Zum Tod von Helm Stierlin - Ein Nachruf von Gunthard Weber
“I Stop Somewhere Waiting for You”
Die Verwirklichung dieser letzten Gedichtzeile aus Walt Whitman’s “Song of Myself“ wünschte ich mir, jetzt, wo Helm Stierlin am 9. September 95-jährig friedlich eingeschlafen ist und nur noch die vielen Erinnerungen bleiben. Im Angedenken an ihn schaue ich noch einmal dankbar im Rückspiegel auf sein Leben, sein Werk und seine Beziehungen. Sein erfülltes Leben war so facettenreich, dass es unmöglich ist, sein Werk und Wirken hier umfassend zu würdigen. Ich treffe also eine persönliche Auswahl.
Erst einmal gilt unser Mitgefühl als Verlagsteam Satuila Stierlin, seiner Frau und Kollegin, mit der er über 50 Jahre eine austauschende und liebevolle Ehebeziehung lebte, und ihren beiden Töchtern Larissa und Saskia, die ihn in den letzten Jahren, in denen seine geistigen und körperlichen Kräfte langsam nachließen, außergewöhnlich liebevoll umsorgt und gepflegt haben.
Es war ein besonderes Privileg, dass ich Helm Stierlin schon sehr früh nach seiner Rückkehr aus den USA 1974 kennenlernen und von 1977 bis 1983 sechs Jahre mit ihm zusammenarbeiten durfte. Wer bei Helm Stierlin arbeitete, musste sich um seine Zukunft nicht viele Gedanken machen. Seine Motivationsstrategie war ein „gnadenloses“ Anerkennen. In den sechs Jahren der Zusammenarbeit mit ihm habe ich mich kein einziges Mal von ihm kritisiert gefühlt, aber auch nie so viel gearbeitet wie in dieser Zeit.
Ich war 1974 Assistenzarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg und wunderte mich, dass Mittwoch nachmittags immer so viele Menschen in den großen Hörsaal strömten. Sie besuchten die ersten Vorlesungen von Helm Stierlin. Helm Stierlin? Ein Kollege schwärmte von ihm. Aus Neugier gesellte ich mich dazu und blieb schließlich das ganze Semester. Hinten oben im Hörsaal saßen damals auch schon Bernhard Trenkle, Wolf Ritscher und Gunther Schmidt. Die Universität hatte Helm Stierlin 1974 nach 17 Ausbildungs- und Forschungsjahren in den USA nach Heidelberg eingeladen und für ihn als ärztlichen Direktor und Lehrstuhlinhaber die Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie geschaffen.
Wie in einer Enklave führte die kleine Abteilung in einem schlichten Zweifamilienhaus in der Mönchhofstraße 15a im Stadtteil Neuenheim bis zu seiner Emeritierung 1991 ein kreatives Dasein, ganz überwiegend bestehend aus ihm als Chef, einem Oberarzt und einer Assistentin oder einem Assistenten. Diese Abteilung entwickelte sich zu einem der innovativsten und wegweisendsten Institute der systemischen Therapie in Deutschland. Es war immer klar, dass Stierlin trotz seiner Teamorientierung der Chef war. Viele der anfallenden Arbeiten leisteten seine Assistent:innen und seine Sekretärin, ebenso wie die Organisation der Seminare, Foren und Kongresse. In den Familientherapien zu viert vor und hinter der Einwegscheibe war er ein gleichberechtigtes Teammitglied. Für mich war die Zeit von 1982 bis 1989, in der wir zu viert (Helm Stierlin, Gunther Schmidt, Fritz Simon und ich) Familientherapien mit Familien mit schizoaffektivem und manisch-depressivem Verhalten durchführten, die intensivste und zudem eine erstaunlich konkurrenzfreie und besonders kreative Teamzeit.
Zu anderen Universitätsabteilungen bestanden wenig Beziehungen, dafür fand aber ein umso intensiverer, internationaler Austausch mit vielen Pionier:innen der Familientherapie statt und ab 1978 zunehmend mehr Weiterbildungsaktivitäten wie die Heidelberger familientherapeutische Arbeitsgruppe (HFA), später ab 1984 die Internationale Gesellschaft für systemische Therapie (IGST).
Helm Stierlin war neugierig und immer hochinteressiert an neuen Ansätzen und Ideen. Er entwickelte und lehrte, basierend auf seinen früheren Arbeiten, sein Heidelberger familiendynamisches Konzept [Delegation, bezogene Individuation, Status der Gegenseitigkeit, Mehrgenerationenperspektive (siehe die Arbeiten seines Freundes Ivan Boszormenyi-Nagy)], war aber jederzeit bereit und offen, eigene Erkenntnisse aufzugeben oder zu modifizieren, Neues aufzunehmen, zu integrieren und weiter zu entwickeln, z.B. die vom Mailänder Team der Familientherapie (Mara Selvini-Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin, Guiliana Prata) entwickelten kreativen konkreten Haltungen und systemischen Vorgehensweisen (siehe „Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität - Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung“) oder die Erkenntnisse des Konstruktivismus (z.B. Humberto Maturana, Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Paul Watzlawick) und deren Folgerungen für die systemische Therapie. Gleichzeitig legte er weiterhin Wert darauf, ein Psychoanalytiker zu sein.
Seine vielen Bücher und die zahllosen Buch- und Zeitschriftenbeiträge, die teilweise auch im Carl-Auer Verlag erschienen – er selbst gehörte 1989 zu den Mitgründern des Verlages – kann ich hier nur erwähnen (siehe Michael Reitz: „Helm Stierlin, Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie“). Zusammen mit Josef Duss-von Werdt gründete er die Zeitschrift Familiendynamik und war viele Jahre ihr Mitherausgeber. Und wer hat es außer ihm schon geschafft, dass Mitarbeiter:innen zu Lebenszeiten ein Institut nach dem Gründer benannt haben, das Helm-Stierlin-Institut in Heidelberg oberhalb des Schlosses (gegründet 2002).
Immer wieder machte Helm Stierlin Ausflüge in die Literatur, das Theater und die Politik: „Nietzsche, Hölderlin und das Verrückte“. „Adolf Hitler: Familienperspektiven“; „Die Demokratisierung der Psychotherapie: Anstöße und Herausforderungen“; das Libretto für das Stück Familiendynamik, das am Theater Heidelberg uraufgeführt wurde.
Unvergessen Helms liebenswerte Ungeschicklichkeiten und seine kleinen Fauxpas. Unvergessen auch viele soziale Ereignisse: Alle fünf Jahre die Feiern zu seinem Geburtstag mit den bezaubernden Vorführungen der Stierlin-Töchter, launigen Sketchen und Darbietungen unterschiedlichster Art; die Skiausflüge mit skandinavischen Freunden in Norwegen und Schweden; die Teamfahrten nach erfolgreichen Kongressen nach Venedig und Paris; der Flug in die USA zur Yale University in New Haven, auf dem Helm Stierlin begann, den „Instant Hamlet“ auf altenglisch zu schreiben, der dann auf einem Kongress in Heidelberg uraufgeführt wurde (mit Mara Selvini, Paul Watzlawick, Ivan Boszormenyi-Nagy, Helm Stierlin, Lyman Wynne, Guilia Prata u.a. in den Hauptrollen) und für mich der Aufenthalt in der Stierlin-Villa am Lago Maggiore; die vielen Besuche in der Lutherstraße bei den Stierlins nach seiner Emeritierung; die jährlichen Wanderungen über 15 Jahre hinweg mit vier Freunden, darunter Helm, waren Highlights. Leider ist nun mit ihm der dritte von ihnen gestorben. Sic transit gloria mundi.
Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt
Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja,
Du ruhelose, träumerische!
Friedlich und heiter ist dann das Alter.
Aus Abendphantasie von Friedrich Hölderlin
Friedlich und heiter war Helm Stierlin tatsächlich im Alter und beseelt von einer tiefen Dankbarkeit für alles, was das Leben für ihn bereit gehalten hat.
Ohne Helm Stierlin würde es den Carl-Auer Verlag nicht geben.
Helm, lieben Dank für alles! Wir werden Dich nicht vergessen. Hab‘ eine gute Reise, wo immer sie Dich hinführt. and
– perhaps you stop indeed somewhere waiting for us.
Gunthard Weber, Wiesloch den 11.9.2021