Entscheiden in turbulenten Zeiten

Drei Hypothesen zur Stärkung von Entscheidungskompetenzen in Führungsteams


Mit Blick auf die letzten Jahre merken wir, dass "Krisen" ein Teil unserer Normalität geworden sind. Ob Finanzkrise, Covid-19-Krisen, Energie- und Klimakrise, nähere und fernere Kriegsgefahren – all diese unwägbaren Rahmenbedingungen machen den Unternehmen zu schaffen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. In jedem Fall geht es darum, die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens trotz turbulenter Umfeldbedingungen zu sichern.


Wir sind in der "VUCA-World" angekommen. Neben den volatilen Umfeldbedingungen ist die Komplexität der Themen gestiegen. Die Voraussetzungen für Entscheidungen haben sich dadurch massiv verändert:


· Lange gültige Selbstverständlichkeiten sind brüchig geworden oder gar weggefallen, "neue" Unsicherheiten sind entstanden (z.B. Verfügbarkeit von Rohstoffen, Routinen in der Arbeitswelt, Verfügbarkeit von Fachkräften, vielschichtige Regulatorien ...). Entscheiden bedingt ein noch stärkeres Hinterfragen und Klären: "Von welchen Annahmen können wir noch ausgehen, was gilt es kritisch zu prüfen?"
· Wir leben in einer global vernetzten Welt. Die sprunghaft gestiegene Komplexität von Geschäftsprozessen erfordert multi-perspektivisches Vorgehen und das Einbeziehen unterschiedlicher Rationalitäten bei Entscheidungen.


In turbulenten Zeiten rückt Entscheiden als ureigenste und zentrale Aufgabe von Organisation stark in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Vordenker der osb-i, Rudi Wimmer und Reinhart Nagel, bringen es auf den Punkt: "Organisationen sind dazu da, im Prozess des Entscheidens Ungewissheit in Gewissheit zu verwandeln, um auf der Basis dieser selbstgeschaffenen Orientierung die eigene Handlungsfähigkeit immer wieder zu erneuern." (in: Reinhart Nagel, Rudolf Wimmer (2014): Systemische Strategieentwicklung. Modelle und Instrumente für Berater und Entscheider)


Unserer Erfahrung nach ist es hilfreich, wenn Führungsteams nachfolgende Hypothesen immer wieder auf sich selbst anwenden. So kann Führung ihr Gestaltungspotenzial nutzen, um auch in turbulenten Zeiten die Zukunftsfähigkeit der Organisation zu sichern.


Hypothese 1: Ein gemeinsames Verständnis von "Entscheiden" ist die Voraussetzung für Navigieren in Unsicherheit


Organisationen haben unterschiedliche Formen des Umgangs mit Ungewissheit in Entscheidungssituationen entwickelt. Häufig werden Entscheidungen als primär rationale Antworten auf Fragestellungen gesehen, die mit wissenschaftlich legitimierter Objektivität auf Basis gesicherter Daten formuliert werden könnten. Verkürzt lautet dieses Mindset: "Wir brauchen den richtigen Algorithmus, dann sind wir auf der sicheren Seite." Aus einem anderen Blickwinkel kann man auch zur Überzeugung gelangen: "Wir brauchen die richtige Person." D.h. eine charismatische Persönlichkeit mit untrüglicher Urteilskraft und Entscheidungsstärke sei die Lösung.


Beide Formen greifen zu kurz und stellen eine problematische Absorption von Ungewissheit dar. Wir plädieren für ein Verständnis und ein Vorgehen, das im Entscheiden einen Prozess von "kollektivem Sensemaking" sieht. Wir verstehen Entscheidungen nicht als rationale Berechnungen oder individuelle Willensakte, sondern als durch Kommunikation erzeugte, gemeinschaftliche, risikobehaftete Festlegungen. Entscheiden bedeutet Gestalten und Erschaffen von Wirklichkeit. Entscheidungen sind notwendig, um mit Unsicherheit umzugehen oder wie Niklas Luhmann sagt: "Entscheidungen sind die einzigen Zukunftsentwürfe, die uns heute bleiben."


Hypothese 2: In turbulenten Zeiten werden die Zentrifugalkräfte und polarisierende Tendenzen – leider – stärker. Umso mehr sind Führungsteams gefordert, für Einigkeit und Orientierung zu sorgen


In schwierigen Geschäftsphasen steigt der Druck auf Einzelpersonen und Teams. Man schottet sich ab, um die eigenen Ziele und Aufgaben bewältigen zu können. Widersprüchliche - teilweise polarisierende - Meinungen werden aufgebracht und Spaltungstendenzen spürbar. Eine Führungskraft in einem Leadership Programm beschrieb das so: "Wir haben so viele Projekte parallel. Und jedes Projekt hat Priorität 1. Wir schaffen es nicht mehr, uns auszutauschen und wirklich über den Tellerrand zu schauen. Unsere Teams igeln sich ein, um mit ihren Aufgaben zurande zu kommen. Im Leadershipteam schaffen wir es nicht, die Projekte zu priorisieren. Jeder konzentriert sich auf seinen Verantwortungsbereich, das gemeinsame Ganze geht verloren und wäre gerade jetzt so wichtig. Unseren Mitarbeitenden fehlt die Orientierung. Wir laufen Gefahr uns zu verzetteln und gleichzeitig auszubrennen."


Um diesen Tendenzen entgegenwirken zu können, sind Führungsteams gefordert, als echte Teams zu agieren. Das beinhaltet, Interessenskonflikte aus den unterschiedlichen Rollen gut zu besprechen und zu verhandeln. Es bedeutet, unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können und sie als Basis für verbindliche Entscheidungen zu nutzen, anstatt sie abzuwerten oder zu negieren. Haben die Aushandlungen zu guten Ergebnissen geführt, besteht eine weitere gemeinsame Aufgabe darin, die Kommunikation zu akkordieren und die Mitarbeiter*innen mittels konsistenter Aussagen und Hintergrundinformationen ins Boot zu holen und zu beteiligen.


Hypothese 3: Je unsicherer die Zeiten, desto mehr Prozess-Sicherheit braucht es


Ein klares Vorgehen bei Entscheidungsprozessen bringt Ruhe in das Geschehen und stiftet Sicherheit. Wenn alle wissen, WIE wir entscheiden, werden wir schneller und unsere Entscheidungen werden tatsächlich tragfähig und umgesetzt. Bei der Auswahl der Entscheidungsmethode für die jeweilige Situation erachten wir es als hilfreich, drei Gestaltungsebenen zu berücksichtigen.


Sachliche Dimension:


· Mit welchen relevanten Businessthemen müssen wir uns beschäftigen?
· Welche inhaltlichen Aspekte sind bei diesem Problem zentral?
· Welche technischen, rechtlichen, finanziellen, … Rahmenbedingungen müssen wir berücksichtigen?
· Welche gesicherten Daten können/müssen wir bei unserer Entscheidung berücksichtigen?


Soziale Dimension:


· Wer muss bei diesem Thema in welcher Rolle (Expert*innen, Verantwortliche, Betroffene, …) einbezogen werden?
· Welcher Grad an Partizipation ist bei der Entscheidungsfindung sinnvoll und notwendig?
· Welcher Grad der Zustimmung ist für eine erfolgreiche Umsetzung erforderlich?
· Welche Konfliktmuster wiederholen sich bei dieser Form der Entscheidungsfindung?


Zeitliche Dimension:


· Welche Themen müssen wir bis zu welchem Zeitpunkt entscheiden?
· Bei welchen Themen besteht hohe Dringlichkeit?
· Wann wollen wir diese Entscheidung evaluieren bzw. neu hinterfragen?
· Wie werden Entscheidungen in unserer Organisation be- oder entschleunigt?


Die Festlegung von geeigneten Entscheidungsmethoden und eine situationsadäquate Prozessgestaltung setzen ein Verständnis für die Grunddilemmata von Entscheidungen ebenso voraus wie die Kenntnisse unterschiedlicher Methoden und Vorgehensweisen. Viele Führungskräfte und Führungsteams entwickeln daher ihre Entscheidungskompetenzen gezielt weiter.


Herta Fischer
Herta Fischer

· Seniorberaterin der osb international
· Systemische Organisationsberaterin mit den Schwerpunkten Leadership Development, High-Performance Teams und Change Management
· Executive Coach
Mehr unter https://www.osb-i.com/de/ueber-uns/osb-international/beraterinnen/herta-fischer/




 


Alexander Schmidt
Dr. Alexander Schmidt

· Seniorberater der osb international
· Strategieentwicklung in Netzwerken und Organisationen, Projektorientierung in Organisationen, Beratung von Familienunternehmen, Konzeption von Expertenprogrammen, Leadership Development
· Dozent an der Zeppelin Universität (D), der Leibniz Universität Hannover (D) und der Donau Uni Krems (A) zu den Themen Unternehmens-Netzwerke, Familienunternehmen, Führung, Changemanagement und Lernen in Großgruppen.
Mehr unter https://www.osb-i.com/de/ueber-uns/osb-international/beraterinnen/dr-alexander-schmidt/