer oder was hat dir geholfen?”.
Aus unterschiedlichen Perspektiven kann ein bewegliches Gewebe entstehen – zwischen den Menschen und in der Zeit, weitere Erinnerungen können auftauchen, Nachdenklichkeit kann sich einstellen, etwas Neues sich zeigen. Der Zwischenraum ist offen für Unterschiede, die Unterschiede machen, wie die Systemiker*innen so schön sagen. Aus meiner Erfahrung ein belebendes Geschenk und auch demokratisches Lernen, das wir offenbar recht gut gebrauchen können.
„Caring includes everything that we do to maintain, continue, and repair our ‚world’ so that we can live in it as well as possible.”
Joan Tronto, Berenice Fisher in: „Toward a feminist theory of caring” 4
Zärtliche Bürgerlichkeit und Caring Democracy betitelt Sabine Hark die beiden abschließenden Kapitel ihres Essays „Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation” (Hark 2021). Sie bezieht sich in diesen Kapiteln unter anderem auf die Nobelpreisrede „The Tender Narrator“ der Schriftstellerin Olga Tokarczuk, auf Hannah Arendts „Menschen in finsteren Zeiten” und auf „Caring Democracy” der Politikwissenschaftlerinnen Joan Tronto und Berenice Fisher.
„Finstere Zeiten” seien „Sinnbild einer Welt, in der die Menschen verlassen sind und einander verlassen haben, sie den Erscheinungsraum zwischen ihnen zerstört haben und einander nicht mehr antworten. Wo sie näher an jene heranrücken, die sie als vertraut empfinden, und wo sie von den anderen nichts wissen wollen. Umschreibung für eine Welt ohne Sorge und ohne Gespräch. Die Antithese zu caring democracy” (Hark 2021, S. 219).
Tischgespräche sind caring democracy.
Literatur
Arendt, Hannah (2021): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper.
Bhabha, Homi K. (2017): Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Wien: Turia + Kant.
1 Initiatorinnen-Kreis: Petra Kohlenprath, Christine Blumenstein-Essen, Brigitte Hirner, Birgit Jellenz-Siegel, Dorothea Kurteu.
2 Für mich ist dieser Begriff ein aus mehreren Gründen unglücklicher, aber er ist nun einmal mittlerweile breit eingeführt, deshalb verwende ich ihn hier, ohne inhaltlich auf meine Vorbehalte einzugehen.
3 Vgl. dazu auch den gleichnamigen Blog-Beitrag https://www.carl-auer.de/magazin/wildes-weben/communicare
4 Zitiert nach Hark 2021, S. 221.
Kulturschaffende, Filmemacherin, Systemische Beraterin. Besondere Interessen: Erinnern und Erzählen als kulturelle und politische Handlung, Öffentlicher Raum und Demokratie, Unlearning. dorothea-kurteu.at/ medienwerkstatt-graz.org/
ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben.
Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Natur-Dialog Beratung, Systemischer Naturtherapie und Aufstellungsarbeit.
Sie ist Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches - das heisst auch für Öko-Systemisch-Feministisches.
Wirkt und schreibt, spricht in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand sowie über ihre persönliche Seite kreszmeier.org und als co-host des podcast sympoietics - Raum für Wechselseitiges.