Die beiden Seiten der Münze

Als ich meine Ausbildung im hypnosystemischen Integrationskonzept absolvierte, gingen mir einige Fragen durch den Kopf: Was wäre passiert, wenn Mary Richmond, die Pionierin der Sozialen Arbeit, auf Milton Erickson, den Pionier der modernen Hypnotherapie, getroffen wäre? Worüber hätten sich die beiden ausgetauscht? Und wie hätte deren Gespräch die Entwicklung sowohl der Sozialen Arbeit als auch der Hypnotherapie beeinflusst?


Ebenso gut könnte ich mich fragen, was wohl das Ergebnis einer Unterhaltung zwischen Alice Salomon und Gunther Schmidt in Deutschland gewesen wäre? Wie hätte sich das für die Entwicklung der Deutschen Sozialen Arbeit und dem Heidelberger systemischen Modell beziehungsweise dem hypnosystemischen Integrationskonzept ausgewirkt?


Hier in Österreich hätte ich sehr gerne ein Gespräch mit Ilse Arlt geführt. Wie wäre es wohl verlaufen?


Diese Begegnungen können nicht stattfinden, aber es ist wert, so zu tun, als ob diese stattgefunden hätten. Dies könnte zu einem bereichernden Diskurs darüber führen, was einerseits das hypnosystemische Modell von der Sozialen Arbeit lernen könnte und was andrerseits die Soziale Arbeit vom hypnosystemischen Modell.


Diese Idee fasziniert mich bis heute. Ich bin nunmehr fünfzehn Jahre im Feld der Sozialen Arbeit unterwegs. In diesem Zeitraum habe ich mich weiter- und fortgebildet, etwa im Bereich des systemischen Coachings und zuletzt bei Gunther Schmidt im hypnosystemischen Integrationskonzept. Ich führe Soziale Arbeit aus, lehre und supervidiere Sie und schreibe darüber wissenschaftliche Artikel.


Bislang ist mir noch wenig Material zur hypnosystemischen Sozialen Arbeit in der scientific community begegnet. Und genau das möchte dieser Blog. Er verbindet das hypnosystemische Integrationsmodell mit der Sozialen Arbeit.


„Aber halt, Herr Kluschatzka!“ So höre ich es in mir.


Ich wende nun ein erstes hypnosystemisches Modell an, das Seiten-Modell. Ich höre eine innere Stimme und benutze diese, um ein Thema zu explorieren und zu reflektieren. Diese Stimme kann FachkollegInnen repräsentieren, insbesondere jene TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit, die sich in den letzten Jahr(zehnt)en gegen eine Vertherapeutisierung der Sozialen Arbeit ausgesprochen haben.


„Soziale Arbeit beschäftigt sich mit sozialen Situationen“, so könnte jene Stimme argumentieren, „das hypnosystemische Integrationsmodell beschäftigt sich mit psychologischen, psychotherapeutischen, jedenfalls aber psychischen Situationen“.


Weiter könnte angeführt werden: „Milton Erickson war Psychiater und Hypnotherapeut (und noch einiges mehr). Gunther Schmidt ist Arzt und Therapeut. Ist dies also ein weiterer Versucht, Soziale Arbeit zu vertherapeutisieren?“ Nein! Denn Soziale Arbeit und Psychotherapie sind unterschiedliche Handlungsfelder, die (vermutlich) miteinander verwandt sind, aber eben keine eineiigen Zwillinge, sondern bloß Verwandte. Und das ist wortbildlich gemeint.


Freilich können Soziale Arbeit und Psychotherapie die gleichen theoretischen Quellen heranziehen, etwa wie dies die systemische Soziale Arbeit und die systemische Psychotherapie tun. Möglicherweise werden sogar ähnliche Methoden und Werkzeuge verwendet: Sowohl SozialarbeiterInnen als auch PsychotherapeutInnen verwenden die zirkulären Fragen oder die Wunderfrage oder andere Mittel, um deren KlientInnen, KundInnen oder AdressatInnen zu unterstützen. Dennoch sind dies unterschiedliche Handlungsfelder, und das eine kann nicht an das andere angepasst werden. Das ist auch nicht der Zweck meiner Ausführungen. Ich möchte einige sokratische Gegenfragen stellen, quasi eine andere Seite von mir zu Wort kommen lassen:


„Gunther Schmidt ist auch Volkswirt. Wird nicht dessen hypnosystemisches Integrationsmodell auch im Teamcoaching oder der Organisationsentwicklung angewandt? Hierbei stehen nicht nur psychische Situationen im Vordergrund, sondern auch soziale. Könnte es sein, dass es möglich ist, das hypnosystemische Integrationsmodell sowohl auf psychische als auch soziale Situationen anzuwenden? Ich frage rein hypothetisch, um einerseits die Möglichkeit zu geben darüber zu reflektieren und andrerseits das hypothetische Fragen als ein hypnosystemisches Werkzeug vorzustellen.“


Eine weitere Frage bezieht sich auf ein gegenwärtiges Modewort in der Sozialen Arbeit: „Inwieweit gilt das Prinzip der Ganzheitlichkeit? Wäre es nicht ganzheitlich, beides zu betrachten und miteinzubeziehen, also sowohl das psychische als auch das soziale?“


Auch Soziale Arbeit kann psychologische Situationen in deren Handlungsspielraum miteinschließen und bearbeiten. Dies tut diese sehr oft, etwa in Krisenzentren, in der beruflichen Integration aber auch in psychosozialen Diensten. Auf der praktischen Ebene scheint dies zu gelingen. Vermag dies dann auch die theoretische?


„Und inwieweit“, das wäre meine dritte Fragen, „können tatsächlich psychologische Situationen von sozialen getrennt werden? Ist dies eine theoretische Trennung? Eine praktische? Eine lebensnahe?“


Die Anwendung des hypnosystemischen Integrationsmodelles auf die Soziale Arbeit wirft nicht nur sehr interessante Fragen auf. Sie verhilft zu einem differenzierten Denken. Zu einem ganzheitlichen Denken.


Wenn wir ganzheitlich vorgehen, dann könnten wir einen der postmodernen Väter der Ganzheitlichkeit befragen: Ken Wilber und dessen integrales metatheoretisches Konzept. Ken Wilber definiert, dass Menschen sowohl psychische als auch soziale Wesen seien. Das eine wie das andere sei bloß die eine – oder eben andere – Seite derselben Münze.


Es ist nicht meine Absicht, Soziale Arbeit zu vertherapeutisieren. Und es wäre vermessen, zu behaupten, ich könnte die Soziale Arbeit. Aber ich kann einen interessanten Dialog darüber eröffnen, inwieweit das hypnosystemische Integrationskonzept die Soziale Arbeit befruchten kann – und umgekehrt gerne auch. Abschließend könnte ich formulieren: Eine hypnosystemische Soziale Arbeit betrachtet die beiden Seiten der Münzen. Und darum wird es in diesem Blog fortan gehen.


Weiter möchte ich festhalten:


Soziale Arbeit ist eine eigenständige Disziplin mit einem umfassenden Theorie- und Methodenkonzept. Die Disziplin Soziale Arbeit wächst stetig an. In der Praxis spielt Soziale Arbeit eine wichtige Rolle, als Arbeit gebendes Feld für viele ProfessionistInnen und als wichtiger gesellschaftlicher Dienstleistungssektor. All diese verschiedenen Facetten der Sozialen Arbeit können auch hypnosystemisch beleuchtet werden.


Soziale Arbeit wird, so ein mögliches Wortbild dazu, wie ein Diamant in unterschiedlichen Facetten betrachtet. Case Management, Sozialraumorientierung, Lebensweltorientierung und andere Modelle nehmen Facetten der Sozialen Arbeit wahr. Dies sind wichtige Bezugsquellen auch für diese Diskussion.


Mit dem hypnosystemischen Integrationsmodell versuche ich eine weitere Facette der Sozialen Arbeit zu beleuchten. Und das erachte ich für sehr interessant.


Zur Eröffnung des Blogs wünsche ich viel Freude beim Lesen,


Ralf Eric Kluschatzka