Entscheidungsprozesse in/mit Gruppen

Unterschiedliche Sichtweisen sind in Entscheidungsprozessen für die Qualität des Ergebnisses, dessen Belastbarkeit und seine Anschlussfähigkeit höchst relevant. Leider ist die Beteiligung einer Gruppe dabei kein Selbstläufer. Insofern ist es lohnenswert, sich nicht nur Gedanken über das WAS bei Entscheidungen zu machen, sondern auch über das WIE des Prozessdesigns.


Wer vor einer Entscheidung steht, kann diese gut und gerne alleine treffen, ohne andere Menschen am Prozess teilhaben zu lassen. Dieser Modus funktioniert ziemlich gut, weil er die Komplexität enorm reduziert. Allerdings ist der Weg durchaus risikobehaftet. Wichtige Informationen können bei eingeschränkter oder einseitiger Sichtweise fehlen. Alternative Optionen werden leicht übergangen, falsche Annahmen nicht korrigiert. Die Angst vor möglichen Folgen führt außerdem dazu, dass manchmal gar nicht entschieden wird, obwohl es dringend nötig wäre.


Diese Schwierigkeiten kann man mit Standards umgehen. Das Entscheiden wird einem algorhythmisierten Prozess überlassen. Kein Entscheidungsstau. Keine Diskussion. Schnell und bequem. Es wird entschieden – in Echtzeit, transparent, unbestechlich, zuverlässig, ohne Befindlichkeiten und konsequent. Die Basis dafür bilden vorher klar definierte Kriterien und Schrittfolgen. Doch genau hier liegt das Problem: Mögliche Programmierfehler, mangelhafte Informationen oder ein unvollständiges Prozessdesign können fatale Folgen haben. Schließlich kann nur das, was im Ablauf vorher festgelegt und in Form von Daten – mit entsprechender Priorität – eingespeist worden ist, auch im Entscheidungsvorgang berücksichtigt werden. Fehlt etwas oder ist eine Verknüpfung fehlerhaft, gerät der gesamte Prozess und damit das Ergebnis in Schieflage. Kontextveränderungen bleiben unberücksichtigt.


Möglichkeitsräume erkunden


Ein dritter Weg besteht darin, den Entscheidungsraum gemeinsam mit anderen zu erkunden. Unterschiedliche Sichtweisen, Erfahrungen und Einschätzungen können so miteinander vernetzt werden, dass die Wahrscheinlichkeit für tragfähige Entscheidungen steigt. Ein differenziertes Bild von Optionen, Risiken und guten Gründen entsteht. Austausch regt zum Überdenken an. Aus einem Grundrauschen kristallisieren sich jene Aspekte heraus, die von Bedeutung sind.


Freilich macht eine Gruppe noch lange kein Team aus. Zu viele Köche mit unterschiedlichen Geschmäckern können den Entscheidungsbrei auch ordentlich verwürzen. Wenn jeder nur beharrlich seine eigene Meinung vertritt, entsteht daraus kein gemeinsames Ergebnis. Dafür helfen Strukturimpulse und Leitplanken, ein zielorientiertes Vorgehen zu unterstützen. Moderation kann einer Gruppe bei den Erkundungen der Möglichkeitsräume helfen, sie vor Entscheidungsfallen warnen und dabei unterstützen, den Kurs zu halten. Freilich darf die Reisebegleitung den Entscheidungsträgern ihre eigentliche Aufgabe nicht abnehmen. Hier ist Vorsicht geboten, damit die Rollen sich nicht vermischen.


Unterschiedliche Perspektiven nutzen


Statt nur vergangenheitsorientiert der Frage nachzugehen, wie es zu einer bestimmten Situation gekommen ist, gilt es in Entscheidungsprozessen, das Augenmerk konsequent darauf zu richten, welche zukünftigen Handlungsoptionen es im jeweiligen Fall gibt. Beim gemeinsamen Durchspielen der Szenarien werden Risiken, Nebenwirkungen und Folgen sichtbar. Unterschiedliche Standpunkte können eingenommen werden. Vorhandene Widerstände und Bedenken werden so für alle (noch vor der Entscheidung) sichtbar. Durch initiierte Perspektivwechsel können auch betroffene Gruppen in solche Reflexionsschleifen systematisch eingebunden werden, ohne dass sie physisch anwesend sind. Auf Basis transparenter und gemeinsam erarbeiteter Kriterien kann dann (bewusst) argumentiert und schließlich entschieden werden.


Dafür muss der Modus klar sein. Wichtige Informationen und Sichtweisen in einen Entscheidungsprozess mit einzubringen, heißt nicht automatisch, bei allem mitentscheiden zu dürfen oder zu müssen. Relevant bleibt die Mitarbeit trotzdem! Wichtig ist, mit allen Beteiligten unbedingt zu klären, wofür und inwieweit die Gruppe, an welcher Stelle im Prozess, eingebunden wird.


Nach der Entscheidung ist vor der Entscheidung


Unsicherheit gehört zum Entscheidungsgeschäft. Ein professioneller Prozess unterstützt dabei, fällige Entscheidungen selbstbewusst, nach bestem Wissen und mit guten Gründen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Wer sich die Folgen einer Nicht-Entscheidung ausmalt, stellt mitunter fest, dass dies bereits das eigentliche Worst-Case-Szenario darstellt. Gerade in komplexen Situationen empfiehlt es sich, in kleinen Schritten voranzugehen. So kann ausgetestet werden, wohin eingeschlagene Wege führen, wie sich bestimmte Optionen anfühlen, welche Resonanz entsteht und wo sich neue Anschlussmöglichkeiten ergeben, wenn sich das Spiel durch eine getroffene Entscheidung verändert.


Mit der Entscheidung ist der Prozess allerdings noch nicht an sein Ende gekommen. Wie wird das Ergebnis – und durch wen – im Anschluss kommuniziert? Wie geht es ab jetzt konkret weiter? Wer übernimmt welche Rolle bei der Umsetzung? In welcher Form und wozu ist Feedback von außen erwünscht? Gibt es einen Zeitpunkt, an dem die Entscheidung noch einmal gemeinsam überprüft wird? Wer diese Fragen zusammen mit anderen frühzeitig klärt, vermeidet, Wesentliches zu übersehen.


Entscheidungsfallen umgehen


Entscheidungssituationen sind immer herausforderungsvoll. Wenn man darüber hinaus noch andere Menschen in einen unterstützenden Kommunikationsprozess mit einbindet, können Elemente wie Macht, Hierarchie, Neigungen und Politik die eigentlichen Sachfragen leicht überdecken. Dann steht nicht mehr im Vordergrund, was ausgesagt wird, sondern wer gerade spricht. Auf diese Weise entstehen schnell unproduktive Kommunikationsmuster. Das Vorankommen wird zäh.


Ein weiterer problematischer Effekt von Gruppendiskussionen ist, dass häufig nur über das gesprochen wird, was gerade präsent sind. Nichtanwesende Perspektiven (wie etwa Kunden), aber auch relevante Daten und Informationen (die möglicherweise schwer messbar sind) geraten leicht aus dem Blick, obwohl sie für die zu treffende Entscheidung enormes Gewicht hätten. Solche Fehlleistungen können vermindert werden, wenn das Wie des Entscheidungsprozesses nicht dem Zufall überlassen, sondern bewusst gestaltet und begleitet wird. Aus der Entscheidung wird ein Prozess mit unterschiedlichen Abschnitten. Konsequente Visualisierung kann dabei auf besondere Weise unterstützen. Strukturiert und differenziert wird so Relevantes gemeinsam schrittweise in den Fokus genommen. Ergebnisse bauen aufeinander auf. Der Weg wird sichtbar und nachvollziehbar. Einzelne Punkte können inhaltlich vertieft oder in Beziehung zueinander gesetzt werden. Das Bild verdichtet sich. Unterschiedliche Alternativen werden auf dem Papier für alle vergleichbar. Entscheiden hat so die Chance, zu einem partizipativen Erkundungsprozess in und mit Gruppen zu werden, statt zu einem heroischen Augenblick zu verkümmern.


Zum Weiterlesen: Das Buch Moderationskompetenzen enthält in der zweiten, erweiterten Auflage, praxiserprobte Hinweise, wie Sie den Kommunikationsprozess in Gruppen zielführend begleiten und gestalten können. Zusätzliche Strukturimpulse finden sich hier.


 


Stefan Groß
Dr. Stefan Groß

moderiert, begleitet und berät Individuen, Gruppen und Organisationen in Entscheidungs-, Lern- und Innovationsprozessen. Die aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Moderation, Besprechungskultur, Veränderungsprozesse gestalten, Visualisierung und kollegiales Lernen. Mehr unter www.stefangross.org




Abbildungen ©Stefan Groß / Leszek Skurski