Assemblage

„Und, wie geht’s weiter im neuen Jahr?“, fragt mich mein Wein. „Zwischen den Jahren hast du mich ja ganz schön allein gelassen.“


„Na, du weißt schon, Familie und so.“


„Was heißt denn ‚und so‘? Du sagst mir doch immer, dass wir uns gemeinsam – also gewissermaßen miteinander und aneinander – entwickeln wollen.“


„Ja, aber das heißt doch nicht, dass wir jetzt ständig symbiotisch zusammenhocken.“


„Symbiose und Individuation, wie Helm Stierlin sagen würde?“


„So in etwa. Schließlich habe ich nichts unversucht gelassen, deine Autonomie zu fördern, und ich denke, auf dem Weg zum Erwachsensein sollte es jetzt reichen, wenn ich nur in der Nähe bleibe, um Katastrophen zu verhindern. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Und es gibt so einige Dinge, da musst du allein durch. Die malolaktische Gärung beispielsweise, es wäre nicht gut gewesen, wenn ich da ständig bei dir vorbeigeschaut hätte. Ich bin sicher, du hättest ziemlich sauer reagiert. Für deine weitere Entwicklung brauchst du jetzt andere einbindende Kulturen und auch für mich ist es nicht gut, wenn ich ständig mit dir zusammenhocke. Ich muss mich im nächsten Monat auf dem Weinberg um den Nachwuchs kümmern. Und auch meine Frau hat mich an Weihnachten in einer stillen Stunde daran erinnert, dass ich auf dem Wege wäre, mit dir eine toxische Beziehung einzugehen.“


„Dann probiere doch nicht ständig von mir. Wenn ich dich so reden höre, habe ich die Befürchtung, dass mir wieder mal ein Übergangsritual bevorsteht. Mir steckt noch die Einschulung in den Knochen. Und auch du und deine Familie und Freunde, ihr wart am nächsten Tag nicht so ganz fit.“


„Du bist jetzt groß geworden, aber wenn du nicht nur ein großes Gewächs – wie man in Deutschland sagt – werden möchtest, sondern auch ein großer Wein, dann musst du dich anderen einbindenden Kulturen zuwenden. Wir sollten uns mal unter den anderen Cuvees umsehen, die hier so rumstehen.“


„Du meinst, du willst aus mir eine Cuvée machen. Das ist nicht nötig! Ich bin alleine schon die erste Cuvée am Platz.“


„Möchtest du dich nun so weiterentwickeln, dass du ein ganz Großer werden könntest, einer der seine sozialen Kompetenzen altersangemessen erweitert? Einer, der so erfolgreicher die anstehenden Prüfungen des Lebens bestehen, die Anerkennung durch die Gesellschaft erreichen kann?“


„Die von dir sogenannte Gesellschaft ist mir zunächst mal schnuppe, solange man mich in dem Selbstverständnis lässt, dass ich ein Premier Cru bzw. für dich eine Première Cuvée bin. Im Übrigen war unser Verhältnis bisher doch immer förderlich für mich. Warum also etwas ändern?“


„Das sehe ich ähnlich. Ich war ja stets in der Nähe, das heißt, ich habe dafür gesorgt, dass die Übergänge ohne größere Traumatisierungen stattfinden konnten.“


„Was denn für Übergänge? Ich habe meinen Weg vom Weinberg ins Fass als Übergang erlebt. Und ich war dir dankbar, dass du in der Nähe warst und mich begleitet hast. Deine dosierte Mischung aus Festhalten (noch bei der Maische bleiben) und Loslassen hat mir sehr geholfen.


„Es wird noch einige Übergänge geben, wenn du ein ganz Großer werden willst.“


„Du meinst doch wohl nicht den schrecklichen Übergang, wenn ich auf die Flasche komme? Wo sich mir die Frage stellt: Wird das nun der Ruhestand, raus aus dem Erwerbsleben? Von der existenziellen Frage mal ganz zu schweigen: Wer bin ich dann und wenn ja, wie viele?


„Darüber werden wir sprechen, wenn es so weit ist. Aber ich kann dich beruhigen: Zur Frage des Übergangs raus aus der Erwerbstätigkeit entwickeln wir im Institut für Lösungsorientierte Beratung und Supervision gerade ein tragfähiges Übergangscoaching, das die genannten Grundbedürfnisse berücksichtigt.
Und zur zweiten Frage kann ich ziemlich genau prognostizieren: Wenn wir uns nicht darauf einigen, dass du noch ein paar Jahre ins Holzfass kommst, was ich vom jetzigen Standpunkt aus nicht befürworten würde, wirst du auf ca. 500 Flaschen kommen. Aber das ist noch Zukunftsmusik.“


„Ich mag auch noch gar nicht dran denken. Ich glaube mich fröstelt jetzt schon. Aber du hast noch von einem anderen Übergang – zum jetzigen Zeitpunkt – gesprochen. Noch bin ich doch noch nicht in der Blüte meiner Jahre.“


„Eben, aber du bist auf einem guten Weg, und wie im richtigen Leben gibt’s da auch noch ein paar Übergänge bis zum Erwachsenwerden.“


„Du meinst doch nicht etwa die Pubertät?“


„Du weißt, dass ich mich ungern mit States beschäftige und eine Fokussierung auf Prozesse bevorzuge. Aber unter uns: Ich meine in der Tat den menschlichen Lebensabschnitt zwischen ungefähr 12 und 18 Jahren.“


„Und was bedeutet das für mich?“


„Bis jetzt hast du dich in deinem Fass gut entwickelt, ich bin stolz – und dabei habe ich dich unterstützt –, dass du so selbstständig und selbstbewusst geworden bist. Wenn wir jetzt auf den Markt gehen würden, wärst du schon wettbewerbsfähig, aber dein Problem ist, dass du darauf allzu zielgerichtet hinarbeitest. Wir müssen jetzt lernen, auch mal Kompromisse einzugehen.


„Ich? Nie!“, sagt mein Wein. „Du hast mir bisher immer vermittelt, dass wir keine Kompromisse in Bezug auf unser Ziel eingehen sollten.“


„Harry Stack Sullivan hat gemeint, ein wesentlicher Aspekt der ‚Jugendära‘ sei, ein Gleichgewicht zwischen Wettbewerb und Kompromiss einzugehen. Du solltest auch unser Ziel nicht aufgeben, eine allumfassende, komplexe Persönlichkeit zu werden, indem du all deine Potenziale entwickelst. Aber jetzt ist eben erst deine Entwicklungsaufgabe, dich mit deinem individuellen Potenzial an deinem sozialen Netzwerk weiterzuentwickeln. Um es mit Kegan auszudrücken: ‚Der nächste Schritt deiner Entwicklung ist eine weitere Form von Kontrolle.‘ Bisher bist du noch deine Bedürfnisse, Interessen und Wünsche. Du musst lernen, dass du diese nicht mehr bist, sondern dass du Wünsche, Interessen und Bedürfnisse hast. Und dass es andere gibt, die auch diese Dispositionen haben, ohne dass es die gleichen sind wie bei dir.
Und das lernst du am besten, wenn ich als Autorität und Mentor deine Eigenständigkeit und deine Vorzüge wertschätze, aber auch dafür sorge, dass du wechselseitige Beziehungsformen entwickelst. Ende des Monats muss ich wieder in den Weinberg und den neuen Jahrgang anleiten. Spätestens dann muss ich mich auf dich verlassen können. Was von dir erwartet wird, ist Zuverlässigkeit.“


„Und wie soll ich das schaffen, wenn du mich allein lässt?“


„Du musst eben konkret erfahren, dass nicht nur du deine Bedürfnisse und Interessen hast, sondern dass es auch allen anderen so geht.“


„Welche anderen denn? Ich habe schon wieder den Eindruck, dass mich keiner versteht. Noch nicht einmal du.“


„Keiner? Was du jetzt brauchst, ist ein anderer Wein, der in der Nähe ist, der sich aber in seinem Selbstsystem in einem ähnlichen Zwischenstadium befindet wie du.“


„Und so einen soll es geben? Hast du nicht im vergangenen Jahr noch gesagt, ich sei einmalig?“


„Das ist richtig, aber ich kenne da noch so einen einmaligen Wein. Er ist schon ein bisschen weiter, seine malolaktische Gärung ist so gut wie abgeschlossen. Er wirkt jetzt etwas sanfter als vorher. Diese Umwandlung hat ihn dazu gebracht, seinen Dispositionen etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Und nun will er wissen, ob es anderen ähnlich geht, und er möchte dich gerne kennenlernen.“


„Und wo finde ich deinen Wunderknaben?“


„Er steht seit ein paar Monaten neben dir.“


„Neben mir? Und ich sollte ihn nicht bemerkt haben? “


„Wahrscheinlich wart ihr bisher zu sehr mit euch selbst beschäftigt. Das war ja auch in Ordnung, aber jetzt wäre es gut, wenn ihr eure Bedürfnisse und Interessen mal miteinander abgleichen würdet.“


„Du meinst also nicht wir beide, sondern ich mit ihm oder mit ihr? Und wie soll das geschehen?“


„Nun, ich denke, ihr könnt beide nur davon profitieren, wenn ihr so, wie ihr seid, zusammenkommt. Und euch mit euren Bedürfnissen, Interessen und Wünschen aneinander wertschätzend abarbeitet. Wir machen eine Assemblage. Mit anderen Worten, ich schütte eure beiden Cuvées zusammen.“


„Und das soll gut gehen?“


„Das hoffe ich für euch! Ich bin überzeugt, dass ihr nur davon profitieren könnt. Ich werde natürlich in der Nähe bleiben. Aber vor allem ist es eure Aufgabe, etwas daraus zu machen. Ihr müsst jetzt erwachsen werden.“


„Und warum bleibst du in der Nähe?“


„Nun, als einbindende Kultur möchte ich euch dabei begleiten, dass ihr einerseits eure Eigenständigkeit nicht ohne weiteres aufgebt. Du hast deine Vorzüge als Grenache und er die seinen als Mourvèdre. Gleichzeitig werde ich aber auch alles unterstützen, was auf wechselseitige Beziehungsgestaltung hinweist. Vor allem aber – und das wäre eine Krise – kann eure Assemblage kippen, wenn ich euch mitten in euren ersten Beziehungsversuchen in eine neue Umgebung bringe, beispielsweise ins Holzfass. Ihr braucht einen sicheren, vertrauten Ort, um zuverlässige Wechselbeziehungen zu festigen. Es wäre nicht das erste Mal, dass in einer Assemblage wieder laute Töne oder Resignation eines Beteiligten bis hin zu selbstzerstörerischen Tendenzen aufkommen, die sich dann auf das ganze System auswirken. Vor ein paar Jahren hat mir ein Syrah in einer Art Amoklauf ein ganzes Fass ungenießbar gemacht.“


„Willst du mich jetzt etwa verkuppeln?“, fragt mein Grenache. „Es gibt doch einige, die bei diesem Zusammenfügen der Cuvées von ‚mariage‘ sprechen und nicht von ‚assemblage‘.“


„Das würde ich nie tun! Aber bevor ihr beide voneinander lernt, eine Kultur der Wechselseitigkeit zu entwickeln, wie in der ‚mariage‘, solltet ihr eure gemeinsamen subjektiven Erfahrungen, Gefühle und Stimmungen aneinander abarbeiten. Diese ‚assemblage‘ ist eine gute Voraussetzung für eine mögliche spätere ‚mariage‘ – aber noch halte ich euch emotional und sozial für zu jung. Später braucht ihr mich hoffentlich nicht mehr. Dann könnt ihr eure eigenen einbindenden Kulturen entwickeln.“


Mein Wein atmet hörbar erleichtert auf. „Der Begriff Assemblage ist mir irgendwie auch sympathischer. Zum einen betont er eher den Prozess als etwa ‚Verschnitt‘ oder ‚blend‘. Zum anderen spricht er mehr die kreativen Anteile des Prozesses an. Nicht von ungefähr ist der Begriff in der bildenden Kunst ja auch als Methode einer Komposition von Materialien im Vergleich zur Collage verwendet worden.“


„Und nicht nur da“, ergänze ich, ein wenig überrascht wegen der Allgemeinbildung meines Weines „auch Philosophen und Sozialwissenschaftler wie Deleuze und Guattari haben im Sinne einer dynamischen Systemtheorie soziale, linguistische und philosophische Systeme in ihre Assemblagetheorie integriert. Und hier gefällt mir für unsere Zwecke besonders ihr Ansatz, ‚dass bestimmte Mixturen technischer und administrativer Praktiken neue Räume erschließen und verständlich machen, indem sie Territorien dechiffrieren und neu kodieren‘ (aus Wikipedia zu „Assemblage“). Und genau das habe ich jetzt mit dir vor. Wenn du nicht nur erwachsen werden willst, sondern auch ein ganz Großer (also das Gegenstück von einem deutschen ‚Großen Gewächs‘), dann lass dich bitte auf die Assemblage ein. Dann werden sich dir auch neue Räume erschließen.“


„Jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich dir noch trauen kann“, sagt mein Wein – und in diesem Widersprechen nehme ich deutlich pubertäre Züge wahr – „du willst mir doch nur das aufdrücken, was ihr Deutschen recht platt und plastisch mit ‚Verschnitt‘ bezeichnet. Allein bei diesem Begriff in Verbindung mit einem Übergangsritual klingeln bei mir alle Alarmglocken. Außerdem zitierst du recht freizügig. Deleuze und Guattari haben in ihrem Werk ‚Tausend Plateaus‘ (1992) nie von ‚assemblage‘ gesprochen. Das ist die Übersetzung ihrer Begrifflichkeit ins Englische. Die Autoren sprachen ursprünglich von ‚agencement‘.“


„Na gut“, – schon wieder erstaunt mich das Wissen meines Weins –, „aber auch das bedeutet doch ‚Zusammenfügen‘, ‚Aufbau‘, ‚Struktur‘, ‚Komposition‘, auch die ‚Einrichtung von Räumen‘.
Und das ist es, was ich bei unserer geplanten Assemblage so wichtig finde. Es ist die Chance, Tausende von Inhaltsstoffen, die nun in der neuen Konstellation aufeinandertreffen, sich so entwickeln zu lassen, dass einzigartige Kompositionen entstehen, die neue Räume, neue Möglichkeiten erschaffen. Nach einem solchen Entwicklungsprozess wird dir die Gemeinde der Weinfreunde ein ‚gutes Eingebundensein‘ bestätigen.
Einen solchen Assemblage-Prozess genieße ich auch beim Coaching, wenn – teils kontingent – neue Elemente, neue Ideen und Muster wechselseitig hinzugefügt werden (durchaus auch unter philosophischer, linguistischer und sozialer Perspektive), wenn sich in der gemeinsamen Konstruktion neue Räume auftun. Es macht auch hier Spaß, dabei zu sein, wenn sich gefestigtere Strukturen entwickeln, so wie die zunehmende Polymerisation eurer Phenole zu komplexeren Geschmackserlebnissen, zu einem komplexen und nachhaltigen Abgang führen.“


„Na gut“, sagt mein Wein, „wenn das in der Pubertät passieren kann, dann bringen wir es hinter uns. Aber bevor ich mich dann vielleicht gar nicht mehr wiedererkenne, gestatte mir noch eine abschließende, vielleicht noch ein wenig geradeheraus-pubertäre Bemerkung:
Ich habe mich gefragt, warum du deine Weisheit mit Deleuze und Guattari gerade von den postmodernen Denkern abholst, die schon vor einem Vierteljahrhundert von den Autoren Sokal und Bricmont als Urheber ‚eleganten Unsinns‘ bezeichnet wurden. Der Untertitel ihres Buches (1999) heißt nicht von ungefähr: ‚Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen‘. Dein Freund Bruno Latour aus dem letzten Blog wird da im Übrigen auch zitiert.
Von Guattari heißt es beispielsweise: ‚Dieser Absatz enthält die brillanteste Mischung aus wissenschaftlichem, pseudowissenschaftlichem und philosophischem Jargon, die uns jemals untergekommen ist; nur ein Genie konnte so etwas schreiben.‘ Inzwischen weiß ich aus deinen Erzählungen, dass einige deiner Kollegen sich in diesem Sinne auf dem Wege zur Genialität befinden. Du solltest dich wirklich fragen, ob du da unbedingt mithalten willst!“