Zirkuläres Fragen

engl. circular questioning, franz. questionnement m circulaire, wird mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: Zum einen wird der Ausdruck als Oberbegriff für systemische (System) Frage- und Interviewtechniken verwendet, denen Hypothesen (Hypothetisieren) einer zirkulären (d. h. rückgekoppelten) Kausalität zugrunde liegen, zum anderen für eine spezielle Frageform, bei der ein Beobachter über die Beziehung zweier anderer Personen befragt wird. Entwickelt wurden diese Interviewtechniken ursprünglich von der sogenannten Mailänder Gruppe von Familientherapeuten: Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata (1981; Therapie).


Sozialsysteme entstehen, wenn Beobachter sich gegenseitig beobachten und ihr Verhalten koordinieren. Um dies zu tun, können sie sich gegenseitig immer nur an den äußerlich wahrnehmbaren Verhaltensweisen des anderen orientieren, denn bezüglich der Prozesse, die sich in der Psyche eines anderen Menschen abspielen, besteht keine Möglichkeit der direkten Beobachtung von außen. Deshalb sind die Beteiligten darauf angewiesen, gegenseitig ihr Verhalten – von der Mimik und Gestik über die Aktionen bis hin zum gesprochenen Wort – zu interpretieren, d. h., sie schreiben ihm Bedeutung zu. Über die sinnlich direkt wahrnehmbare und beschreibbaren Aktionen des anderen hinaus bezieht sich dies vor allem auf die immer nur unterstellten (d. h. vom Beobachter konstruierten) Motive, Gedanken und ???? Gefühle, die das beobachtete Verhalten erklären können. Allerdings, das muss an dieser Stelle betont werden, werden in der Regel von unterschiedlichen Beobachtern des Verhaltens eines Menschen unterschiedliche Erklärungen dafür konstruiert. Es kann dementsprechend auch unterschiedlich bewertet werden. Generell gilt daher: Kein Mitglied eines Sozialsystems kann direkt auf das, was sich psychisch beim anderen abspielt, reagieren, sondern immer nur auf seine eigene Deutung des Verhaltens des anderen bzw. die dafür zugeschriebenen Gründe. Zirkuläres Fragen (im engeren wie im weiteren Sinne) versucht, diesem Umstand gerecht zu werden, indem es den Fokus der Aufmerksamkeit auf die direkt beobachtbare Interaktion und die dem Verhalten der Beteiligten zugeschriebenen unterschiedlichen Bedeutungen richtet. Auf diese Weise eröffnet sich im optimalen Fall nicht nur der Blick auf repetitive Muster der Kommunikation, sondern auch auf die unterschiedlichen Bilder, welche die Beobachter voneinander konstruieren und sich gegenseitig bestätigen. Wenn zum Beispiel ein Dritter über die Interaktion zweier anderer Personen in ihrer Anwesenheit befragt wird, dann wird nicht nur dem Interviewer ein Bild davon vermittelt, welche Muster der Kommunikation zwischen diesen beiden sich regelhaft beobachten lassen und wie sie vom befragten, außenstehenden Beobachter erklärt und bewertet werden, sondern auch die Beteiligten selbst können – bei Anwesenheit – eine Außenperspektive (Fremdwahrnehmung) auf die Spielregeln ihrer Kommunikation erhalten. Doch nicht jede Frage oder Antwort führt dazu, dass Informationen gewonnen werden können. Denn »Information« kann systemtheoretisch definiert werden als »Unterschied, der einen Unterschied macht« (Bateson 1979, S. 274). Wo nicht nach Unterschieden gefragt wird, die für die Beteiligten Unterschiede machen (= relevant sind), gibt es keine Information.


Für die therapeutische oder beraterische (Beratung) Praxis ist neben dem informationsschöpfenden Aspekt der informationsgebende Aspekt des zirkulären Fragens von großer Bedeutung. Denn jede Frage impliziert irgendwelche Vorannahmen, sodass sie immer (auch) einen suggestiven Effekt hat. Daher sind Fragen – entgegen ihrer Alltagseinschätzung – nicht harmlos, den Status quo eruierend, sondern mächtige Interventionsinstrumente, die eine verstörende oder bestätigende Wirkung auf ein soziales System bzw. seine Mitglieder haben können. Wenn beispielsweise danach gefragt wird, wer »schuld« (Schuld) an XY ist, wird damit stillschweigend eine Hypothese oder Theorie über die Genese von XY transportiert, die unterstellt, das XY durch die schuldhaften Handlungen einer Person ausgelöst wurde. Daher ist die Wahl der Fragerichtung davon abhängig, welche Hypothese (implizit) vermittelt werden soll. Dabei geht es nicht so sehr um ihre Richtigkeit, sondern um ihre Nützlichkeit (Viabilität). Und die ist daran zu erkennen, dass sie Lösungsmöglichkeiten für die Beteiligten eröffnet. In den meisten Fällen ist das zirkuläre Fragen darauf gerichtet, die mitgebrachten geradlinigen Kausalitätskonstruktionen aller Beteiligten infrage zu stellen und den Blick darauf zu eröffnen, wie jeder den Kontext für das Verhalten des anderen schafft. Wenn beispielsweise nach dem gegenseitigen Bedingen von Verhalten gefragt wird (Frage: »Wenn Sie, Herr A., wollten, dass Ihre Frau wieder so nörgelt, wie Sie es beklagen, wie könnten Sie das am besten erreichen?« – Antwort: »Ohne Worte vom Frühstückstisch aufstehen und das Geschirr stehen lassen«), wird die Ursache-Wirkungs- bzw. Täter-Opfer-Zuschreibung (Opfer) auf den Kopf gestellt, weil implizit das vermeintliche Opfer zum Täter und der Täter zum Opfer gemacht wird. Allerdings muss dies dann auch in umgekehrter Richtung geschehen (»Wenn Sie, Frau A., wollten, dass Ihr Mann ohne Worte vom Frühstückstisch aufsteht und ..., was müssten Sie tun?« Usw.). Auf diese Weise wird jeder Partei, die an der Herstellung der Interaktionsmuster beteiligt ist, sowohl die Opfer- als auch die Täterrolle (Rolle) zugeschrieben. Der Vorteil der Täterrolle ist dabei, dass jeder die Option erhält, sein Verhalten zu verändern (und damit das Interaktionsmuster), während sich jemand in der Opferrolle als ohnmächtig (Macht) und ohne alternative Handlungsmöglichkeiten definiert. Zirkuläres Fragen kann im optimalen Fall solche Wechselbeziehungen bewusst machen und jedem der Beteiligten Handlungsalternativen eröffnen, weil sich aufgrund der impliziten systemischen Hypothesen für jeden die Bedeutungszuschreibung zu eigenem oder fremdem Verhalten ändert oder zukunfts- und lösungsorientierte Ideen gestreut wurden. Auf dieselbe Weise gibt das zirkuläre Fragen auch dem professionellen Berater die Möglichkeit, Hypothesen über sein Klientensystem zu entwickeln, die weiter gehende Interventionsmöglichkeiten (von Umdeutungen und Umbewertungen bis zu Verhaltensverschreibungen und mehr oder weniger guten Ratschlägen) eröffnen.


Verwendete Literatur


Bateson, Gregory (1979): Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 1982.


Kindl-Beilfuß, Carmen (2008): Fragen können wie Küsse schmecken. Systemische Fragetechniken für Anfänger und Fortgeschrittene. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2011.


Penn, Peggy (1983): Zirkuläres Fragen. Familiendynamik 8: 198–220.


Selvini Palazzoli, Mara, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin u. Giuliana Prata (1981): Hypothetisieren – Zirkularität – Neutralität: Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik 6: 123–139.


Simon, Fritz B. u. Christel Rech-Simon (1998): Zirkuläres Fragen. Systemische Therapie in Fallbeispielen: Ein Lernbuch. Heidelberg (Carl-Auer), 8. Aufl. 2009.


Tomm, Karl (1994): Die Fragen des Beobachters. Schritte zu einer Kybernetik zweiter Ordnung in der systemischen Therapie. Heidelberg (Carl-Auer), 5. Aufl. 2009.