Ein erster Faden

Heute am 4. Dezember geht es los,
dieses Experiment eines Blogs, der die Entstehung eines Buches begleitet. Ich bin allen Schreiberinnen und Schreibern, allen Leserinnen und Lesern dankbar, dass sie mit mir aus verschiedenen Richtungen an etwas herangehen, von dem wir alle nicht wissen können, was daraus wird. Ein kleines Wagnis also.
Der erste Faden, den ich als Gastgeberin in den Raum werfe, ist einer des Dankes. Das ist etwas altmodisch, hat sich aber bewährt. Ich werde hier in gebotener Kürze einer Frau und einer Heiligen respektvoll gedenken. Ihre Fäden und Geschichten habe mich auf ganz unterschiedliche Weise dazu ermuntert, das zu tun, was ich tue: nämlich dem erdverbundenen Denkhandeln Aufmerksamkeit zu schenken und es zu thematisieren.


«Wir fangen etwas an.
Wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen.
Was daraus wird, wissen wir nie.»

sagt Hannah Arendt mit ihrer unvergleichlich rauchigen Stimme in jenem bekannten Interview mit Günter Gauss aus dem Jahr 1964.1 An anderen Stellen entwirft sie das Bild vom sich ständig verändernden Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten. An diesem Gewebe wirken wir alle durch die uns spannende Geschichte, deren Ausgang wir nicht kennen, mit.2 Wir müssen uns von dem, was durch dieses Mitwirken erscheint, überraschen lassen und mit und in ihm weiter gehen, weben, handeln, irren und streiten. Das gehört zu unserer menschlichen Bedingtheit.
Auf so viel wunderbare Ungewissheit antwortet Arendt nicht mit Kontrolle, sondern mit einem tiefen Vertrauen ins Menschliche und in einen «gesunden Menschenverstand», dem common sense, der eine gemeinsame Welt, in die alle hinpassen, voraussetzt – eine Welt, in der wir zusammen leben können…3. Das macht Mut.
Allerdings – und das liest sich durch das gesamte Werk ihrer politischen Theorie – lebt dieser gesunde Menschenverstand, diese ererbte Weisheit, in enger Beziehung zur Welt, zur irdischen Mitwelt. Damit steht er eben auch auf dem Spiel, sollte sich in einer fortschreitenden Erd-und Welt-Entfremdung irgendwann das «Menschliche» vom «Irdischen» gänzlich lösen.4
Mit diesem Denkfaden wird die nahezu populär gewordene Theoretikerin zu einer Inspirationsquelle für systemisch-ökologische Perspektiven. Für das und ihrer eindrücklichen Weise Begriffen und deren Bedeutungen nachzugehen und dabei unkonventionelle Bezüge herzustellen, bin ich ihr dankbar. Auch wenn und auch weil ich mit ihr viel zu streiten hätte.
Für Arendt ist «jedes Denken ein Nachdenken», ein auf Erfahrung und Tun gegründetes Denken, das nach jenen wesentlichen Unterscheidungen Ausschau hält, die möglicherweise in der alltäglichen oder der gelernten Gewohnheit verloren gehen.5
Wenn wir uns hier vielstimmig daran machen ein systemisches Verständnis zu erforschen, das unsere Mit-Welt mit-denkt, dann ist es auch eine Suche nach Unterscheidungen.
Es ist also ein Nachdenken und ganz bestimmt ist es auch ein Mit-Denken und eine Einladung zum Mit-Nach-Denken.Ja, und wer weiss? Vielleicht ist jedes Denken in jedem Fall ein Mit-Denken? Jedes Handeln ein Mit-Handeln, jedes Leben ein Mit-Leben? Dieses «mit» spielt jedenfalls hier eine bedeutende Rolle.Gerade folgte ich dem Impuls nachzusehen, ob Hannah Arendt irgendetwas mit dem 4. Dezember zu tun hatte. Ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken: Hannah Arendt ist tatsächlich an einem 4. Dezember verstorben. Heute vor genau 45 Jahren in New York. Das wusste ich nicht. Welch Zufall.


Ganz im Gegenteil ist meine Wahl des 4. Dezember kein Zufall.
Das ist von langer Hand geplant, weil er der Heiligen Barbara gewidmet ist und diese Heilige Barbara in einem synkretistischen  Knäuel mit einer weiblichen Kraft aus dem afro-brasilianischen Mythenkreis verbunden wird: nämlich mit Iansã, der Kraft der Winde und der Blitze, also des kraftvollen Ausgleichs im Spiel der Elemente.  Iansã spielte schon auf den ersten Seiten meines im Jahr 2008 erstmals erschienenen Buches «Systemische Naturtherapie» eine Rolle und weil ich einer eigentümlichen Treue verbunden bin, will ich gerne dorthin danken und auf gute Winde für unser Unterfangen zu hoffen. Mehr kann man da nicht tun.
Weil aber Iansã nicht die Heilige Barbara ist, habe ich mich auch für ihre Geschichte interessiert. Diese ist sehr traurig, zumal Barbara von ihrem eigenen Vater geköpft wird. Mal wird erzählt, sie hätte ihre mystische Jungfräulichkeit mit dem christlichen Gott nicht aufgeben wollen, andere sagen, sie hätte keinen heidnischen Ehegatten akzeptiert. In einer offenbar jüngeren Version flüchtete die schöne, kluge Frau aus dem Turm, in den sie ihr Vater (natürlich zu ihrem eigenen Schutze) gesperrt hatte und wurde von einem sich öffnenden Felsen in Obhut genommen. Dann allerdings von einem Hirten verraten, von einem Tribunal verurteilt und letztlich doch eigenhändig von ihrem Vater geköpft, der allerdings im gleichen Moment vom Blitz erschlagen wurde. Interessant verwickelte Erzählung, nur leider musste die eigensinnige Frau so oder so den Kopf verlieren. Mhm. 
Welche Version auch immer, ich gestehe, mir bleibt angesichts der ungeheuren Geschichte samt ihren Verdrehungen und Entwicklungen die Spucke weg. Wo blieb in diesem Stück Zeitgeschichte, das es ja auch ist, der gesunde Menschenverstand? Darauf hier einzugehen würde den Rahmen sprengen. Aber ich nehme die Heilige Barbara und was sie uns auch noch erzählen kann mit ins Manuskript.
Und: vor dem Haus steht ein Kirschbaum. Vielleicht finde ich ein Zweiglein. Dann stelle ich es für die alte Barbarin ein.


Nun wünsche ich noch einen schönen Tag und freue mich, auf das, was kommen mag,
eure
Astrid Habiba Kreszmeier


 


1https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw


2Arendt Hannah, Vita Activa, München, 19. Auflage, 2018: S 239


3Arendt Hannah, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München, 4. Auflage, 2016: S 121


4 Arendt Hannah, Vita Activa, München, 19. Auflage, 2018: S 10


5 Correia Bernado, Arendt und das dichterische Denken, Journal für politisches Denken, Mai 2008, eingesehen 27. November 2020, www.hannaharendt.net


 


PS. Jene, die neugierig sind, wer sich hier in den nächsten Wochen zu Wort melden wird, kann eine paar "Aufwärmtexte" der AutorInnen geniessen im Journal für Erd- und Menschenverstand


 


Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.