Beobachtung
1. Beobachtung, lat. observatio, animadversio, engl. observation, frz. observation, ist seit dem 17. Jahrhundert ein geläufiger Ausdruck. Er wurde jedoch nicht oder nur sehr selten als Begriff aufgefasst. Historisch gesehen, aber auch noch gegenwärtig, kombiniert das Wortfeld „Beobachtung“ verschiedene Bedeutungen, etwa die der methodisch geleiteten Erfahrung, die über bloße Wahrnehmung (über ein Bemerken) hinausgeht, also in gewisser Weise feiner, geduldiger ist und mehr Zeit benötigt als schiere „Distinktivität“, die direkter im Einsatz ist. In den Sinnhorizont des „Beobachtens“ ist auch so etwas wie das Argwöhnische, das Gefährliche, das Polizeiliche, das Spionieren eingetragen, im Kern ein „Gib Obacht!“, auch ein „Aufmerken“ oder ein „Schau vorsichtig hin!“, „Sei achtsam!“, „Sei sorgfältig!“, … Immer ist „Dehnung der Zeit“ im Spiel. Dafür steht auch der Ausdruck „Observatorium“ ein. Bei Charles Bonnet wird moderne Theorie schon vorweggenommen: Beobachtung ist verknüpft mit einer „Bevorzugung“, die gekoppelt ist an motivierte (intendierte) Aufmerksamkeit. Starke Abstraktionen des Beobachtens, die noch nicht begrifflich gearbeitet sind, finden sich früh in Formulierungen wie dieser: „Überhaupt kann man nicht genug bedenken, daß wir immer nur uns beobachten, wenn wir die Natur und zumal unsere Ordnungen beobachten.“ Auch eine Art glänzender Vor-Verweise sind möglich: „Wenn wir uns selbst beobachten, beobachten wir […] niemals uns selbst, sondern immer einen andern. Wir können also niemals von Selbstbeobachtung sprechen, oder wir sprechen davon, dass wir uns selbst beobachten als der, der wir sind, wenn wir uns selbst beobachten, der wir aber niemals sind, wenn wir uns nicht selbst beobachten, und also beobachten wir, wenn wir uns selbst beobachten, niemals den, welchen wir zu beobachten beabsichtigt haben, sondern einen anderen. Der Begriff Selbstbeobachtung, also auch der Selbstbeschreibung ist also falsch.“
2. Der Begriff des Beobachtens: George Spencer-Brown liefert Luhmann den Kalkül, der es ihm gestattete, „Beobachten“ als Operation zu begreifen. Sie besteht aus zwei „Momenten“: Unterscheiden und Bezeichnen. Es geht also wie bei System/Umwelt oder Sein/Nichts um eine „Ohne-einander-nicht-Differenz“, die nicht als Einheit einer Zwiefalt gedacht werden kann. Einfacher formuliert: Wenn unterschieden wird, ist „bezeichnen“ im Spiel; wenn bezeichnet wird: „unterscheiden“. In dieser Abstraktionslage kann man sich auch an Jacques Derridas Ausdruck „différance“ erinnern, aus dem folgt, dass Beobachtungen nicht als Einzelereignisse, nicht als Singularitäten vorkommen können. Die pragmatische Lösung ist dann einerseits der Einsatz „räumlicher“ Imaginationen und anderseits das Einschalten der Zeitdimension, in der man mit Sequenzierungen arbeiten kann. Die Operation (das Ereignis) der Beobachtung ist nicht an einen Ort gebunden und geschieht nicht zu einer gleichsam empirisch bestimmbaren Zeit und auch nicht zugleich mit anderen Ereignissen. Es ist also wiederum ein Beobachter nötig, der andere Beobachtungen „zeitpunktfixiert“ oder „anheftet“ bzw. „synchronisiert“ – in einer Zeit, die durch dieses Anhalten erst entsteht. Es ist klar, dass derart heillose Komplexität außer im Feld von Höchstabstraktionen geradezu ästhetisch imponieren kann, aber für alles, was man Praxis nennt, gleichsam „umsonst“ zu sein scheint.
3. Die Bedeutung für die Theorie: Mit der Konstruktion des Beobachtens als Theoriebegriff ist ein tiefer „Einschnitt“ zumindest in der Systemtheorie Luhmanns zu verzeichnen. Er sagt selbst in aller Deutlichkeit: „Nun wird alles anders.“ Gemeint ist eine ubiquitäre „Relativierung“ , eine De-Ontologisierung des Umgangs mit „Sinn“. Man kann zwar immer noch „Realität“ bezeichnen oder unterscheiden, aber sich nicht mehr davon lösen, dass die Unterscheidung, die zugrunde liegt, von einem (Selbst-)Beobachter vorgenommen wird. „Wirklichkeit“ scheint „erwirkt“ zu sein durch die Operation von Beobachtern, die „Realität“ markieren im Rahmen von anders möglichen Unterscheidungen, zum Beispiel: Realität/Traum oder Fiktion oder Virtualität oder Irrealität oder Unwirklichkeit oder Utopie oder Phantasma oder Wahrheit oder Irrglauben … Sobald ein Gegenbegriffsaustausch vorgenommen wird, verändert sich die Ausgangsbezeichnung, etwa so wie in diesem Fall: „Bewusstsein im Unterschied zum Gehirn ist etwas anderes als Bewusstsein im Unterschied zur Kommunikation. […] Das Austauschen des Gegenbegriffs, die sogenannte antonym substitution, ist für die Bestimmung des Begriffs, um den es geht, von entscheidender Bedeutung.“ Wenn dies gewusst werden kann, wird die Welt des Ontologischen fluide. Beobachtung als Begriff führt eine generalisierbare Skepsis ein, die es schlicht unmöglich macht, nicht an einer Wirklichkeit zu zweifeln, wenn man darüber informiert ist, dass man nicht nicht beobachten kann, wenn von etwas die Rede ist. Die Welt wird zu einem Kompendium von Annahmen unter Verdacht. „… wir haben es jetzt immer mit einer Weltbeschreibung zu tun, die die Sachverhaltsdarstellung inklusive Zwecken, Handlungsbereitschaften und dergleichen durch die Referenz auf einen Beobachter filtert. Man hat immer die Frage, wer das sagt und wer das tut und von welchem System aus die Welt so und nicht anders gesehen wird.“ Demzufolge ist Ontologie nur noch eine Theorie, die behauptet, dass etwas ohne Beobachtung existieren kann. Wenn das bestritten wird, kann ontologisches Denken seine Position nur noch vertreten, indem es daran festhält, dass es die Operation des Beobachtens auf alle Fälle und unbestreitbar wirklich gibt – wenigstens dieses.
4. Die Bedeutung für die Praxis: Im Blick auf solche Abstraktionen lässt sich kaum sagen, dass diese Flüge über den Wolken nützlich für irgendeine Praxis sind. Brauchbar sind aber die „Typen“ des Beobachtens erster und zweiter Ordnung. Die Form B1, die recht gut zu verstehen ist, meint nichts weiter als immer vorausgesetzte „Fremdreferenz“, klassisch: als Unausweichlichkeit, die unter dem Titel „Intentionalität“ firmierte. Man wird hier an Hegel, Brentano, Husserl … denken müssen. Moderner gesagt: Es geht dabei um das Prozessieren und Verarbeiten von Informationen, die sich reflexionsfrei auf „Gegebenheiten“ beziehen, deren Gegebenheit (dogmatisch) als fraglos gegeben behauptet wird. Man braucht nicht einmal ihre Existenz zu bestreiten. Sie ist superplausibel, mithin: evident. Wenn man daran etwas ändern will, muss die B2 gelernt worden sein, die Möglichkeit (und die dazu erforderliche Technik), Unterscheidungen von Unterscheidungen zu unterscheiden. Dieses „Vermögen“ würde, so die These, dazu führen, dass der Beobachter (wer immer das sein mag) sich gleichsam selbst „erwischt“ und damit auch die Unterscheidungen, die er selbst einsetzt und in diesem Einsatz die Unterscheidungen, die der Beobachtete benutzt, auf kontingent stellt, auf nicht notwendig, also anders möglich. Dieser Bezug auf das anders Mögliche (auf Kontingenz) hebelt fungierende Ontologien aus. Was dabei gewonnen werden kann, um einmal Habermas zu variieren, ist die „zwanglose“ Distanzierungskraft, die situativ plausible Situationen durch B2 entplausibiliert. Wer Behinderte für stigmatisiert hält, kann damit konfrontiert werden, dass Behinderung soziale Systeme stigmatisiert. Das muss nicht stimmen, aber die These kann ausprobiert werden. Die passende Frage ist immer: „Was wäre, wenn man anders unterschiede …?“ Dass diese Frage zugleich das bestimmt, was man „Kreativität“ nennt, dürfte leicht zu akzeptieren sein.
5. Der Beobachter: Dieser Ausdruck ist auf erstaunliche Weise populär. Die Existenz eines Beobachters ist „lebensweltlich“ vollkommen einleuchtend. Wenn von ihm die Rede ist, braucht man nicht daran zu zweifeln, dass es ihn gibt. Er muss da sein. Man kann ihn locker und lässig bezeichnen, man sieht ihn ja, er ist in den meisten Fällen derjenige‚ der „beobachtet“, derjenige, der dem „Beobachten“ zugrunde liegt. Das ist nicht viel anders, wenn jemand sich selbst beobachtet. Die Tradition, in die diese Selbstverständlichkeit eingebettet ist, wird philosophisch unter dem Titel „Subjekt“ verhandelt. Er bezeichnet eine jedem Sinnprozessieren unterlegte Figur des Darunter, Dahinter. Soziologisch gesehen, ist „Subjekt“ ein prominenter Name für eine kommunikative Zuschreibung (Konstruktion) sozialer Adressen. Sie ist notwendig, weil Kommunikation Zurechnungskonventionen benötigt. Man kann von einer Art Kompendium sprechen, in dem der Rollen- und Personenbegriff, aber auch das „Ich“ und das „Selbst“ eine zentrale und stark umstrittene Funktion einnehmen, umstritten in Formulierungen wie dieser: „Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein und auch nicht von meinem eignen. Es ist kein Sein. – Ich selbst weiß überhaupt nicht und bin nicht. Bilder sind: Sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eines dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einem Traum, der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt.“ Der Beobachter ist demnach kein fassbares System. Luhmann formuliert: „Er ist ein Gebilde, das sich aus der Verkettung von Operationen bildet.“ – „Anders denn als Operation kann er gar nicht vorkommen.“ Das bedeutet, dass auch soziale Systeme als Beobachter begriffen werden können. Erst ab dann hat man es mit Soziologie zu tun, erst ab dann lässt sich ein sozialtheoretisch fundiertes Arbeiten mit Systemen starten.
Verwendete Literatur
Bernhard, T. (1971): Gehen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Krippendorff, K. (1998): Wenn ich einen Stuhl sehe – sehe ich dann wirklich nur ein Zeichen? Forum 5 (2): 98–106.
Lichtenberg, G. C. (2005): Sudelbücher I. Hg. v. W. Promies. München (dtv).
Luhmann, N. (2004): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 7. Auflage 2017.
Poser, H. (1995): Das Genie als Beobachter. Zur Preisfrage der Holländischen Akademie von 1768 über die Kunst der Beobachtung. Paragrana 4 (1): 86–103.
Weiterführende Literatur