L’Entrée

L’Entrée


Ich traue mich fast nicht, es zu erzählen: Ich habe die erfreulichen Rezensionen zu meinem letzten Buch „A votre santé – Der Coach im Weinberg“ alle ausgedruckt, bin zu meinem Weinberg gegangen und habe, mit Blick auf die Ausläufer der Pyrenäen, ihm daraus vorgelesen.


„Siehst du“, habe ich ihm gesagt, „die Leute mögen meinen ‚ziemlich verrückten Versuch, Coaching und Weinbau miteinander in Beziehung zu setzen‘.“


„Wundert mich nicht“, antwortet mir mein Partner, „wenn ich doch die Ideen und außerdem noch ein trendiges Produkt dazu liefere. Und es schadet ja nicht, wenn mal wieder in metaphorischer Wendung Dinge zusammenkommen, die zunächst nicht zusammengehören, oder, wie ein Rezensent schreibt: ‚… stimmig zusammenzufügen und diesen fast überspannten Bogen zu schließen.‘ Na, wenn dieser Bogen nur nicht zu lange zum Brunnen geht …“


„Ja, und jetzt bin ich auch noch gefragt worden“ – ich überhöre seinen Anflug von Bessewisserei –, „ob ich unsere Dialoge als Blog weiterführen will“, berichte ich nicht ohne Stolz. „Womit wollen wir beginnen?“


„Mach’s doch wie ein guter Winzer und ein leidlicher Coach: Beginn mit dem, was ‚oben auf liegt‘, was gerade getan werden muss. Also hol dir die Lokalzeitung und schau, was das vordringliche Thema ist!“


Also dann: L’Independant von Anfang September …


La Rentrée


Die Lokalzeitungen Frankreichs haben seit Anfang September vor allem ein Thema, trotz all der Krisen, mit denen sich die größeren Presseschwestern herumplagen: La Rentrée.


Frankreich kehrt aus den Ferien zurück. In den ersten Tagen wird berichtet, wie und wo die neuen Lernmaterialen besorgt werden können, wie die auch hier desolate Versorgung mit Lehrkräften zu immer mehr Improvisationen führt. Nach einer Woche sind dann die Lokalseiten voll mit Bildern der (noch) strahlenden Erstklässler und der (noch) strahlenden Lehrkräfte in den verschiedenen Dörfern und Stadtteilen. Es ist der mediale Motivationsschub: „Allons enfants!“, zu deutsch „Packen wir’s!“.


Für einen, der auch beim Coaching gerne auf erfolgversprechende Visionen aus ist, hat das morgendliche Durchblättern der Lokalzeitung im Café etwas ambivalent Anrührendes. Auch mein Enkelsohn wird in diesen Wochen in Heidelberg eingeschult. Er hat die ersten zwei Schuljahre seiner großen Schwester mit Maskentragen und Homeoffice, mit eingeschränkten Spielmöglichkeiten außer Haus und kranken Lehrern und Mitschülern miterlebt. So ähnlich hat ihn ja schon der Kindergarten aufs Leben vorbereitet. Eine gewisse Skepsis im Hinblick auf seine künftige Schulzeit spüre ich bereits, wenn ich ihm hier beim morgendlichen Croissant die strahlenden Kinderaugen im L’Independant zeige. Ist es schon Weltflucht oder bereits kompetentes Krisenmanagement, wenn er mich bittet, ihm lieber aus Harry Potter und den offenbar harmloseren Schrecken in Hogwarts vorzulesen?


Aber zurück zum Weinberg und – die doppelte rentrée – zurück in den Keller: Ich kann nicht umhin, meine Rebstöcke mit den Schülern der Rentrée zu vergleichen (nicht ohne Grund gibt es ja im Weinberg den Erziehungsschnitt). Auch im Weinberg haben die ebenfalls krisengeschüttelten Zöglinge ihre Skepsis bezüglich der Rentrée in den Keller der höheren Weihen, hier in meinem Cave, signalisiert. Auch ihnen geht das Gerede von der durch Krisen wachsenden Widerstandskraft gehörig auf die Trauben.


Als geduldiger Coach höre ich zu: „Es ist ziemlich unverschämt“, so habe ich die Rebstöcke vernommen, „nur auf unsere Resilienz zu schauen, uns verzückt zu loben, wenn wir so gerade überleben, nur um euch Winzern auch noch eine Rechtfertigung für eure Gleichgültigkeit zu geben. Irgendwann ist Schluss, wenn ihr meint, durch mehr Fordern als Fördern das Letzte aus uns herauszuholen, uns zu zwingen, mit unseren Wurzeln immer tiefer zu gehen – und zwar nicht, weil wir dort die euch mundende Mineralität finden wollen, sondern weil wir auf der Suche nach Wasser ums Überleben kämpfen. Irgendwann wird es zynisch, wenn ihr unseren Überlebenskampf nur mit ‚Na bitte!‘ und ‚Super!‘ begleitet und dann mit einem erleichterten ‚Es geht doch …‘ unter die Dusche geht. Und verschont uns mit eurem Psychobabbel! Schon texten die Winzerbroschüren eurer Dachverbände: ‚Wer sich verändert und lernt, wird resilient‘ (Se former: c’est déjà être résilient! – Chambre d’agriculture Pyrénées-Orientales – https://po.chambre-agriculture.fr/actualites/detail-de-lactualite/actualites). Nicht nur wir Rebstöcke sollen gefälligst in Krisen resilient werden, auch ihr Winzer erhaltet statt konkreter Hilfen jetzt Sprüche mit Überlebensparolen!“


„Aber euch geht’s doch noch relativ gut“, wage ich einzuwerfen, „immerhin haben wir 60 % der bisherigen Erntemengen eingefahren.“


„Da denke ich jetzt aber mal gerne defizitorientiert“, entgegnet mein Weinberg. „Wie dir unschwer entgangen sein dürfte, sind dann 40 % der Ernteträger hinüber. Und jetzt schau dir mal genau an, wo wir Schaden genommen haben. Und eh du dich jetzt wieder rausreden willst: Es liegt nicht an den invasiven Insektenarten und Kräutern, die über das Mittelmeer zu uns gekommen sind. Wenn Blätter und Trauben verschrumpeln und abfallen, dann sind sie verbrannt. Und wo ist das bitte passiert?“


Und ehe ich meine Beobachtungen mit ihm teilen kann und nur ein „Naja, der Klimawandel und dann noch die Pandemie“ einwerfe, fährt er fort: „Genau da, wo du den Boden vom Beikraut, der vermeintlichen Nahrungskonkurrenz, „gesäubert“ hast, und da, wo nur noch wenige Rebstöcke viel blanken Boden freilassen. Der freie Boden heizt sich noch mehr auf, Regen hat es eh nicht gegeben und all eure Resilienz-Beschwörungen und Sparmaßnahmen bei der Nachpflanzung haben nichts bewirkt. Wenn schon Resilienzförderung, dann bitte die richtigen Konzepte! Was zeigen denn die Resilienzförderprogramme im vorschulischen und frühpädagogischen Bereich? Sie sind erfolgversprechend, wenn Vielfalt angeboten wird, ein Netzwerk von unterschiedlichen Partnern; wenn der Boden mit Helfern, Unterstützern und materiellen Ressourcen bereitet ist. Und da, wo die Reben dicht beieinanderstehen und Vielfalt um sie herum ist, können die Wurzeln in die Tiefe gehen und dort ihre Besonderheiten entwickeln. Das ist Empowerment, le pouvoir au peuple oder besser le pouvoir aux pieds, Power für die Rebstöcke – du weißt, dass wir hier nicht so viel Franglais sprechen sollen.“


„Na dann: Bon weekend!“, versuche ich mich zu verabschieden, weil ich weiß, dass es uns beiden nicht bekommt, wenn er sich so in Rage redet.


„So leicht kommst du mir nicht davon!“ (ich höre den sanft drohenden Unterton in seiner Stimme). „Ich werde dir zeigen, was mit den restlichen 60 Prozent passiert, wenn man glaubt, genug investiert zu haben und seinen Schutzbefohlenen bestenfalls Angebote macht wie Stresstraining und Achtsamkeitsübungen im Anblick der gigantischen Pyrenäenberge. Oder wenn man ihnen gar damit droht, mithilfe der Gentechnologie oder der Pharmaindustrie die Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Wenn sie könnten, würden dir die ums Überleben kämpfenden Rebstöcke ins Gesicht springen wegen all diesem Psycho-öno-öko-Mist! Und all die Subventionen, die euch jetzt als Ausgleich angeboten werden, werden wahrscheinlich wieder nur in fragwürdige Hilfsmittel investiert. Gerade jetzt hat ein Forscherteam eurer Wein- Hochschule Geisenheim herausgefunden: „Die Hinweise verfestigen sich, dass Bio-Bewirtschaftung einen besseren Umgang mit Trockenstress erlaubt. Die Pflanzen passen sich durch die Etablierung der vielartigen Begrünungen offenbar über einen längeren Zeitraum besser an die Trockenheit an (Kauer, 24.10.2022). “ Und nicht nur die Erntemenge sondern auch die Qualität wird deutlich gesteigert. Also du weißt, was du zu tun hast.“


Nach dieser Suada meines Weinbergs hatte ich erwartet, dass der Wein doch recht sauer ist. Aber auch das hätte ich natürlich wissen müssen: Der Sonnenstich hat zu einem deutlichen Säureabbau geführt. Der pH-Wert ist mit über 4.5 etwas zu hoch, aber die volatilen Säuren, die für Unruhe und Misstöne sorgen können, machen sich deutlich bemerkbar. Der Wein ist sauer, aber in einem Verhältnis, das ihm nicht bekommt und ihn angreifbar macht. Und während ich mir im Café nach Lektüre des L’Independant Gedanken über die unterschiedliche Streikkultur in Frankreich und Deutschland mache, grummelt der Wein im Cave so vor sich hin und versucht sich einen Vorrat an Alkohol zuzulegen.


Die Titelstory in der dritten Woche der Rentrée: Auch Vorschul- und andere Erzieher beteiligen sich in Frankreich an den landesweiten Streiks wegen der katastrophalen bildungs- und gesundheitspolitischen Versäumnisse. In Deutschland grummelt es demgegenüber nur ein bisschen. So lese ich in einer deutschen Lokalzeitung (10.10.2022) die Überschrift: „Kita-Notbetrieb in Hagen – Eltern bangen um ihre Jobs. Jetzt starten sie eine Petition“ Nun könnte man meinen, die Eltern suchen Unterstützung durch eines dieser zahlreichen Resilienzprogramme, die gegenwärtig in guter Absicht für den Bereich der Frühpädagogik entwickelt werden. Vielleicht hat der eine oder andere Elternvertreter da schon mal reingeschaut. Und dann hat er gelesen, dass zunächst einmal Elternabende vorgeschlagen werden, bei denen die Eltern gebeten werden „sich mit eigenen Wertvorstellungen und elternseitigen Erwartungen“ auseinanderzusetzen. Bei denen sie erfahren, „welche Faktoren ein gesundes Aufwachsen von Kindern auch unter schwierigen Bedingungen fördern und welche elternseitigen Einstellungen, Fertigkeiten und Handlungen einen positiven Einfluss ausüben“. Und dann folgen die allseits beliebten Achtsamkeitsübungen, um den Eltern Methoden aufzuzeigen, „die sie z. B. im Umgang mit Stress für sich selbst nutzen und in ihren Alltag integrieren können. Zentrales Thema ist dabei auch die Resilienz im Erwachsenenalter und die Förderung entsprechender Schutzfaktoren“ (all dies sind Zitate aus entsprechenden Resilienzprogrammen). Fraglich, ob sich nach diesen Vorschlägen Erziehungsberechtigte und Erzieher – die ja ebenfalls zusätzliche Zeit opfern oder Babysitter organisieren müssen – für einen zweiten Elternabend bereit erklären, in dem es zunächst darum ginge herauszufinden: „Was hat uns als Familie in der Krisenzeit gutgetan? Wie sind wir gemeinsam durch die Krise gekommen? Was tat uns nicht gut? Was gilt es zu vermeiden?“ (auch dies Zitate aus Programmen).


Vielleicht haben die Eltern aber auch Hinweise in den Programmen zur Kenntnis genommen, wie wichtig neben dieser „Förderung der einfühlsamen Exploration der eigenen Innenwelt, der inneren Welt der anderen Familienmitglieder sowie der gemeinsamen Beziehung“ auch die „Aktivierung und Stärkung sozialer Ressourcen“ ist, und sie wissen sich vielleicht mit den ebenfalls an Elternabenden teilnehmenden Erziehern einig, dass diese sozialen Netzwerke auch eine materielle Basis haben müssen.


Und so verwundert dann auch nicht, dass die Eltern, die in der We-act-Petition durch noch mehr Übernahme erzieherischer Aktivitäten ja ihren Job gefährdet sehen, schlicht und einfach ihre Kita-Beiträge zurückfordern wollen, wenn noch nicht einmal die materielle Grundversorgung gewährleistet ist (https://www.change.org/p/ rueckerstattung-von-elternbeiträgen-bei-unzureichender-kita-betreuung).


Denkbar ist ja auch, dass Eltern wie Erzieher als Teil des Erziehungs- und Bildungssystems ernst- und wahrgenommen werden wollen. Und vor allem auch dabei unterstützt werden wollen, einigermaßen unbeschadet durch die gerade angesagten Krisen zu kommen.


Wer eine Tante Klara hatte und von ihr in früher Kindheit mehr oder weniger sanft aufgefordert wurde, in ihrem Bett den nötigen Mittagsschlaf einzuhalten, erinnert sich an den über (oder neben) dem Bett hängenden Spruch, den man mit Fug und Recht als Urgrund aller Positiven Psychologie (auch Seligman hatte eine Tante Klara; pers. Mitteilung) und aller Resilienzförderprogramme ansehen kann: „Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“


Nun, dieses Lichtlein kommt in unserem Fall nicht von irgendwo her, sondern von dem Magazin für Führung, Personalentwicklung und E-Learning wirtschaft + weiterbildung, das nicht nur viele wertvolle Hinweise zum Coaching beisteuert, sondern in seiner Oktoberausgabe (10/22 – www.wuw-magazin.de) auch einen Beitrag zur Stärkung persönlicher und organisationaler Resilienz. „Fliegen statt Platzen“ ist er überschrieben und nimmt Bezug auf ein wundervolles Titelbild, auf dem ein rosaroter Luftballon einen gefährlich rotstacheligen Kaktus streift. „Ob das wohl gutgeht?“, fragen wir uns ein wenig bang bzw. diejenigen unter uns, die nicht von dem offenbar auch genetisch bedingten Optimismus rosarot fortgetragen werden. Ich darf verraten: Offenbar geht es gut, denn zum Ende des Artikels fliegen weitere Luftballons in die Höhe, und ein abschließender Beitrag stellt fest: „Über ein Drittel geht gestärkt aus Krisen hervor“. Hier wird ein kanadischer klinischer Psychologe zitiert, Steven Taylor, ein „weltweit führender Forscher zum Thema ‚posttraumatisches Wachstum‘“.


Soll ich mit diesen Befunden nun zu meinem im Cave vor sich hin grummelnden Wein gehen? Wo doch absehbar ist, dass er – wenn er nicht schon platzen statt fliegen will – mir wieder so „defizitorientiert“ daherkommt und mich fragen wird: „Und was ist mit den restlichen zwei Dritteln?“


Ich habe mich dann doch getraut, denn in dem zitierten Beitrag stand: „Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen, gehört zum resilienten Verhalten“ (S. 19). Und außerdem sollen sich resiliente Menschen durch Zielorientierung auszeichnen (ebd.).


Also bin ich zu ihm gegangen. Und was hat er mich gefragt? „Und was ist mit den restlichen zwei Dritteln? Haben wir nicht weiter oben festgestellt, dass auch ich zu den zwei Dritteln gehöre, die auf dem Weinberg überlebt haben? Und jetzt zeige ich dir mal, was Langzeitfolgen von Überlebenden auch sein können!“


Und dann passiert etwas Unglaubliches. Wäre ich nicht selbst dabei gewesen, hätte ich vermutlich auch gedacht: Der Holtz erzählt das hier so, weil es ihm in den Kram passt.


Also, der Wein platzt nicht etwa, er fliegt mir auch nicht um die Ohren: Ich höre ihn ganz tief Luft holen, einmal, ganz tief und dann höre ich nichts mehr.


Tatsächlich hört mit diesem Atemzug der Wein auf weiter zu gären. „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr!“, sagt der Wein, und ich weiß zunächst nicht, ob es die Antwort auf mein Gerede ist. „Auch hier im Keller brauche ich Rahmenbedingungen, um mit meinen Traumata umzugehen. Die Sonne hat offensichtlich die natürlichen Hefen gleich mit verbrannt, und hier im Keller weiß ich im Moment nicht, wo noch welche herkommen sollen.“


Eine erste Diagnose zeigt: Bei 50 g Zucker und ca. 12 Vol. % Alkohol haben die Hefen aufgegeben.


„Was brauchst du?“, frage ich ihn irritiert. „Was willst du?“, fragt er zurück. „Wenn du ein süßes Getränk willst, das mir nicht sehr ähnelt, dann lassen wir es hiermit gut sein. Ansonsten kannst du dir ja mal überlegen, wie du mich als traumatisierten Überlebenden in meiner Selbstverwirklichung zum AOC-Wein unterstützen kannst. Aber beeil dich! Die freien Säuren lachen sich schon ins Fäustchen, da ist Sodbrennen nichts gegen. Und wir sind hier nicht bei irgendeiner Kultusministerkonferenz, wo wir manches schönreden können. Wir haben doch hoffentlich unsere Standards – und vor allem die feineren Analyseinstrumente.“.


„Also, ich sehe zwei Möglichkeiten“, sage ich, als ich mich von meinem ersten Schreck erholt habe. „Erstens könnte ich dir weiter von den Befunden des kanadischen Professors erzählen oder aus seinem neuesten Buch „Extraordinary awakenings: When trauma leads to transformation“ zitieren. Und wir versuchen hier ja so ein extraordinary awakening. Und dann wirst du etwas darüber erfahren, wie wichtig die Beziehungen zu den „wahren Freunden“ sind und dass aus dem Gefühl der Verletzlichkeit auch das Gefühl der inneren Stärke erwächst. Und du wirst dich jede Minute deines Lebens fragen: ‚Ist es richtig, was ich hier tue?‘ Und wie Taylor gegenüber dem Handelsblatt (4.4.2022) berichtet: Die Betroffenen „wechseln in ein viel intensiveres und umfassenderes Bewusstsein mit einem starken Gefühl des Wohlbefindens. Die Welt um sie herum erscheint schöner. Sie fühlen sich anderen Menschen und der Natur verbundener.“


„Was willst du?“, fragt mich mein Wein noch einmal. „Möchtest du, dass ich dich als wahren Freund liebgewinne und dass ich die Natur, so, wie sie langsam vor die Hunde geht, schön finde?“


„Nein, es reicht schon, wenn du dich beiden verbunden fühlst. Und außerdem: Du musst geduldig sein. Taylor geht davon aus, ‚dass es im Schnitt etwa zwei Jahre dauert, bis sich posttraumatisches Wachstum entfaltet‘ (wirtschaft + weiterbildung, S. 21).“


„Ha!“, mein Wein wird wieder etwas lauter. „Du willst mich also, wie meine Vorgänger auch, hier zwei Jahre ins Fass einsperren. Du wirst dich diesmal aber wundern. Eventé, dann ist hier die Luft raus und das Aroma auch. Also was ist die zweite Möglichkeit?“


„Alternativ gehe ich jetzt in die Pharmacie und hol die von dir verpönte Reinzuchthefe, und dann sehen wir zu, wie wir schrittweise wieder in die Gänge kommen. Was hättest du denn gerne: Burgunder oder Sherry?“


„Igitt!“, sagt mein Wein. „Aber da müssen wir ja jetzt wohl durch. Also dann doch lieber diese Nahrungsergänzungsmittel.“


Und so haben wir es dann gemacht. Der Wein hat jetzt, zwei Wochen später, bis zu 3 g Zucker abgebaut, die malolaktische Gärung ist fast beendet, und was den Alkohol betrifft, wird er wieder ein kräftiger Bursche.


Apropos kräftiger Bursche: Mein Enkel hat bereits die ersten Erfahrungen mit Unterrichtsausfällen, mit Elterninitiativen und mit kreativen Ersatzlösungen. Eigentlich möchte ich auch bei ihm nicht so lange warten, bis sich in einigen Jahren eine Art posttraumatisches Wachstum entfaltet, auch wenn ich nichts dagegen habe, wenn er sich anderen Menschen und der Natur zunehmend verbundener fühlt. Aber wäre es nicht besser, wenn wir baldmöglichst einen vielfältigen und schützenden Boden bereiten und in Netzwerke und Unterstützungssysteme investieren würden? Ich würde ihm wünschen, dass er nicht die Alternative „Fliegen oder platzen“ haben wird. War da nicht mal was mit „Wurzeln und Flügeln“? Mein Weinberg hat mir die Richtung vorgegeben: Erst wurzeln – und dann später auch mal ein bisschen fliegen.


Gegenwärtig grüble ich noch darüber nach, wie denn eine sozial- und bildungspolitisch erfolgversprechende Reinzuchthefe beschaffen sein könnte. Wollen wir hoffen, dass die Pharmaindustrie nicht schon wieder die einschlägigen Substanzen bereithält.