Merkwürdig

 


Leben und Tod
Vor kurzem ist mein Vater gestorben, er wäre fast 94 Jahre alt geworden. Eine Kaskade von Covid und kurzer Erholung, gefolgt von einem Sturz und weiteren Stürzen, Schlaganfall mit Schlucklähmung, Ödemen und einer Lungenentzündung hat sein Leben beendet. Der Körper hat sich zwar gewehrt bis zum Schluss. Aber überraschend schnell für ihn selber und uns rund um ihn herum ist sein System und sein Lebenswille zusammengebrochen, eins gab das andere. Er wollte nicht mehr weiterleben, mit Magensonde, auf dem Lehnstuhl sitzend, bis es Abend würde. Die Schläuche wurden auf seinen Wunsch abgehängt.
Aktiv Abschied nehmen, noch Offenes bereinigen, alles und alle zurücklassen, Gutes wünschen, ein letzter Blick nach draussen zur aufgehenden Sonne über dem Bodensee, Entschiedenheit es sei genug, das letzte grosse Staunen mit weit offenen Augen, der letzte Atemzug. Dann ist da nur noch der Körper, das Leben ist weg, die Haut bleich und wächsern, nur die Hand noch warm. Merkwürdig, wie er nun tot da liegt, als Körper, ein Ding ohne Leben, wächsern, gewaschen und aufgebahrt, später eingesargt und verbrannt. Wie wir die wenige Asche ohne die zwischenzeitlich eingebauten Metalle in einer kleinen Urne hintragen und begleiten zum Grab.


In den nächsten Stunden, Tagen und Wochen das Trauern und Verstehen, dass da nun jemand nicht mehr sein soll, mit dem ich gerade noch so nah und lebendig verbunden war, im Schmerz, in Gesprächen, Bildern, im letzten Humor, in Bewegungen, in Gedanken und Gefühlen. Das Spüren wie "er" dafür nun überall ist, Spuren zurück gelassen hat in meinem Kopf, im Körper, in den Gefühlen, in den Räumen, draussen auf seinen zuletzt gegangenen Wegen, in Erinnerungen an früher, in aufbewahrten Schriftstücken.


Merkwürdig, wie gestorbene Menschen präsent bleiben auf dieser Welt, obwohl sie zum Ding geworden sind, zur Leiche. Wie sie uns ohne ihren Leib in unserem Leben weiter begleiten, mit ihren Fragen, ihren Taten, ihrem Spirit, ihren Sorgen. Wie wir uns erinnern können, wie wir sie in Bildern und Erzählungen lebendig machen können, wie sie uns stärken, und wie sie meist doch hinter einer Grenze in einer anderen Welt bleiben, uns physisch nicht mehr bedrohen, nichts mehr von uns wollen. Ausser vielleicht in Albträumen, wenn sie ungerufen da sind oder sogar seelisch und körperlich weiterhin wahrnehmbar sind, in unserem Körper ihre Spuren hinterlassen haben. Am schönsten ist es, wenn wir sie rufen, fragen und ihnen Raum geben dürfen.
Merkwürdig auch, wie rasch und unerbittlich ein System wie ein Mensch mit seinem Lebenswillen und Körper zusammenbricht. Wir kennen das aus dem Vietnamkrieg oder vom Mauerfall, wir befürchten es beim Klima und bei unserer westlichen Gesellschaftsform. Der Sturm des Kapitols hat viele an den Reichstagsbrand erinnert, an Progrome. Bücher zum Untergang des römischen Reichs haben Hochkonjunktur. Wir spüren, etwas geht zu Ende, nur wissen wir nicht wie und wann. Und wir wissen nicht, was dann folgt.


Mein Vater hat sich für die Predigt einen Satz aus der Offenbarung gewünscht: "Siehe, ich mache alles neu."
Wir können uns gerade noch vorstellen, dass es jedes Jahr nach langen Wintertagen wieder Frühling wird, dass auch eine lange Nacht einen Morgen hat. Das sind zyklische Vorgänge, verlässlich, ewig. Aber dass alles auf dieser Welt neu, anders und möglichst auch besser und schöner wird? Lernen wir vielleicht mit Corona uns eine schönere Welt nachher vorzustellen? Oder meinen wir, es sei dann wieder gleich wie vorher? Ausnahmezustand beendet? Zumindest sind wir dann ein langes unvergessliches Jahr älter geworden. Unserem Tod näher. Und neues Leben wird geboren. Ich werde im Sommer Grossvater.


 


Jürg Brühlmann
Jürg Brühlmann

arbeitet als Berater von Organisationen insbesondere zum Thema Arbeitsgesundheit sowie zu Ausbildungsmethoden während der Arbeit mit Menschen in personenbezogenen Berufen. Naturbelassene Landschaften und Orte ermöglichen ihm mehr sinnliche Verbundenheit mit dem Leben und verschiedenen Zeiten in Momenten, Tagen, Jahren, Jahrhunderten...).




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.