Den Blick weiten

Den Blick weiten


von Heiko Kleve


 


Ich möchte den Vorschlag von Steffen Roth aufgreifen, dass wir uns aus der Fixierung unserer bisherigen Blicke auf Politik bzw. Staat und Wirtschaft lösen. Denn das Verhältnis dieser beiden Systeme lässt sich in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht passend beschreiben und erklären, wenn wir nicht zugleich konstatieren, dass es weitere Funktionssysteme mit ganz eigenen Beobachtungsperspektiven gibt. Diese Systeme werden möglicherweise nicht nur von uns, sondern im ganzen polit-ökonomisch überfrachteten medialen Diskurs übersehen und in ihren Eigenlogiken offenbar auch nicht verstanden.


Könnte es also sein, dass selbst das Gesundheitssystem und sogar das Wissenschaftssystem – zwei Systeme, die uns ja gerade medial täglich vorgeführt werden – von politischen und/oder wirtschaftlichen Perspektiven dominiert werden? Wäre es also denkbar, dass die aktuelle Krise noch mit überkommenen Problemlösungsstrategien bewältigt werden soll, also entweder mit Politik oder Wirtschaft, obwohl die Gesellschaft bereits viel mehr und weitaus differenziertere Möglichkeiten der Krisenbearbeitung hätte? Wenn ja, welche Möglichkeiten wären das? Welche Rollen würden die unterschiedlichen Funktionssysteme hier spielen?


Um Antworten auf diesen Fragen näher zu kommen, möchte ich sowohl Fritz Simon als auch Steffen Roth zunächst bitten, ihr Bild der funktional differenzierten Gesellschaft knapp zu skizzieren. Um welche Funktionssysteme geht es hier? Was sind deren Aufgaben? Wie erkennen wir deren Wirken in der aktuellen Krise? Und wäre nicht sogar die Forderung plausibel, dass wir mehr funktionale Abgrenzung, mehr Differenz der Systeme voneinander benötigen als das, was wir in der Anfangsphase der Pandemie erlebt haben, das mediale Einschwingen auf den einen Konsens?


 


 


Hierarchie und Krise


von Fritz B. Simon


 


Wenn das Haus brennt, ist keine Zeit in Muße die Pros und Contras des Löschens zu diskutieren. In Notfall- (bzw. so beobachteten/bewerteten) Situationen erweist sich Hierarchie als funktionell, um die Handlungen der beteiligten Akteure ohne zeitraubenden Kommunikationsaufwand zu koordinieren.


Daher ist es nicht verwunderlich, wenn auch in der sogenannten Corona-Krise der Staat schnell und drastisch entscheidet. Alle anderen Funktionssysteme bzw. ihre Akteure ordnen sich ihm dabei, wie zu sehen ist, unter. Große Teile der Wirtschaft sind in ein künstliches Koma versetzt, die freie Ausübung der Religion ist eingeschränkt, der Kulturbetrieb auf Selbstdarstellung im Internet reduziert, Schulen sind geschlossen, die Wissenschaft ist nicht beeinträchtigt, soweit sie zwei Meter Abstand hält, einzig das Gesundheitssystem scheint zu florieren. Allerdings täuscht das, denn es sind lediglich Virologen und Epidemiologen, die zu Wort kommen, und über Macht verfügen auch sie nicht, da sie lediglich den Entscheidern in der Politik Argumente und Legitimationen für ihre Anordnungen liefern.


Diese Funktion des Staates wird von der Bevölkerung bislang akzeptiert, denn nur so lässt sich deuten, dass dessen Vorgaben weitgehend befolgt werden; gegen breiten Widerstand wären sie nicht durchzusetzen bzw. zu kontrollieren.


Wie von Organisationen, aber auch von Individuen, wird vom Staat in unbekannten Notfallsituationen auf bekannte Routinen zurückgegriffen. Die angeordneten Maßnahmen der Seuchenbekämpfung wurden schon bei den Pestepidemien im Mittelalter angewandt.


Obwohl die Funktionalität (und Intelligenz) hierarchischer Entscheidungsfindung auf Situationen beschränkt ist, in denen keine Zeit zur Reflexion und zur Aushandlung von Konflikten zwischen unterschiedlichen Sichtweisen, Beschreibungen, Bewertungen, Interessen usw. besteht, ist die Versuchung für Hierarchen groß, einmal eingeführte autoritäre Strukturen auf Dauer zu stellen (siehe Ungarn, China, ...). Das ist ein nicht zu unterschätzendes Risiko, denn es führt zur Verblödung des Staates.


Was diese Krise aber gezeigt hat, ist, dass Staaten in der Lage sind, auf eine Umweltkrise radikal zu reagieren. Denn die Bedrohung durch einen Virus, gegen den „der Mensch“ noch keine Abwehrmechanismen entwickelt hat, stellt die Prämissen jedes Gesellschaftssystems in Frage: den nicht-kranken menschlichen Organismus (=Kollektivsingular) als relevante Umwelt des öffentlichen Lebens. Doch die Akzeptanz solcher, die Freiheiten einschränkender Maßnahmen ist daran gebunden, dass die Gefahr alle betrifft. Wenn, differenziert werden kann, dann werden die vermeintlich Nicht-Gefährdeten, d.h. die Nicht-Diabetiker, die Jungen und die Mecklenburger den Konsens aufkündigen... (erste Absetzbewegungen sehen wir gerade). Krankheit wird dann wieder als privates Problem definiert und durch das sogenannte Gesundheitssystem (als Reparaturbetrieb) individuell behandelt.


Zurück zur Bedeutung der anderen Funktionssysteme bei der Bewältigung der Krise: Ihre Zeit kommt erst nach der Krise, wenn die Krise nicht mehr als Krise beobachtet wird, d.h. bei der Aufarbeitung eventueller Traumatisierungen.


Allerdings könnten in Zukunft Forderungen nach radikaleren Umweltschutz-Maßnahmen nicht mehr mit dem Argument, das alles sei nicht durchsetzbar, abgetan werden. Nötig dürfte dafür aber wieder ein kollektives Gefühl der Bedrohung des eigenen Überlebens sein.


 


 


Staatstherapie für Therapiestaaten


von Steffen Roth


 


Wenn das Haus brennt, kann allerhand passieren. Was aber ungleich öfter passiert ist Fehlalarm. Alarm als Dauerzustand ist Nährboden für den eigentlichen Flächenbrand. Auch wer fest an die aktuelle Krise glaubt ist daher gut beraten, Alarmismus ebenso nachhaltig zu neutralisieren wie das Risiko, das ihn triggert.


Einen Kurzschluss von Alarm auf Politik gibt es dahingegen selbst dann nicht, wenn man sie mit Hierarchie verwechselt: Der Weg zum Notfall und dahinter führt oft auch über Netzwerke, während in Bundesligatabellen definitiv keine Machtspielergebnisse stehen. Indem wir Politik, Staat und Hierarchie konzeptionell nur lose koppeln, können wir nun zwar nicht mehr beobachten, dass sich alle «anderen» Funktionssysteme dem Staat unterordnen, dafür steigt aber der Beobachtungspielraum:



Die Diapositive zeigen staatliche Präferenzen für die Funktionssysteme [im Uhrzeigersinn von Sport (Schuh) aus: Massenmedien, Recht, Gesundheit, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, und Recht]. So lassen sich unterschiedliche Staatsformen unterscheiden: links der neoliberale Idealstaat mit nahezu ausschliesslichem Fokus auf Wirtschaft, Recht und Politik. In der Mitte ein allseits investierter Wohlfahrtstaat mit Schwerpunkt Brot und Spiele, was auch in der spätmodernen Variante Kultur- und Medienkonsum einschliesst. Rechts ein «neu-normaler», «blauer» Gesundheitspolizeistaat, in dem Wirtschaft und Recht wenig Gewicht haben, wenn Gesundheit und Wissenschaft zu dem Schluss kommen, dass Leben auf dem Spiel steht.


Im Ergebnis dieser Übung entsteht zunächst einmal eine klare Antwort auf die Frage, wo sich die von Fritz Simon beobachteten Über- und Unterordnungen von Politik und Wirtschaft überhaupt abspielen: hier eben in der Organisation Staat, wie andernorts in Unternehmen, Universitäten oder Sportvereinen. Weiterhin sieht man, dass sich auf diese Weise unterschiedliche Organisationsformen vergleichen lassen. So zeigt sich zu guter Letzt auch, dass Staatsformen weniger davon abhängen, was Bürger gut oder schlecht finden, als vielmehr davon, mit welchen Codes welcher Funktionssysteme sich Staaten jetzt und in Zukunft selbst programmieren.


Wenn dabei Gesundheit nun eine bislang ungeahnte Rolle spielt, dann besteht mitunter Anlass zur Sorge, dass sich mit den von Fritz Simon beschriebenen mittelalterlichen Eindämmungsmassnahmen weitere feudale Strukturmuster ausbreiten. Das wäre allerdings weniger neu als normal, war unser «Gerangel» um Wohlfahrt doch immer mehr höfisch als modern. Insofern würde momentan nur überdeutlich, dass ein Wohlfahrtsstaat totalitär ist, sobald er Hilfsbedürftige schützt, indem er alle wie Hilfsbedürftige behandelt.


Gleichzeitig zeigt die drohende Ausweitung der wohlfahrtsstaatlichen Kampfzone, dass sich der Staat auch dann weder «der Gesundheit» noch gesundheitswissenschaftlichen Abteilungen unterordnet, wenn er sich äusserst stark von ihnen irritieren lässt. Gleiches gilt aber auch in Gegenrichtung: Der Staat kann Krisenunternehmen womöglich zu mehr Politikbeobachtung zwingen. «Die Wirtschaft» hat er damit noch lange nicht im Sack.


Dass aktuell die politische Stunde der Gesundheit schlägt hat auch Vorteile. So reduziert der neu-politische Gesundheitsfokus anderswo den Beobachtungsdruck und schafft Raum für tatsächlich Neues. Gleichzeitig entstehen im Zuge der Krise eben neue Ansatzpunkt für eine Gesundheitswissenschaft und -profession, die sich der pandemischen Politik nicht untergeordnet, sondern an die Seite gestellt denkt. Indem wir den Gesundheitsbegriff auf Organismen, Psychen und – warum dann nicht auch – soziale Systeme beziehen, schlägt die Stunde auch und gerade der Kommunikationsberatung und -therapie jetzt, und nicht erst fünf nach zwölf.


Es ist gelinde gesagt nicht ganz ausgeschlossen, dass diese Krise in Gestalt und Ausmass auf wechselseitiger Fehleinschätzung von politischer und wissenschaftlicher Kommunikation beruht. Die Einsicht in dieses Kommunikationsproblem wäre eine goldene Brücke für den Weg aus der Krise. Wie Kriegsseelsorger Soldaten nicht erst nach Ende des Krieges ihr Ohr schenken, so kann an dieser Brücke in Nachkrisenzeit bereits jetzt gebaut werden, und somit ein versöhnlicher Raum geschaffen werden, in dem sich politische und wissenschaftliche Entscheidungsträger mit genügend Zeit und in allen Ehren von der Last alteuropäischer Herrschafts- und Gewissheitserwartungen verabschieden können.


All das wäre für systemische Denker nicht neu, sondern einfach nur normal, und somit machbar.


 


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).