Erzähl mal!

„Da bist du ja schon wieder!“, sagt mein Wein. „Wolltest du nicht deinen Erziehungsmaßnahmen im Weinberg nachkommen?“


„Doch nicht bei dem Wetter, es ist gefühlt -5° bei diesem kalten Tramontane.“


„Und was willst du dann hier im Cave? Willst du dich aufwärmen?“


„Was macht es mit dir, wenn ich sage, ich vermisse das Gespräch mit dir?“


„Hast du nicht selbst gesagt, ich solle mal mehr mit meinem neuen Partner Mourvèdre sprechen? Wozu sonst die Assemblage?“


„Schon gut, aber ich werde doch noch mal fragen dürfen, wie es euch damit so geht. Noch fühle ich Verantwortung für euch.“


„Na dann frag doch mal!“


„Also gut: Wie geht’s dir denn mit der Assemblage?“


„Frag mich nicht, frag mich nicht … Ich glaube, ich bin verwirrt. Letztens hast du von wichtigen Schritten in der Identitätsentwicklung gesprochen. Also haben wir auch darüber gesprochen, was wir jetzt sind. Aber eigentlich wüssten wir gerne, wer wir sind. Und, um mal zu kalauern, wenn ja, wie viele? Bin ich noch dein Wein? Bin ich dein Wein und Mourvèdre? Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Wir haben vor allem darüber gesprochen, was so bei uns im restlichen Körper vorgeht.“


„Nicht untypisch für den Entwicklungsschritt. Aber erzähl mal, wie ihr euch so seht.“


„Erzähl mal, erzähl mal! Wir wollen Aufklärung und keine Märchenstunde!“


„Aber eine Märchenstunde wäre jetzt genau das Richtige! Du willst, wenn ich dich richtig verstanden habe, nicht wissen, was ihr seid, sondern wer ihr seid bzw. wer du bist. Schon der deutsche Philosoph Walter Benjamin hat das Märchen zum ‚ersten Ratgeber der Menschheit‘ erklärt. Und damit meinte er, dass diese Erzählform eine der ältesten und frühesten Möglichkeiten ist, zum eigenen Identitätsbewusstsein und damit zum Selbstkonzept beizutragen.“


„Ist das der Benjamin, den ich kenne? Die älteren Stöcke in unserem Weinberg haben erzählt, dass er vor ungefähr 80 Jahren als Winzer verkleidet bei uns vorbeigekommen ist.“


„Ja, das war sein Weg auf der Flucht über die Grenze. Und er ist von unserem Dorf aus gestartet.“


„Jetzt, wo du es so erzählst, macht es schon was mit mir: Der alte Benjamin und meine Vorfahren! Und ich bin froh, dass du diesmal nicht mit den postmodernen französischen Philosophen startest.“


„Warte ab, mir wird schon noch einer einfallen. Aber jetzt möchte ich dir erst mal durch gemeinsames Erzählen deutlich machen, wie wir der Frage, wer du bist – und eventuell wie viele – näherkommen können. Jedenfalls haben wir in Benjamins Kindheitserinnerungen Berliner Kindheit um 1900 einige Beispiele für das Selbstverständnis des Autors, beispielsweise in der Geschichte vom ‚bucklicht Männlein‘, und sie lassen erahnen, wie diese ersten Geschichten – seien sie auch noch so grausam und die darin enthaltene Moral auch noch so plakativ – das Selbstbewusstsein und damit die Identitätsentwicklung von Heranwachsenden prägen. Und so tragen auch Erzählungen und die Art ihrer Vermittlung gerade dazu bei, nicht nur zu begreifen, was wir sind, sondern auch wer wir sind.“


„Ach, du bist auch so ein ‚Narrativer‘! Es gibt ja heute nichts mehr an Sprechblasen, was nicht gleich als Narrativ bezeichnet wird. Noch so ein Modewort, das durch Ausweitung seines Umfangs zunehmend an inhaltlicher Trennschärfe verliert, so wie neulich noch ‚Diskurs‘. Wenn alles Diskurs ist, dann hilft doch nur noch Klappehalten, wenn alles ein Narrativ ist, dann gute Nacht!“


„Ich gebe dir Recht. Auch eine Biersorte hat neulich in den USA ihr großes „Einwanderer-Narrativ“ verbreitet. Wusstest du übrigens, dass eines der großen US-Narrative, dass seit den Gründervätern jeder freie Amerikaner ein unverbrieftes und notwendiges Recht auf Schusswaffen habe, historisch unhaltbar ist und zu sicherlich mehr Toten geführt hat als unser neoliberales „Ich-bin-so-frei“-Narrativ: Freie Fahrt für freie Menschen.
All dies Narrativ-Gedöns diskreditiert nur die entwicklungsnotwendige Macht erzählter Geschichten. Ja, ich bin ein Anhänger der narrativen Therapie von White. Aber ich sehe mich eher in der Tradition von Milton H. Erickson und meinem Freund Bill O’Hanlon als Storyteller, als Geschichtenerzähler. Aber auch hier entwickelt sich der Storytelling-Ansatz, wie er so kreativ bei uns etwa von Geislinger konzipiert wurde, im Bereich des Coaching und des Marketing schon wieder inflationär.“


„Ich weiß nicht, was du gegen Bier hast“, sagt mein Wein. „Du weißt, dass die Erntehelfer Statt der drei Liter Wein, die ihnen täglich zustehen, lieber zum Abschluss ein kaltes Bier haben wollen. Und was die Wein-Narrative betrifft: Unsere Cooperative Cave aux Templiers bedient sich ja bei den Tempelrittern auch eines Ur-Väter-Motivs.
Und wo du die US-amerikanischen Gründerväter erwähnst: Bei den gegenwärtigen Streiks und Manifestationen wird doch deutlich, wie Narrative deren Verlauf und deren Selbstverständnis beeinflussen. Vergleich doch mal die amerikanischen waffenstrotzenden Erstürmungen mit den französischen Streiks, die ihre Barrikadenmentalität aus den Errungenschaften ihrer Revolution ableiten! Und wenn ich dann nach Deutschland schaue: Neulich musste euer Bundespräsident erst einmal an 175 Jahre Revolutionsversuche erinnern, ehe einige bereit waren, Streiks und Klimaproteste nicht mehr als Ordnungswidrigkeiten anzusehen.
Im Übrigen werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich hier doch nur aufwärmen willst, während du uns zutextest.“


„Uns?“, frage ich. „Du weißt also schon, wie viele Du bist? Meine Absicht ist, dir deutlich zu machen, wer du bist, indem du dir Geschichten anhörst. Vor allem Geschichten über dich. Und dazu gehört sicher auch, dass uns dabei warm wird. Wenn die Geschichten dich nicht erwärmen würden, hätten sie wenig Einfluss. Es kommt also auch darauf an, wie sie erzählt werden. Und eh ich es vergesse: Du bist doch sicher immer noch gespannt, wie ich die französischen postmodernen Philosophen in diesem Text unterbringe. Also gut, hier ist der erste: Jean-François Lyotard, der Gründervater der Postmoderne.
Auch bei Narrativen lag, wie schon bei der Assemblage-Theorie im vorigen Blogeintrag, ein Übersetzungsproblem vor. Lyotard sprach von den „grand recits“, den philosophischen Metaerzählungen in der Folge von Kant und Hegel, die es in der Postmoderne zu überwinden galt. Als angemessene Übersetzung dieser großen Erzählungen im angloamerikanischen Sprachraum galten nun nicht das etwas saloppe Storytelling, sondern die gewichtigeren „grand narratives“. Und da bald jedes Narrativ, mit dem man sich in der Folgezeit beschäftigte, irgendwie groß war, schrieb und sprach man bald nur noch von Narrativen. Das machte es auch einfacher, den Begriff gehörig aufzublähen. Bei dem vorhin erwähnten Kindertherapeuten White war es noch die ursprüngliche, im Englischen wie im Deutschen seit Jahrhunderten benutzte Bedeutung des Erzählens und Geschichtenerfindens. Es waren die kleinen, aber feinen Erzählungen, die individuelle Identitätsprozesse erleichterten, ja erst ermöglichten.
Und viele Autoren, von Walter Benjamin bis Michael White, machten sich Gedanken darüber, wie Erzählungen wirken, damit Leser und Zuhörer eine Ahnung davon erhalten, wer sie denn seien. Wenn du also wissen willst, wer du bist, dann lass dir erzählen, und vor allem: Lass dir von dir erzählen und lies nicht diese Kaffeefahrt-Philosophien, die bestenfalls etwas Historisches über andere anbieten – und vielleicht etwas darüber, was der Mensch denn so ist oder sein könnte.“


„Das heißt, dein In-der-Nähe-Sein dient nicht nur dazu, dass du dich an und mit mir aufwärmst. Du bist als einbindende Kultur noch in der Nähe, um mir (oder uns) zur Selbsterkenntnis zu verhelfen, wer ich denn bin – und vielleicht auch wie viele? Und das durch Erzählen? Mir wird erzählt, also bin ich?“


„Also, wo soll ich anfangen? Du merkst, dass ich nichts unversucht lasse, deine Aufmerksamkeit zu erreichen. Eine offene Frage soll auch bei dir Suchprozesse auslösen: Na, womit wird er nun anfangen?“


„Also fang schon an und verschon mich mit deinen Metaüberlegungen! Solange du nicht noch mehr regredierst und beginnst: „In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat …“ Versuch mal lieber auf den Punkt zu kommen, zunächst interessiert mich das Wie des Erzählens überhaupt nicht. Also, was willst du mir sagen? Und im Übrigen: Ich halte dich zwar nicht für einen Kaffeefahrt-Philosophen, aber mehr als ein Weinproben-Philosoph bist du ja nun auch nicht.“


„Also gut, dann mal anders: Ich erzähl dir zunächst, wie ich mich der Frage genähert hab, wer ich bin.“


„Bist du denn auch eine Assemblage?“


„Zunächst habe ich mich gefragt: Was ist das Besondere des Menschen?“


„Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das in zehntausend Meter Höhe ein Glas Rotwein zu sich nehmen kann, wie Loriot definiert haben soll.“


„Eine Möglichkeit, aber könnte das nicht auch ein Affe, der dort oben mit dem Flugzeug transportiert wird, vorausgesetzt, er mag dich?“


„Meinst du, mich zu mögen hat etwas mit Vernunft zu tun?“


„Es gibt Leute, die das bezweifeln, und es gibt zahlreiche Beobachtungen, nach denen sich nicht nur Affen, sondern auch andere Säugetiere und sogar Vögel ganz ohne Vernunft besoffen haben.“


„Also du meinst, der vernunftbezogene Gebrauch von Rotwein ist nur dem Menschen eigen?
Daran zeigt sich der Mensch als vernunftbegabtes Wesen?“


„Du bringst mich noch um den Verstand!“


„So wie ich gehört habe, wärst du nicht der erste, den der Wein um den Verstand gebracht hat …“


„Aha, du weißt also, was du bewirken kannst! Dieses Wissen über deine Identität hast du aus einer Erzählung über dich. Du bist jemand, der andere anregen oder berauschen kann, glücklich machen oder um den Verstand bringen kann. Du bist Wein.“


„Hast du deshalb in den letzten Monaten so viel mit mir gesprochen?“


„So selbstlos bin ich ja nun auch nicht. Auch ich habe dir zugehört, und jedes Gespräch hat zu meiner eigenen Identitätsfindung beigetragen, zumindest als Coach im Weinberg.“


„Du meinst also, dass Identitäten sich ständig verändern?“


„Ja und nein. Soll ich dir das mal mit einem weiteren französischen Postmodernen erklären oder lieber anhand des alten Holzfasses, das hier neben dir liegt.“


„Du meinst das, wo Rancio draufsteht? Erst mit dem Postmodernen, dann haben wir es hinter uns.“


„Also gut. Erst Ricoeur, dann Rancio.“


Mein Wein lächelt gequält und signalisiert mir, dass er meine Kalauer nicht mag. „Soll ich auch mal Kalauern: Wer Sorgen hat, hat auch Ricoeur.“


„Paul Ricoeur unterscheidet zwei Arten der Identität: Das gleichbleibende ‚idem‘, also das Konzept, ‚derselbe‘ zu sein, und der Aspekt des ‚ipse‘, des ‚man selbst‘ zu sein. Wenn wir uns als derselbe erleben, bestätigen wir unsere Kohärenz. Wir erleben uns als vorhersagbare und zuverlässige Person. Und im Umgang mit anderen präsentieren wir uns auch gerne selbstbewusst als diese kohärente Persönlichkeit. Und doch gehört zum Bewusstsein des ‚man selbst‘, dass wir neue Erfahrungen und Erzählungen über uns abgleichen. Indem wir darüber reflektieren, lernen wir dazu: Wir verändern uns. Eine Grundidee des Beratungsansatzes nach Carl Rogers ist nach meiner Wahrnehmung, die Kohärenz stimmig mit neuen Erfahrungen abgleichen zu können, wenn Diskrepanzen unsere Identität bedrohen. Und was wir in unserem lösungsorientierten Vorgehen versuchen, ist, mit Fragen und Geschichten Reflexionsprozesse in Gang zu setzen, die allzu sperrige Kohärenzen auflösen helfen. ‚Über unsere eigene Kohärenz nachdenken zu wollen, löst eben genau diese auf‘, schreiben El Quassil und Karig in ihrem lesenswerten Buch Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen. Und sie fahren fort:
‚Für Ricoeur drückt sich das darin aus, dass wir als Menschen versuchen, anderen eine Kohärenz unserer Selbst anzubieten. Das, was die dialektische Beziehung der beiden Pole idem und ipse aufrechterhält, ist das narrative Selbst. Diese Vorstellung basiert auf der Idee, dass sich jedes Individuum erst konstituiert, indem es immer wieder neu von sich erzählt. Es ist keine objektive Geschichte, sondern eine, die ich als Autor und Leser meines eigenen Lebens über mich selbst erzähle. Die persönliche Identität konstituiert sich also im Zuge der von ihr produzierten, immer wieder integrierten Narrative. Dabei ist das Selbst weit davon entfernt, sich in einem harten Kern zu fixieren‘ (2021, S. 94 f.). Und um noch einmal Ricoeur zu zitieren, diesmal aus einem Feature des SWR:
‚Die Identität der Menschen und auch die Identität einer Gemeinschaft entsteht aus der Geschichte heraus, die diese gemeinsam erleben und die sie sich einander erzählen. Darum ist die Identität eines jeden mit den Identitäten aller Anderen eng verbunden. Denn nur weil ich weiß, dass auch der Andere tief in mir lebt und dass ich mich auch selbst über diesen Anderen, der in mir lebt, definieren muss, nur das führt dazu, dass ich mich dann tatsächlich selbst entdecken und verstehen kann‘ (Paul Ricoeur, 2013).
Was das empathische Spiegeln in Rogers’ Beratungskonzept anbietet, entspricht es wahrscheinlich dem Grundbedürfnis des Menschen nach sozialer Wahrnehmung seiner selbst. Ich könnte mir vorstellen, dass dies auch Befunde der Resilienzforschung nahelegen, dass resiliente Heranwachsende trotz widriger Umstände häufig Bezugspersonen hatten (Großeltern, Lehrer usw.), die Erzählungen anboten, um die Identitätsentwicklung zu stabilisieren. Und auch wenn wir mit traumatisierten Menschen arbeiten und davon ausgehen, dass deren Erfahrungen zu Dissoziationen – und damit Identitätskonflikten – führen, scheinen spiegelnde Erzählungen hilfreich zu sein.
Zahlreiche Mythen und Heldensagen geben Hinweise auf die Bedeutung solcher Spiegelerfahrungen. Die bereits erwähnten Autoren El Quassil und Karig schildern eine Schlüsselszene der Ilias, als Odysseus auf seiner Irrfahrt, traumatisiert und heimatlos, bei den Phäaken landet. Er wird Zeuge, wie ein fahrender Sänger seine Odyssee besingt. Eine bekannte Geschichte, und, wie Hannah Arendt bemerkt, eine entscheidende in der Identitätsfindung des Odysseus. Der Held beginnt zu weinen, wir können annehmen, erstmals öffentlich in seinem Leben. Diese emotionale Äußerung kann ein Hinweis darauf sein, dass er sich erstmals seiner Identität bewusst wird: So werde ich gesehen, so werde ich erzählt. Wer bin ich? Wie die italienische Philosophin Adriana Cavarero die Szene der Ilias kommentiert: ‚[V]on einem ›anderen erzählt‹, offenbarte die Geschichte schließlich seine eigene Identität.‘
Das bereits erwähnte menschliche Bedürfnis nach sozialem Eingebundensein korrespondiert wahrscheinlich mit einem anderen Grundbedürfnis: bedeutsam zu sein, d. h. gesehen zu werden, und Bedeutung zu gewinnen – durch eine solche Spiegelung die eigene Identität zu organisieren und damit Kontrolle über sich selbst zu gewinnen.
‚Zwischen Identität und Erzählung‘, schreibt Cavarero, ‚besteht ein enges Verhältnis des Begehrens‘ (alle Zitate aus El Quassi & Karig 2021, S. 89).


Wie sich unsere Identität durch erzählendes Spiegeln entwickelt, hat der Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz eindrücklich nachgezeichnet. Verbale und nonverbale Rückmeldungen machen aus uns Menschen soziale Wesen. Wir lernen nicht nur die Regeln unserer Kommunikation und unseres Zusammenseins, sondern wir erfahren vor allem die Entwicklung des Ich aus den Anderen. Und so wie Odysseus durch die Erzählung bewusst wird, dass er existiert, sehen wir durch die Spiegelungen der frühen Kindheit erstmals, dass wir ‚sind‘. ‚Die anderen kommen zuerst, das Selbst kommt danach‘ (Prinz: Das Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion des Subjekts, 2013, S. 296). Auch wenn wir bei diesen Erfahrungen nicht unbedingt, wie der Held der Antike, in Tränen ausbrechen – intensiv berührt sein werden wir sicherlich. Auch dies mag die Wirkung guter Geschichten, wie auch der Märchen, erhöhen. Wenn sie für unsere Identität bedeutsam sind, wird deren Integration diese spezifischen Emotionen ansprechen. Dies betrifft – um noch einmal das ‚Wie‘ des Erzählens anzusprechen – im wechselseitigen Spiegeln den Erzähler wie den ‚Lauschenden‘. Für den Erzähler hat das Benjamin in seinen Betrachtungen zum Werk Michail Lesskows als wesentlich herausgestellt:
„Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer prägt sich ihm das Gehörte ein. Wo ihn der Rhythmus der Arbeit ergriffen hat, da lauscht er den Geschichten auf solche Weise, dass ihm die Gabe, sie zu erzählen, von selber zufällt. So also ist das Netz beschaffen, in das die Gabe zu erzählen gebettet ist.‘“


„Mir kommen die Tränen“, sagt mein Wein, und ich werde das Gefühl nicht los, als Erzähler noch ein wenig üben zu müssen. „Also erfahre ich meine Identität durch die Kommunikation in meinem Netzwerk. Aber gibt es dort nicht mehrere Erzähler und damit unterschiedliche Geschichten? Also doch: Wer bin ich und, wenn ja, wie viele? Ich will ja nicht unhöflich wirken, natürlich darfst du hier deine Philosophen loswerden. Aber kannst du auch kurze Geschichten?“


Mein Wein wird ungeduldig.


„Was wolltest du mir über den Rancio erzählen? Ich bin mal gespannt, wie du den Prozess menschlicher Identitätsfindung auf uns Weine übertragen willst …“


„Du weißt wahrscheinlich nicht, dass dieser Rancio seit zehn Jahren hier im Keller liegt, der Wein aber schon seit dreißig Jahren im Fass ist. Es ist der traditionelle Haustrunk der hiesigen Winzer, ein sonnenverwöhnter Wein, hochprozentig und kräftig. Es ist ein Wein, der lange um seine Identität gekämpft hat, weil die Produzenten der Gegend sich dazu entschlossen hatten, nicht ihn, sondern den Banyuls als Vin doux naturel und später den Collioure als Rotwein zur Appellation anzumelden. Und eine Appellation zu sein bedeutet: wahrgenommen, besprochen und etikettiert zu werden. In alter Tradition hatte jeder gestandene Winzer der Region sein Fass Rancio im Keller. Legendär sind die Geschichten, wenn einige Haupt- und Nebenerwerbswinzer ein bis zwei Flaschen mit auf den Weinberg nahmen, um das ebenfalls kräftige Mittagsmal nicht zu trocken zu gestalten. Und da das Fass in einem Jahr nicht vollständig geleert war, wurde im folgenden Jahr aus der aktuellen Ernte nachgefüllt – häufig war es so, dass etwas weniger als die Hälfte eines Jahrgangs getrunken wurde. Im Laufe der Zeit, so etwa nach fünf Jahren bekam der Wein einen besonderen Geschmack nach fenugrec, nach Bockshornklee. Weinliebhaber hatten diesen Geschmack schon bei alten Madeira-Weinen oder sehr altem Sherry wahrgenommen. Auch der vin jaune aus dem Jura, ein anderer Kultwein hatte ähnliche Anklänge. Der Wein bekam also Charakter, die einheimischen Winzer sprachen ihm zu und sprachen über ihn. Gute Bedingungen also, um Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Doch zurück zum Rancio in unserem Cave und einem anderen Identitätsaspekt: Ich stelle ihn den Besuchern immer als dreißig Jahre alten Wein vor. Aber nach den Regeln der Kunst wurde er ja jährlich ersetzt. Wann ist er ‚idem‘ und wann ist er ‚ipse‘? Es lässt sich ja leicht berechnen, wenn man nicht allzu homöopathisch veranlagt ist, wann der Wein vollständig ausgetauscht ist.“


„Der Arme!“, sagt mein Wein. „Was wird denn aus seiner Identität, wenn er noch nicht mal besprochen wird, um dann als Appellation anerkannt zu werden.“


„Ich kann dich beruhigen: Weil sich der Wein, auch aufgrund der vielen Erzählungen zum besonderen Geschmack, zum Geheimtipp in Szenerestaurants entwickelte – wo Küchenchefs und Sommeliers darüber diskutierten, ob er denn eher zu Anchois oder zu Blauschimmelkäse passe –, gründeten traditionsverhaftete Winzer eine Interessengemeinschaft, und während die oberste französische Weinbehörde aus verschiedenen Gründen eine Appellation verweigerte, nahm Slow Food den Rancio in ihre Arche erhaltenswerter Produkte auf. Es gab zunehmend Literatur über ihn, er wurde verkostet und besprochen, und nach einiger Zeit erhielt er auch von den Behörden die Berechtigung, als IGP seine eigene Identität weiterzuentwickeln. Wohlgemerkt: Die Erzählungen über das Besondere waren nicht einheitlich. Einige schwärmten über die Anklänge an alte spanische Süßweine, andere fanden den leichten Geschmack nach Ahornsirup dann doch etwas zu breit und aufdringlich. Wieder andere wussten zu berichten, dass man in alten römischen Amphoren ähnlich riechende Weine gefunden habe. Und auch die biochemische Grundlage dieser Geruchs- und Geschmackskomponente wurde bald gefunden: das Sotolon, reichlich vorhanden in Liebstöckel und Bockshornklee. Und als sich dann die deutschsprachigen Weinliebhaber daran erinnerten, dass man Liebstöckel ja auch als Maggikraut bezeichnet, gewannen die Kontroversen über die Genießbarkeit des altehrwürdigen Rancio noch einmal an Fahrt. Sicherlich hätte man in den Jahren nach 2013 einem Kölner Feinschmecker wohl kaum einen Rancio vorsetzen können, hatte er doch noch den Maggi-Geruch einer in Neuss-Allerheiligen ausgetretenen Sotolon-Wolke in der Nase, die tagelang über der Stadt schwebte und vom Kölner Stadtanzeiger als ‚Maggikalypse‘ bezeichnet wurde. Wahrscheinlich hätte man eher einen Münsteraner Altphilologen begeistern können, der in alten römischen Schriften entdeckte, dass die römischen Behörden vor 2000 Jahren die Winzer als Weinpanscher verurteilten, weil sie in täuschender Absicht dem Wein Bockshornklee zufügten, um den beliebten Geschmack künstlich zu verstärken. Man sieht also, der Rancio war in aller Munde, über ihn wurde erzählt, er wurde besprochen. Er erschien in seiner kohärenten Identität in den Fässern, die die Weinwelt bedeuteten. Er wurde gesehen, er machte sich einen Namen, er wurde als Persönlichkeit wahrgenommen. Er war wieder präsent.“


„Jetzt verstehe ich auch, warum es nicht nur für euch Menschen, sondern auch für uns Weine wichtig ist, gesehen, besprochen und damit erzählt zu werden. Und mich wundert auch nicht mehr, warum dieses Rancio-Fass seit einiger Zeit so ruhig und selbstbewusst – beinahe hätte ich gesagt: resilient gegenüber deinen Erzählungen – da liegt. Aber erzähl doch mal: Wie geht es denn nun mit uns weiter?“


„Mit uns? Meiner Identität als Coach im Weinberg dient es, wenn wir es zunächst einmal schaffen, einen passablen Collioure aus dir zu machen. Und wir sind auf dem Wege, uns ein Bio-Label zu erarbeiten. Auf dem Wege dahin wirst du wahrgenommen, du wirst probiert, und du wirst erzählt.“


„Du aber doch hoffentlich auch!“, sagt der Wein in empathischer Vorfreude.


„Und dann werden wir in unterschiedlichen Runden zu Weinproben einladen. Dir werden hoffentlich die Ohren klingeln. Es werden unterschiedliche Erzählungen sein. Aber ich sage dir, wenn du in zehn Jahren etikettiert und eventuell prämiert in der Flasche liegst, wirst du durch all die Erzählungen eine Identität, vergleichbar dem Rancio, entwickelt haben.“


„In Flaschen? Also nochmals: Wer bin ich dann und, wenn ja, wie viele?“


„Du wirst ein bestimmter Collioure des Jahrgangs 2022 sein, auch wenn die Alterungsprozesse in den einzelnen Flaschen und die Rückmeldungen darüber unterschiedlich ausfallen könnten.“


„Ich habe ein wenig Angst vor diesem Identitätsprozess …“


„Wir werden versuchen, diese Angst zu respektieren und in erwartungsvolle Neugier zu transformieren.“


„Fällt dir dazu eine Spiegel-Geschichte ein?“


„Ja, zum Beispiel Bernhard Trenkles Löwen-Geschichte.“


„Du meinst also, nicht nur im Weinberg und Cave, sondern auch beim Coaching hilft dir dieses Erzählen?“


„Die Fachliteratur ist voll von narrativen Strategien, allerdings ist mir bei unserer Unterhaltung deutlich geworden, dass wir noch mehr auf die Kunst des Erzählens, unabhängig von der inhaltlichen Passung der Geschichten, achten sollten. Wie müssen Inhalt und Form des Erzählens beschaffen sein, damit die genannten Spiegelprozesse begünstigt werden? Das Nacherzählen bekannter Geschichten, etwa von Milton Erickson, ist sicherlich wenig hilfreich. Aber wir können in der Beschäftigung mit großen Geschichtenerzählern Hinweise darauf bekommen, wie Erzählungen maßgeschneidert, d. h. auch in Ko-Konstruktion mit dem Klienten entwickelt und erzählt werden, damit sie die bei Odysseus beobachtete Resonanz ermöglichen. Und wer schon mal als Großvater mit seinen Enkelkindern in Kinderbücher eingetaucht ist, wird feststellen, dass es manchen dieser Geschichten, um solchermaßen wirken zu können, gut täte, mit mehr Erschauern und mit weniger pädagogischen Zeigefingern auszukommen. Im Übrigen: auch die größten Schurken der Weltgeschichte waren häufig begnadete Geschichtenerzähler, sonst wären sie nicht so erfolgreich gewesen. Jetzt spüre ich, wie mir vom vielen Reden der Mund trocken geworden ist.“


Mein Wein lächelt dankbar.


„Ich sollte dich mal wieder probieren, damit wir wieder bei uns sind. Was meinst du?“


Dazu fällt mir eine Geschichte ein“, sagt mein Wein.


„Aber zuvor noch eine Ergänzung zu Loriot. Jetzt glaube ich verstanden zu haben, was der Mensch ist: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das in zehntausend Meter Höhe einen Rotwein trinken und dabei seiner Sitznachbarin erzählen kann, so habe er bisher seine Flugangst erfolgreich bekämpft.“