autobahnuniversität / Gunthard Weber - Rückfall oder Vorfall: Über den systemischen Umgang mit sich vermeintlich wiederholenden Verhaltensweisen

Dieses Seminar wurde aufgenommen am 06.04.1991 auf dem internationalen Kongress "Das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis"



„Post aus der Werkstatt“ hieß eine legendäre Kolumne in der Zeitschrift „Familiendynamik“, in der Fritz B. Simon und Gunthard Weber zentrale Aspekte von Therapie und Beratung unter die Lupe und, wenn nötig, auch auf den Arm nahmen. Ihre humorvollen, geistreichen und provokativen „Interventionen ins Feld“ waren und sind von nachhaltiger Wirkung, sowohl für den Ruf der „Heidelberger Schule“ als auch für die tägliche Praxis vieler Therapeuten und Berater.


Zu den Aufnahmen ein Auszug aus "Vom Navigieren beim Driften - „Post aus der Werkstatt“ der systemischen Therapie" S.98-109


Rückfall oder Vorfall: über den systemischen Umgang mit sich vermeintlich wiederholenden Verhaltensweisen.


Als „Rückfall“ werden Vorfälle bezeichnet, von denen man denkt, sie seien beendet, vorbei, überstanden, und sie kommen wieder, treten – mehr oder weniger überraschend – wieder ins Blickfeld: der Rückfall in mittelalterliche Denkgewohnheiten und Aberglauben, der Rückfall in die Barbarei, der Rückfall des zur Bewährung in die Freiheit entlassenen Straftäters, der Rückfall des gesund geglaubten Kranken. Es geht dabei stets um sich wiederholende, negativ bewertete, körperliche Reaktionen oder Verhaltens-, Denk- und Fühlweisen, über die allgemein die Ansicht geteilt wird, sie sollten sich lieber nicht wiederholen.


Wird „Rückfall“ in Verbindung mit »Krankheit“ benutzt, wenn z. B. ein bereits überwunden geglaubtes Fieber nach einem fieberfreien Intervall noch einmal auftritt, so suggeriert dieser Begriff, dass das zweite Fieber in direkter Verbindung zum ersten steht. Das leuchtet ein und lässt sich plausibel erklären: Die Abwehrkräfte eines Menschen (passiv) waren vielleicht noch nicht genügend wiederhergestellt, so dass die noch vorhandenen Viren und Bakterien (aktiv) noch einmal tätig werden konnten. Der Rückfall gehört gewissermaßen in das Paket mit dem Etikett „Krankheit“, er ist ein Bestandteil dieser Einheit. Als solcher wird er von einer erneuten (= anderen) Erkrankung unterschieden.


Es gibt aber im Allgemeinen ein Zeitintervall, nach dessen Ablauf man von einer „neuen“ Grippe, also einem frischen und anderen Ereignis oder Vorfall mit einem neuen Bedingungsgefüge (z. B. neuen Viren) ausgeht. Auf alle Fälle ist solch ein Rückfall etwas Unangenehmes, das vermieden werden sollte.


Das Verhalten oder der Zustand, der als „Rückfall“ bezeichnet wird, kommt meist als „böse“, aber irgendwie doch erwartete Überraschung zurück.


Niemand käme auf die Idee, positiv bewertete Zustände, Ereignisse, Vorfälle oder Verhaltensweisen, die sich wiederholen, als „Rückfall“ zu bezeichnen: ein harmloser Rückfall ins morgendliche Erwachen, ein ganz schlimmer Rückfall ins Weihnachten-Feiern, ins Gute-Klassenarbeiten-Schreiben, ins Sich-Wohlfühlen. Der Begriff „Rückfall“ ist also stets bis zum Rand mit normativen Vorstellungen angefüllt. Man freut sich über die Rückkehr des verlorenen Sohns in die Heimat der „Normalität“, und plötzlich: „Er ist wieder da – der Rückfall!“ bzw. „Er ist wieder weg – der verlorene Sohn (die Gesundheit)!“


Eine solche Begrifflichkeit suggeriert, der einzelne, vom Rückfall ereilte oder von der Gesundheit böswillig verlassene „Patient“ sei nichts weiter als die Bühne, auf der sich all diese Dramen abspielen (die Bretter, die die Welt bedeuten). Er muss all diese schlimmen Geschehnisse ertragen (ihm wird mitgespielt, auf ihm wird herumgetrampelt), und alle Beteiligten sind zur Rolle der unbeteiligten Zuschauer verdammt. Der Lauf der Ereignisse ist nicht genau vorhersagbar und immer mit der Spannung, dem Hoffen und dem Bangen verbunden, ob es denn nun vielleicht doch noch ein Happy End gibt oder nicht.


Weitgehend regelmäßig wiederkehrende, vorhersagbare und von den Entscheidungen der Beteiligten als unabhängig erachtete Ereignisse (wie z. B. der Namenstag, der Winter) oder andere, sich rhythmisch wiederholende und sich ähnelnde Situationen oder Verhaltensweisen werden anders benannt: Jahreszeiten, Phasen, prämenstruelle Syndrome.


Im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich, besonders im Suchtbereich, hat die Idee des „Rückfalls“ nicht nur eine weite Verbreitung gefunden, sie wird auch sehr rege wei- terverbreitet. Rückfall-Prophylaxe gehört denn auch zu den daraus abgeleiteten Aufgaben der Psychiatrie.


Prämissen und Implikationen, die oft mit „Rückfall“ verknüpft werden


Wie immer, wenn wir etwas einen Namen geben, vollziehen wir Unterscheidungen und verknüpfen Ereignisse mit bestimmten Bedeutungen, die ihrerseits wieder bestimmte Umgehensweisen mit und Reaktionen auf das Ereignis wahrscheinlicher werden lassen als andere. Hier einige der Implikationen der Rückfall-Idee:


1. Das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach (manchmal auch umgekehrt)!


Es wird eine psychisch oder somatisch bedingte, schwächende Neigung oder Disposition angenommen, die – wie immer sie auch erworben und wo immer sie lokalisiert sei – Ursache für eine Anfälligkeit, für das unerwünschte Verhalten ist. Oft handelt es sich auch um das Fehlen oder den Verlust von irgendetwas, das eigentlich da sein sollte und dessen Abwesenheit die Schuld am Rückfall zugeschrieben wird (z. B. Kontrollverlust).


Das Spektrum der Möglichkeiten ist breit: Es kann eine Immun- oder Geistesschwäche sein, ein kaputter Filter, herabgesetzte Schwellenwerte für ..., eine Vulnerabilität, eine Grund- störung, mangelnde Ich-Stärke, Frustrationstoleranz, frühe Mutterliebe oder andere defizitäre Persönlichkeitsmerkmale, die man im Schweiße seines Angesichtes entweder erworben oder verloren hat (wie „Haltlosigkeit“/„Halt“, „Willensschwä- che“/„Willensstärke“ oder „Infantilität“/ „Reife“) oder aber, wie immer der bequemste Weg, ererbt hat („Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“: In der Familie X sind die Männer jetzt schon in der dritten Generation zeugungs- unfähig! – Was beweist, dass nicht nur ein Vermögen vererbt werden kann, sondern auch ein Unvermögen).


2. Ein Rückfall kommt selten allein!


Ist das betreffende und als »wiederkehrend« definierte Verhalten erst einige Male gezeigt worden, geht man in den meisten Fällen von der stillschweigenden Annahme aus, dass das Ver- halten auch in Zukunft wahrscheinlich wiederkehren wird („Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ – „Wer einmal einen Nobelpreis bekommen hat, der holt/fängt sich früher oder später wieder einen“ etc.). Die Beteiligten entwickeln meist sogar ganz konkrete Vorstellungen darüber, in welchen zeitlichen Ab- ständen man den Rückfall wieder erwarten darf („Immer im Herbst“ oder „Immer, wenn er sich verliebt“).


Diese Zukunftsvisionen wirken dann oft so, dass sich die Angehörigen der vermeintlich vom Rückfall Bedrohten zu den Zeiten, in denen ein Angriff erwartet wird, „wesensverändert“ verhalten, d. h. anders als gewohnt. So litt der Ehemann einer als manisch-depressiv diagnostizierten Patientin unter jahreszeitlich bedingten Phasen der Erwartung, seine Frau werde sich manisch verhalten. Generell führt diese Wesensveränderung der Partner und Familienmitglieder dazu, dass die Verhaltenswei- sen der „Rückfallgefährdeten“ in diesen Zeiten anders beurteilt werden. Man reagiert mit großer Fürsorglichkeit und/oder ein- dämmenden Bemühungen. Autonomiebemühungen des identi- fizierten Patienten werden dann beispielsweise als Initialsymp- tome einer weiteren „manischen Phase“ betrachtet, und wenn sich ein „Alkoholkranker“ in einer „trockenen Phase“ auf einer Geburtstagsfeier ein Glas Sekt genehmigt, setzt das auch dann die Angehörigen in Panik, wenn er es an dem Abend bei dem ei- nen Glas belässt (ein Rückfall in den „Kontrollgewinn“?).


Die Rückfallgefahr schwebt über den Familien wie ein unsichtbares Damoklesschwert. Alle Bemühungen, Rückfall voraussagbar zu machen und zu verhindern, scheinen eher zu för- dern, was sie vermeiden sollen.


3. Auf alle (Rück-)Fälle!


Das wiederum fördert die Unsicherheit und Ambivalenz bezüglich der Frage, wie viel Einfluss der oder die Betreffende auf das Geschehen hat. Einerseits leidet er oder sie ja an „Kontrollver- lust“ oder an einer „Krankheit“, deren Auswirkung er/sie nicht zu verantworten hat und der er/sie ausgesetzt ist. Andererseits gibt es auch meist Familienmitglieder, die davon ausgehen, dass er/sie mehr dagegen tun sollte und könnte, wenn er/sie das nur wollte und sich nicht so gehen ließe. Diese Zwiespältigkeit zeigt sich dann auch im Verhalten aller Beteiligten: Man schwankt zwischen Mitleid und Vorwurf, zwischen Besorgnis und ärgerlicher Forderung, zwischen Empörung und schlechtem Gewis- sen. Die Verantwortung kreist und pendelt fortwährend und wird wie eine heiße Kartoffel weitergegeben: Mal ist sie beim Betreffenden, mal bei den Angehörigen, mal wird sie delegiert (z. B. an Ärzte), und mal hat sie keiner. Bei solcher Ungewissheit und solch gegensätzlichen Einschätzungen erlangt symptomatisches Verhalten besonders leicht eine interaktionelle Bedeutung. Gut gedeihen dann Kontroll- und Autonomiekämpfe; sie dehnen sich aus und zeigen sich in einem großen Formenreichtum. Hintergrund ist die Unsicherheit über die „objektive“ Bedeutung des Verhaltens, das „Rückfall“ genannt wird.


Nehmen wir den „Rückfall“ eines nach langen Tests approbierten Alkoholikers: Er trinkt Alkohol und sorgt dafür, dass andere es merken (wenn es niemand merken würde, wäre es kein Rückfall!). Die Bedeutungen, die derjenige, der das Glas zum Mund geführt hat, und seine Angehörigen diesem Verhalten geben, ist im Allgemeinen sehr verschieden.


Je nachdem, welcher Kontext zur Entschlüsselung der Bedeutung des Trinkens konstruiert wird, kann es „Beweis“ für die Gesundheit oder Krankheit des Betreffenden sein. Das hat weitreichende Folgen für seine Identität und die Beziehung zu all den Menschen in seiner Umgebung.


Das Spektrum erstreckt sich von „Hilflos ausgeliefert!“ bis „Ich zeig ’s euch, das macht ihr mit mir nicht!“, von „Wir sind mit unserem Latein am Ende!“ bis „Wir schaffen es doch noch, dich zu einem erwachsenen und verantwortlichen Menschen zu machen!“


Angehöriger:


Du bist süchtig


„Süchtiger“:


Ich bin nicht süchtig



Du darfst nicht trinken


Ich darf trinken



Wenn du trinkst, dann ist es ein Rückfall


Endlich: Er/Sie trinkt (Prosit!)


Wenn ich nicht trinke, dann bin ich süchtig


Trinken „beweist“ Sucht


Trinken „beweist“ Normalität


So schrieb zum Beispiel eine 25-jährige Patientin mit magersüchtigem Verhalten in einem Brief: „Dieser ‚Rückfall‘ war mein Zurückschlagen oder meine Antwort auf Einweisungen und die demütigende Verständnislosigkeit für mein Gewichtsproblem. Auch wenn Sie meinen, Sie oder Ihre Kollegen hätten mich geschafft, beweise ich Ihnen meinen Willen zum Hungern, bis man mir Behandlungen erlässt. Lieber gelte ich als unheilbar magersüchtig ... Es wird Sie enttäuschen, was Sie lesen; sicher hätten Sie erwartet, dass ich mich an mein Mehrgewicht gewöhne und ‚einlenke‘, aber ich habe den ‚Gesunden‘ den Fehdehandschuh hingeworfen. Zu groß war meine Anstrengung, jahrelang mitzuhalten, zu wenig von Anerkennung gekrönt. Es hat mich zu sehr enttäuscht, doch ‚krank‘ zu sein, und fast ganz entmutigt. So halte ich mein Rachebedürfnis wach, da ich es wichtig finde, nicht aufzugeben ‚gegen‘ Familie, Medikamente und Ärzte.“


Verhütungsmaßnahmen


„Ist“ man erst einmal „rückfallgefährdet“, muss man aufpassen, dass „es“ einem nicht wieder passiert. Es gilt dann, besonders günstige Gelegenheiten zu meiden (z. B. kalte Steine, fremde Klos, Theken, Las Vegas und andere krisenträchtige Orte), sich zu mäßigen und damit auch auf viel Interessantes zu verzichten. Zeigt man sich selbst unfähig dazu, versuchen andere, die „Sache“ unter Kontrolle zu bringen.


Rückfall-Prophylaxe


Neben psychoedukativen Maßnahmen wird im Bereich der Psychiatrie als Rückfall-Prophylaxe die Dauerverabreichung von Neuroleptika und Lithium bzw. Carbamacepin verschrieben. Sie sollen abschirmen oder wie eine Art Schutzengel oder Schutzkleidung (Kondom) wirken. Außer oft erheblichen Nebenwirkungen und dem Risiko von Dauerschädigungen hat die Dauereinnahme dieser Medikamente noch einen anderen gravierenden Nachteil:


Mit ihrer Verabreichung ist stillschweigend die Anwendung einer nicht falsifizierbaren Hypothese verbunden: dass sie es sind, die einen Rückfall verhindern.1


Keiner kann feststellen, ob das befürchtete Verhalten ohne Medikamente überhaupt noch einmal aufgetreten wäre, ob es an den Medikamenten lag oder ob diejenigen, die sie einnehmen, etwas Entscheidendes in ihrem Leben geändert haben oder die „Störung“ aus anderen Gründen verschwunden ist. Die Dauermedikation suggeriert die Idee einer Dauerkrankheit.


Und über derartige Hypothesen hat sich Herr Popper ja ausführlich und verächtlich genug geäußert, um uns alle weiteren despektierlichen Äußerungen zu ersparen.


Wird an die schützende Wirkung des Medikaments geglaubt, wird das „eigenmächtige“ Absetzen zu einer gefährlichen Sache. Folgerichtig wird dann das befürchtete Verhalten nach dem Absetzen häufiger wieder gezeigt. Dies dient wiederum als Beweis für die Existenz einer Krankheit und spricht wieder für die Notwendigkeit der Dauermedikation. Der Kreis schließt sich (setze in dem Schema oben statt „Du darfst nicht trinken!“ einfach „Du musst Medikamente nehmen!“ usw.):


Angehöriger:


Du bist Psychotiker


„Psychotiker“:


Ich bin nicht krank


Du musst Medikamente nehmen


Ich brauche keine Medikamente


Absetzen der Medikamente ist (fast) Rückfall


Endlich: Er/Sie setzt Medikamente ab


Wenn ich kein Medikament nehme, bin ich gesund


Dies „beweist“ Krankheit


Dies „beweist“ Normalität


Ist man erst einmal als „rückfallgefährdet“ diagnostiziert, so gerät man in eine paradoxe Situation: „Normales“ Verhalten (keine Medikamente nehmen, bei Partys ein Glas Sekt trinken, sich für gesund halten) wird als Zeichen von „Krankheit“ (= „mangelnde Krankheitseinsicht“) definiert, und „unnormales“ Ver- halten wird zum Symptom der Gesundheit (nichts trinken, wenn alle anderen trinken; dauernd Medikamente schlucken, sich für krank halten ...). Ein solcher Mensch erfährt einen entscheidenden Wandel seiner Identität, der sein ganzes soziales Leben verändert: Er bedarf äußerer Kontrolle, da er selbst offenbar nicht auf sich aufpassen kann.


 Im Suchtbereich gibt es Medikamente, die denen, die als rückfallgefährdet gelten, die Lust vergällen sollen, „es“ wieder zu tun. Neuerdings gibt es sogar in einigen Bundesländern Rückfallberater, die nach Entwöhnungskuren in Kliniken die Gefährdeten begleiten und ihnen helfen, das Schiff immer wieder an den Untiefen vorbei und zwischen Skylla und Charybdis durchzulotsen. Während im psychiatrischen Bereich jemand als rückfallgefährdet gilt, wenn er etwas (den verschluckten Rück- fallverhüter) weglässt oder nicht mehr regelmäßig einnimmt, ist es im Suchtbereich umgekehrt. Hier läuten die Alarmsirenen, wenn jemand wieder etwas (ganz gleich, in welcher Dosierung) einnimmt und nicht mehr weglässt.


Zwischenbilanz


Wir fassen zusammen: Mit Rückfall sind folgende Grundannahmen oft eng verknüpft:


1. Bei Rückfällen handelt es sich um Ausbrüche einer zugrunde liegenden, langwierigen Krankheit oder Störung.


2. Mit einem Wiederauftreten ganz ähnlicher oder derselben Verhaltensweisen ist zu rechnen.


3. Die Betroffenen haben keinen oder keinen ausreichenden Einfluss auf das Geschehen. Sie werden als passive Opfer einer stärkeren Macht gesehen.


4. Rückfälle werden als ungünstige und negative Zeichen gewertet.


In der systemischen Therapie versuchen wir vor allen Dingen, diese Vorstellungen und die mit ihnen verbundenen Verhaltensweisen und Beziehungsmuster zu stören.


Systemische Vorfall-Prophylaxe


Wir versuchen also vor allem, die Bedeutungsgebungen, die mit der Benennung eines Verhaltens als „Rückfall“ oft verbunden werden, in Frage zu stellen und neue Unterscheidungen und alternative Beschreibungen anzuregen. Wir nennen hier nur einige von vielen möglichen Vorgehensweisen:


1. Wir machen uns sehr konkret ortskundig, welche Verhaltensweisen die Anwesenden als Rückfall bezeichnen und wo sie die Grenzen zwischen Rückfall und Nicht-Rückfall ziehen. Außerdem erkundigen wir uns nach ihren Erklärungsmo- dellen und Vorstellungen über den zukünftigen Verlauf (Wiederauftretenswahrscheinlichkeit, Prognose, Heilungschancen usw.).


2. Wird das beklagte Verhalten in einem engen Zusammenhang oder als Ausdruck einer zugrunde liegenden Krankheit gesehen, versuchen wir, den Einfluss der „Krankheit“ zu vermin- dern und den Einfluss der momentanen Situation und der mitbeteiligten Personen auf das Geschehen in den Vordergrund zu rücken.


a) Es handelt sich bei dem Verhalten nicht um einen Rückfall, sondern um einen Vorfall oder Verhaltensweisen, die mit bestimmten (zu spezifizierenden) kontextuellen Bedingungen verknüpft sind.


b) Wir implizieren – und das ist immer einer der zentralen Punkte –, dass alle Beteiligten, besonders der- oder die- jenige selbst, Einfluss darauf haben oder gewinnen können, ob das Verhalten in ähnlicher Weise noch einmal gezeigt (gewählt) wird. Wir konstruieren gemeinsam charakteristi- sche Interaktionsmuster, die mit solchen Vorfällen verknüpft sein können, und verschreiben sie gelegentlich als So-tun-als-ob-Aufgaben.


c) Wir vermeiden die Dichotomie entweder „krank“ oder „gesund“ – entweder „organisch“ oder „psychisch“ bedingt – und legen eher nahe, dass es so sein könnte, dass die „Einladungen“ zu solchem Verhalten sowohl von innen als auch von außen kommen können und dass man ganz unterschiedlich mit ihnen umgehen kann. (Aber wer verteilt gerne „Körbe“, wenn er endlich mal irgendwohin oder zu irgendetwas eingeladen wird?)


d) Besonders wenn für die Rückfälle bestimmte Jahreszeiten bevorzugt werden, nehmen wir diese Vorfälle vorweg und vermitteln, auf welche Weise sie genau vorgeplant werden können.


3. Wir erfragen, wie lange solche Vorfälle nicht mehr vorkommen dürfen, bis alle sicher sind, dass die Krankheit wirklich überwunden ist.


4. Wir erfragen und kokonstruieren möglichst viele Unähnlichkeiten zwischen derartigen Vorfällen. In unseren Fragen implizieren wir, dass unserer Erfahrung nach Menschen solche Verhaltensweisen auch ausfallen lassen können. Sollte Ähnliches noch einmal auftreten, so würden unserer Erfahrung nach solche Vorfälle wesentliche Unterschiede und Entwicklungen zeigen (z. B. bezüglich Einweisungsmodus, der Dauer der sta- tionären Aufenthalte und der Menge der verschriebenen Medikamente). Eventuell geben wir die Aufgabe zu beobachten, was im Falle eines („Rück“-)Falles alle Beteiligten das nächste Mal anders machen.


5. Vor allem wenn die als „Rückfall“ bezeichneten Verhaltensweisen nach langen Zeitintervallen wieder auftreten, setzen wir stillschweigend voraus, dass es sich um völlig unterschiedliche und neue Ereignisse handelt, die nicht miteinander in Beziehung stehen.


6. Wir suchen und (er-)finden positive Aspekte solcher Vorfälle, zum Beispiel im Sinne der Nähe-Distanz-Regulierung, der Balancierung von Autonomie- und Abhängigkeitswünschen, als Schutz vor verwirrenden und überfordernden Situationen, als Ausweg aus einer symmetrischen Eskalation.


7. Besonders im Suchtbereich, in dem es in Institutionen oft rigide Regeln gibt, was zu geschehen hat, wenn jemand rückfällig wird, wählen wir die Unterscheidung zwischen „therapeutischen“ Vorfällen und „nicht-therapeutischen“ Rückfällen. Dies eröffnet dem Suchtberater einen weiteren Handlungsbereich und verhindert, dass sein Verhalten allzu berechenbar wird.


Im Ganzen gesehen ist für uns der Umgang mit der Idee des „Rückfalls“ nur ein Aspekt der Infragestellung des medizinischen Krankheitsmodells und seiner Implikationen für die Regelung der zwischenmenschlichen Interaktion. Es geht dabei ganz generell um die Aufweichung der erhärteten und verdinglichten Vorstellungen von „Krankheit“.