Das Parlament der Dinge
Foto: Der Philosoph und Soziologe Bruno Latour, CC BY-SA 4.0, Bruno Latour in Taiwan, KOKUYO

„Latour ist gestorben“, berichte ich meinem neuen Wein im Fass.


„Welcher Latour?“, fragt er zurück. „Der aus Pauillac oder der aus Beaune?“


„Der Soziologe und Philosoph Bruno Latour.“


„Ach, der aus Beaune, aus der Rue des Tonnelieres!“


„Woher weißt du das denn schon wieder?“


„Das haben mir die Hefebakterien gerade zugesteckt, du hast mich doch mit Burgunder-Reinzuchthefe geimpft.“


„Und was sagen sie sonst noch zu Latour, deine Bakterien?“


„Dass er als jüngstes von sieben Kindern im jugendlichen Alter das elterliche Weingut verlassen hat, in Paris auf die Schule gegangen ist, und dann hat niemand mehr etwas von ihm gehört.“


„Na, das stimmt ja so nun auch nicht, schließlich ist Bruno Latour einer der meistgelesenen Soziologen und Philosophen der akademischen Welt und, wie der New Yorker geschrieben hat, der berühmteste und der am wenigsten verstandene französische Philosoph.


„Naja, Reinzuchthefen“, sagt mein Wein verächtlich, „du weißt ja, wie elitär sie daherkommen, gerade wie die Naturwissenschaftler, die sich in den neunziger Jahren – im ‚Streit der Wissenschaften‘ – über Latours Aussagen aufgeregt haben, ihre wissenschaftlichen Befunde seien nicht entdeckt, sondern im jeweiligen Forschungsprozess konstruiert worden: ‚Fakten und Tatsachen werden nicht entdeckt, sondern fabriziert.‘ Und die elitären Reinzuchthefen sind immer noch der Auffassung, Latour habe gemeint, die Bakterien seien nicht von altem Adel, sondern erst mit Pasteurs Entdeckung ins Leben getreten, gewissermaßen Pasteurs Erfindungen.“


„Wir Winzer verstehen eben besser, dass mit der Entdeckung neuer Akteure im Wein der Prozess der Weinbereitung, also auch das Verhältnis zwischen mir und dir, Winzer und Wein, neu erfunden wird und daraus auch eine neue Wirklichkeit entsteht. Wir haben dann eine veränderte Theorie der Praxis. Eigentlich wie im richtigen Leben und auch in der Wissenschaft – zunehmend viablere Theorien und somit zunehmend mehr Bedeutung.


„Gerade höre ich meine Reinzuchthefen aufjaulen, sie wollen in Streik treten und sich nicht weiter am gemeinsamen Entwicklungsprozess beteiligen.“


„Seit ‚Erfindung‘ der malolaktischen Gärung“, ich spreche das Wort Erfindung sehr pointiert in Richtung Reinzuchthefen, „brauchen wir sie jetzt auch nicht mehr. Da verlassen wir uns lieber auf die anaeroben Akteure.“


„Versündige dich nicht an Latour!“, wirft mein Wein ein. „Weißt du denn wirklich, wie das gesamte Netzwerk meiner Inhaltsstoffe auf einen Verzicht auf Hefen reagiert?“


„Wie auch immer“, versuche ich einzulenken, denn ich möchte nicht, dass sich während der angekündigten malolaktischen Gärung mein Wein zu sehr echauffiert. Wenn er jetzt zu sauer reagiert, übernehmen möglicherweise die volatilen Säuren die weitere Entwicklung.


„Wie auch immer“, sage ich also beschwichtigend, „auch deine Reinzuchthefen werden inzwischen zur Kenntnis genommen haben, dass wissenschaftliche Beobachtungen nicht isoliert zu betrachten sind, sondern bereits Teil eines Netzwerks vergleichbarer Beobachtungen, Erwartungen und Verallgemeinerungen sind. Eines Netzwerks, das nicht nur in der Lage ist, den beobachtbaren Sachverhalt besser zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen sondern auch das gesamte Netzwerk von Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen hilft.


Meinst du übrigens, Latour hätte die Entdeckung der Hefebakterien durch Pasteur als Beispiel genommen, wenn er seine frühe Jugend nicht in Beaune, im Haus in der Rue des Tonnelieres, verbracht hätte? Und hätten seine Überlegungen je so viel Aufmerksamkeit erfahren, wenn die Zeiten mit all den Krisen und Theorien zur Entdeckung neuer Viren nicht unser bisheriges Verhältnis zur Natur so massiv in Frage gestellt hätten?


„Na gut“, sagt mein Wein, „so weit hast du mich inzwischen mit deinem Gerede schon zum Konstruktivisten werden lassen. Aber man kann es ja auch übertreiben.“


„Was meinst du denn damit?“


„Na ja, dass Latour seine Akteure im Netzwerk nicht nur um nichttriviale Organismen erweitert, sondern in das von ihm eingeforderte „Parlament der Dinge“ nun auch triviale Aktanten wie Verkehrsampeln, Smartphones und Schutzmasken einlädt, das geht ja nicht nur meinen arroganten Reinzuchthefen auf den Geist. Die Soziologen nennen es wissenschaftlichen Kitsch, die Philosophen ontologische Verflachung.“


„Wie auch immer, die menschengemachte Katastrophe, die auch Latour so gesehen hat, erfordert ein radikales Umdenken in unserem Verhältnis zur Natur. Warum soll man da nicht mal zu einem umfassenden Diskurs im Parlament der Dinge einladen? Nur muss man dazu, worauf Dirk Baecker hinweist, eine Art ‚Infra-Sprache‘ entwickeln, ‚die Vorgänge, Aktivitäten und Assoziationen weit unterhalb der gewohnten Sprache der Soziologie (Rollen, Normen, Handlungen) beschreiben kann‘.


Im übrigen: Wie diese ‚trivialen‘ Dinge wie Abstandsmarkierungen, Desinfektionsflaschen und FFP2-Masken zu Verstörungen umfassender Systeme führen, sehen und lesen wir tagtäglich. Von Kopftüchern und One-Love-Armbinden mal ganz zu schweigen.“


„Nun ja, dass Symbole die Art unserer Kommunikation beeinflussen, ist ja wohl ein alter Hut, aber was hat das Ganze denn mit deinem Coaching oder mit uns im Prozess der Weinbereitung zu tun?“


„Unser Diskurs ist doch ein gutes Beispiel dafür, wie es im Parlament der Dinge zugehen könnte: Wie du dich entwickelst, hängt nicht nur von unserem Wissen über Hefebakterien ab, sondern auch von unserem Wissen über das Zusammenspiel von Phenolen und Sauerstoff und dem Vorhandensein verschiedener Säuren. Und es wirken in diesem System nicht nur die nichttrivialen, biologischen Elemente des Entwicklungsprozesses, sondern auch die trivialen, wie die Beschaffenheit der Fässer oder deren Größe – mal von den nichttrivialen Vorgaben der Weinkommissionen abgesehen. Und natürlich ist es von Bedeutung, ob ich Kenntnis von diesen Prozessen habe. Sicherlich hat es die Hefebakterien auch schon vor Pasteur gegeben, aber erst durch ihre Entdeckung und die anderer relevanter Elemente hat sich der gemeinsame Entwicklungsprozess neu erfinden können. Und damit ändert sich auch das Verhalten zu jedem Teil des Prozesses. Und damit ändert sich auch unser Verhältnis. Ich würde ohne diese Entdeckungen anders mit dir reden – vielleicht sogar gar nicht mit dir reden – und auch dich und deine Entwicklung anders wahrnehmen. Das heißt, ich würde dich anders schmecken, nicht auf deinen grandiosen Abgang im Mund achten und vielleicht gar nicht wissen, in welchem Glas du dich am wohlsten fühlst und wie lange du nach der Flaschenöffnung noch Zeit brauchst, um dich so zu präsentieren, wie es dir angemessen ist. Und ich würde es nicht in Ordnung finden, wenn dich einer der Weintrinker mit Waldfrüchten, ein anderer aber mit Anklängen an Tabak und Leder assoziierte.“


„Du meinst also, die Wahrheit liegt nicht so einfach in mir rum, sondern ist nur durch unseren gemeinsamen Entwicklungsprozess für uns beide erfahrbar?“


Und ehe ich mir mit der Bemerkung „Was ist die Wahrheit?“ die Hände waschen kann, sagt mein Wein: „Aber werde ich dann nicht ein bevorzugtes Getränk für Wissenschaftsleugner und Verschwörungstheoretiker?“


„Auf keinen Fall! So ist ja schon Paul Feyerabend mit seinem ‚Anything goes‘ missverstanden worden. Naturwissenschaft ist nicht beliebig, aber es gibt keine unbefleckte Erkenntnis, wie ein anderer Philosoph gesagt hat. Und von daher lohnt es sich, den Erkenntnisprozess zu beobachten und kontextbezogene Wahrheiten zu akzeptieren. Es ging Latour darum, die Mechanismen der Wahrheitsproduktion zu untersuchen, zu beobachten und zu analysieren, wie wissenschaftliche Netzwerke Objektivität herstellen.


Wenn du als Wein denn eine Wahrheit enthältst, dann die, die wir beide in einem gemeinsamen Suchprozess hervorgebracht haben. Und die erschließt sich jedem deiner Trinker, wenn auch nicht, wie wir wissen, auf die gleiche Weise.


„Und all das sind Ideen, die dir auch beim Coaching helfen?“


„Ja, auch da steht der Prozess einer gemeinsamen Ko-Konstruktion von Bedeutung im Vordergrund.


Den Klienten ist nicht geholfen, wenn ich ihnen ein Produkt anbiete, wenn ich in einer Expertenmeinung die Wahrheit über bessere Lebensführung verkünde oder sie nach meinen Vorstellungen anleite. Auch Lösung bedeutet ja nicht die lineare Beseitigung von Problemen durch Alternativvorschläge. Lösung bedeutet den Prozess der Auflösung hinderlicher Strukturen durch Fragen, Metaphern, Bilder und Symbole, die in diesem Lösungsprozess Suchprozesse auslösen. Dadurch werden Bedeutungen verändert, die alternative Handlungen und weiterführende Sichtweisen ermöglichen.


Und wie der Lösungsprozess im Wein zu Polymerisationen, Klärungen, Ausbildungen neuer Geschmacksstoffe und auch zu Bodensatz führt, bringen die Klärungsprozesse im Coaching Veränderungen und Neuformierungen von Ideen, Bildern und Haltungen hervor, die gegen Ende den Ratsuchenden zu neuen Wahr„gebungen“ und damit zu neuen Handlungsalternativen befähigen. Latour hat ein ähnliches nichtlineares Schritt-für-Schritt-Vorgehen als Analyseinstrument naturwissenschaftlicher Forschung wiederholt betont. Und dazu können auch die trivialen Aktanten über ihren Symbolgehalt hinaus beitragen. Auch hier haben wir mehr oder weniger explizit im Coaching-Prozess schon die von Dirk Baecker erwähnte ‚Infra-Sprache‘ versucht. Es wäre doch interessant, die von Milton H. Erickson verwendeten Sprachmuster und Strategien darauf hin zu analysieren. Ich erinnere nur an die häufige Verwendung von Bildern, Ankern, Skulpturen, Ego-States und anderen Aktanten.“


„Ja“, sagt mein Wein, „ich habe dich neulich mit dem Holzfass reden hören, als du ihm erklärt hast, dass du im Moment noch das Inox-Fass bevorzugst. Aber das ist bestimmt noch nicht alles, was du mir über Latour erzählen willst.“


„Nein, mir imponiert, wie Latour auch immer eine Theorie der Praxis im Auge hatte, ja, wie er sich gesellschaftspolitisch engagiert und Aktionen initiiert und begleitet hat.


„Er ist eben nicht im Elfenbeinturm aufgewachsen, wie meine Reinzuchthefen, sondern im väterlichen Weinkeller.“


„Spätestens seit seiner teilnehmenden Beobachtung an naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozessen verstand er sich als empirischer Philosoph. Er könne nicht abstrakt denken, er brauche stets den konkreten Kontext, hat er einmal gesagt. Und so war es nur folgerichtig, dass er sich mit seinen Ideen an vielen gesellschaftspolitischen Diskussionen und Aktionen beteiligte. Vor dem Pariser Klimagipfel beispielsweise schuf er auf Anregung der Regierung – und vielleicht auch als Gegengewicht zu den Gelbwesten-Protesten – ein ‚Denkatelier‘, in dem mit Betroffenen über ökologische und ökonomische Zukunftsfragen in staatsbürgerlicher Verantwortung diskutiert werden sollte. Seine Schrift Das terrestrische Manifest wurde auch im Bereich der Kunst begeistert aufgenommen. Die Ausstellung Down to Earth im Berliner Gropius-Bau vor zwei Jahren und die klimabezogenen Aktivitäten „Critical Zones“ im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien zeigen ihn als engagierten Streiter für eine erlebbare Zukunft der ‚Erdlinge‘.


Wie der Theatermacher Milo Rau, der mit Latour befreundet war, bemerkte: ‚Nach dem Tod von Pierre Bourdieu gab es keinen anderen Soziologen, dessen Ideen ich so unterschiedslos an besetzten Flughäfen, auf Biobauernhöfen, in Theatersälen oder Ausstellungen, akademischen und aktivistischen Kongressen antraf.‘


In den Wissenschaften hat sich Latour bei all seinen Aktivitäten nicht nur Freunde gemacht. In der Soziologen- wie der Philosophen-Szene wurde unter anderem sein Lavieren zwischen bisweilen schwammigen konstruktivistischen Konzepten und der Hinterfragung des Systembegriffs kritisiert.


„Und was noch?“, sagt mein Wein. „Das ist doch, wie du mir erzählt hast, deine Joker-Frage beim Coaching.“


„Also gut: Was noch? Kurz vor seinem Tod wurde Latour gefragt, was er denn seinem Enkel Lilo, der etwas jünger ist als mein Enkel Philipp, sagen würde, wie er dessen Zukunft in den nächsten 40 Jahren sehe. Und er hat nach einigem Zögern wegen der überraschenden Frage geantwortet, er empfehle ihm Geochemie oder Ökologie zu studieren. Aber zuvor würden die ersten zwanzig Jahre sehr hart werden. Und er hoffe, dass die Erzieher ihm und seinen Mitschülern all die Resilienzen und Überlebensstrategien beibringen könnten, die für diesen Zeitraum unabdingbar seien. Dann hätten wir eine gute Chance.“


„Wie ich dich kenne“, sagt mein Wein und ich höre und sehe ihn schmunzeln, „bastelst du doch deshalb schon an einem neuen Konzept zum Coaching mit Kindern, das den schwammigen Begriff des baden-württembergischen ‚Lerncoachs‘ endlich ablösen könnte.
Für jetzt habe ich noch eine Bitte: Nutzen wir doch meinen Reifungsprozess, indem du mir an den kommenden langen Winterabenden aus seinem letzten Buch vorliest: „Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“ [edition suhrkamp]. Mit Lockdown kenne ich mich schließlich aus, nicht nur während der malolaktischen Gärung.“