Ausgelassenes

 


Das Ausgelassene 


Letztens bot mir die NZZ-online in einer popup-Werbung mit diesen Bildern weibliche Frauenbekleidung an. Gleichzeitig hingen im öffentlichen Raum SVP-Plakate mit Damen in Vollverhüllung: die Schweizerische Volkspartei wirbt damit für die Annahme ihrer Initiative für ein Verhüllungsverbot (Gesichtsmasken sind nicht gemeint). Dabei gibt es in der Schweiz kaum Nikab-Trägerinnen. Aber viele Volksabstimmungen, an denen – es wird ja grad das Jubiläum gefeiert – seit 50 Jahren auch die Frauen teilnehmen dürfen.
Vor 50 Jahren habe ich noch gar nicht gecheckt, dass das eine Ungerechtigkeit sein könnte. Ich bin in einer ziemlich nicht-patriarchalen Familie aufgewachsen; meine Eltern haben, soviel ich mich erinnere, politisch mehr oder weniger gleich getickt, d.h. sie folgten den Wahl- und Abstimmungsempfehlungen der katholisch-konservativen Volkspartei. Oft gingen sie gemeinsam zum Stimmlokal. In der Schweiz heisst das ja Stimmlokal, weil die Menschen auch über Sachfragen abstimmen, während in den meisten Demokratien die Menschen in Wahllokalen lediglich wählen, von wem sie regiert werden wollen.


Und gewählt werden primär Männer. In den USA dürfen als erstem Land der Welt seit 1788 Frauen gewählt werden (passives Wahlrecht). Zur Präsidentin hat es keine geschafft – auch nachdem seit 1920 die Frauen mitwählen durften – bis heute nicht. Das ist halt in unserer Welt so; Männer sind zum Herrschen da (heisst ja auch Herr-schen), und Frauen wollen beherrscht werden. Frauen müssen beherrscht werden; so steht es in der Bibel. Seit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies ist die Frau von Gott dazu verdammt worden, dem Manne untertan zu sein. Und weil es die Menschheit erst seit damals gibt, ist das die natürliche Ordnung.
Nun leben wir ja in einer aufgeklärten Welt, die eine solche vermeintlich göttliche Ordnung nicht mehr einfach hinnimmt. Aber warum werden denn trotzdem in 90% der Staaten die Menschen von männlichen Oberhäuptern regiert? Selbst in einem Land wie Deutschland, das aktuell von Frauen geführt wird und wo der Frauenanteil an der Bevölkerung, sowie der Frauenanteil an Hochschulabschlüssen 50% übersteigt nur 31% Führungspositionen innehaben? Im mittleren Management sind es nur noch 15%, in den Aufsichtsräten 10% und auf Vorstandsebene noch 3% (1)


Es ist die Patrix. So nennen Scheik und Michel (2) die patriarchale Matrix, die die Welt trotz Aufklärung in ihrer ideologischen Umklammerung hält. Die beiden Anthropologen zeigen in ihrem neuen Buch «Die Wahrheit über Eva», dass die natürliche Ordnung eine andere wäre. Die heutige, patriarchal dekontaminierte Archäologie weiss Dank der Genetik, dass wir Sapiens während 300'000 Jahren, ausschliesslich in egalitären Sammlergesellschaften lebten. Das endete in Mesopotamien vor 14'000 Jahren mit dem Übergang zu den Agrargesellschaften. Ab dann wurden Frauen zu Geburtsmaschinen und zur handelbaren Ware. Es ist der Beginn einer Geschichte, in der sich Männer sehr viel in oder mit Kriegen aufhalten. Das ist einigermassen dokumentiert. Für Frauen beginnt hier eine Zeit von Vergewaltigungen. Das ist nicht dokumentiert. Das ist eine grosse Auslassung unserer Geschichtsschreibung.
Ausgehend vom sogenannten fruchtbaren Halbmond, der auch die Heimat der Eva-Legende ist, verbreitete sich das neue Gesellschaftsmodell nach und nach über den ganzen Planeten und wurde zum Normalzustand. Bis sich die Frauen, nach 13'000 Jahre des Erduldens gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Europa zu wehren begannen. Riane Eisler hat mit ihrem 1987 erschienenen Buch ‘Kelch und Schwert’ auf einige Verzerrungen aufmerksam gemacht. (3) Sie nennt jene vor 6'000 Jahren in Europa eingefallenen Berittenen aus den vorderasiatischen Steppen, die von der patriarchalen Geschichtsschreibung gerne als «Kulturbringer» dargestellt werden, beim anderen vermutlich auch treffenderen Namen: mordenden, plündernden, brandschatzenden und vergewaltigenden Reiterbanden. Ihre Nachkommen waren es dann, die dieses «Kulturerbe» über die katholische Kirche zur allumfassenden Ideologie machten und schlussendlich als Kolonisatoren in der Welt verbreitet haben.
Wer sich in diese Geschichte vertiefen möchte, dem sei Klaus Theweleit mit seinen Büchern «Pocahontas I» und «Pocahontas II» (4) ans Herz gelegt, oder eben die schon erwähnte «Wahrheit über Eva» alle drei jeweils gute 600 Seiten neue Geschichtsschreibung mit Fokus auf das Ausgelassene bzw. Umgeschriebene.


Die Alltagspraxis der Psychotherapie zeigt uns immer wieder eindrücklich, wie nachhaltig sich traumatische Erfahrungen – im wesentlichen Kriegs- und Missbrauchsgeschichten - in der Nachkommenschaft niederschlagen. So können wir uns Anbetracht einer 14'000 jährigen Menschheitsgeschichte voller Kriege und Vergewaltigungen vorstellen, was alles als Verdrängtes in unserer Kultur eingebettet ist. Akzeptierte Gewalt gegen Frauen ist so auch heute noch gegenwärtig. Die traurigen Statistiken sind überall einsehbar, die Dunkelziffern ist wohl bedeutend höher. MeToo ist erst der Anfang.


Die Plakate zum Verschleierungsverbot werden nun langsam verschwinden. Es wurde übrigens angenommen. Die Angebote aufreizend gekleideter Frauen und Mädchen werden wohl noch eine Zeit lang gefragt und ungefragt auf Plakaten und Werbungen zu sehen sein.


 


Literatur:


1: PDF des Deutschen Bundesministeriums: Frauen in Führungspositionen


2: Carl v. Scheik u. Kai Michel (2020): Die Wahrheit über Eva, Rowohlt


3: Riane Eisler (2005): Kelch und Schwert, Arbor-Verlag


4: Klaus Theweleit (2020), Pocahontas Band 1 und 2, Matthes&Seitz
*man kann auch nur Pocahontas II lesen, Klaus Theweleit bietet auf den ersten 70 Seiten eine gute Zusammenfassung von Pocahontas I.


 


Hans-Peter Hufenus
Hans-Peter Hufenus

Jahrgang 49, hat sich schon früh im Leben dafür entschieden, dem Ruf der Natur zu folgen und so wurde die Begleitung von Menschen – erst im erlebnispädagogischen Bereich, wo er zu den frühen Pionieren gehört, dann im Feld von Natur und Heilung – zu einer bis heute andauernden Lebensaufgabe. Als Senior Lecturer, Vortragender, Mentor und Lehrer wirkt er in Theorie- und Praxisbildung in natur-dialogischen Zugängen wie Systemischer Naturtherapie und Tiefenmythologie. Zusammen mit seiner Partnerin Astrid Habiba Kreszmeier wirkt er in „nature&healing“.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.