BLAU-SUPER

Der Schnee ist nass
„Wiä Wasser“ pflegen die Einheimischen hier* zu sagen. Trotz Schneeschuhen sinke ich bei jedem Schritt tief ein. Normalerweise sind es 15 Minuten von der Bergstation bis zum Haus. Heute brauche ich doppelt so lange und ich komme gehörig ins Schnaufen. Mein Herz klopft und mein Blick wandert immer wieder hoch zu den mächtigen Berghängen. Dorthin, wo die riesigen Schneeberge liegen. Wenn ich mit den hier eingeborenen Menschen spreche, erzählen sie früher oder später von den Lawinen. Von persönlichen Erlebnissen oder auch den immer wiederkehrenden, tiefsitzenden Geschichten der grossen Lawinenunglücke. Diese Erinnerungen sind mir grad nahe und ich bin wachsam, bei jedem Schritt.
Mittlerweile sitze ich im Alphaus. Es ist noch kalt, knapp über dem Gefrierpunkt. Das Feuer brennt und ich schlürfe einen heissen Tee. Mit jedem Schluck und ganz langsam breitet sich die Wärme aus. Der Körper entspannt sich.


Da fällt mir ein: Angeblich haben die Eskimos* 50 Wörter für Schnee – das ist ein Mythos. Wirklich gibt es aber einen Song von Kate Bush mit dem Titel „50 words for snow“. Der Schauspieler Stephan Fry gibt in dem 8:30 Minuten dauernden Musikstück, 50 verschiedene Begriffe für Schneebeschreibungen zum Besten. Mit dem Refrain "Don’t you know it’s not just the Eskimo", ist das Lied eine Anspielung an die Kraft einer differenzierten, vielfältigen Sprache.
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Ludwig Wittgenstein, Satz 5.6  Tractatus logico-philosophicus)
In diesem Mythos wohnt aber auch eine tiefe Sehnsucht. Es ist die Erinnerung an eine archaische Verbundenheitserfahrung mit der Natur. Die Menschen sind in existenzieller Beziehung mit der Landschaft, in der sie sich bewegen. Die Beziehungen sind vielfältig und lebendig, weil der Wind und das Wetter, der Baum und der Bach, der Schnee, lebendig sind. Der Schnee zeigt sich vielfältig, wandelnd und das fliesst in die Sprache ein. Die menschliche Sprache erweist hier der „weissen Pracht“ die Ehre.


Früher war ich leidenschaftlicher Skilangläufer. Die differenzierte Antwort des Skisportlers auf die Vielfalt des weissen Schnees drückt sich in Farben aus:
Grün, Blau, Violett, Rot, Gelb und dann noch Silber. Das ist die Farbpalette der Langlaufwachse. Und das Ganze doppelt, nämlich als Trockenwachs in der Dose und als Klister in der Tube. Die Unterscheidungen der Farben und Wachssorten beziehen sich auf unterschiedliche Temperaturen und Schneebeschaffenheit. Ah, ja und Hellblau, „Blau-Super“ genannt. Dieses Wachs ist ein bisschen weicher als der normale Blaue. Wenn in Langlaufkreisen von „Blau-Super Verhältnissen“ gesprochen wird, dann ist der Schnee pulvrig-kompakt und bei minus 3 bis minus 5 Grad. Also perfekt! „Wir konnten die ganze Woche mit Blau-Super laufen“, heisst dann auch: Die Wetter- und Schneeverhältnisse sind stabil. So beständig und eindeutig ist es selten.
Gehen ist relativ einfach. Wenn wir den Schnee und den Ski dazu nehmen, wird es eine Spur komplexer. Gehen heisst dann: Abstossen und Gleiten. Das bedeutet, dass der Ski einerseits gut gleiten und andererseits einen guten Abstoss ermöglichen muss, also nicht nach hinten wegrutschen. Da gibt es mittlerweile sogenannte „No-Wachs“ Lösungen. Mit Fell oder einer Schuppenstruktur im Belag. Diese Ski brauchen keinen Wachs und erfordern keine Auseinandersetzung mit dem Schnee, auf dem ich mich bewege. In Langläuferkreisen sind diese Lösungen weitgehend verpönt, weil langsam und langweilig. Und mir fehlt da auch der Dialog mit der Schnee-Landschaft.


Ich erinnere mich: Es ist früher Sonntagmorgen. Wettkampftag! Ich, als 15-jähriger Junge sitze mit meinen Eltern beim Frühstück. Innen aufgeregt und angespannt - aussen cool und lässig. Ich schaue mir den Schnee an, greife mit meinen Fingern in den gefrorenen Harst. Kratze mit den Fingernägeln in der frisch gespurten Loipe. Atme tief ein und schaue in den Himmel. Die Rennstrecke kenne ich. Wie wird es heute sein? „Es hat Waldpassagen und bis zu unserer Startzeit ist die Sonne aufgegangen. Das wird knifflig“.
Schnuppern, kratzen, spüren, die Schneetemperatur messen und mich immer wieder erinnern. Dann gibt’s noch die „alten Hasen“. Die haben schon hunderte Ski präpariert. Von denen gibt’s zweierlei. Finde ich. Die Einen behalten die ganze Erfahrung für sich und die Läufer:nnen des eigenen Klubs. Die Anderen sind offen, geben Tipps und sind am Austausch interessiert. An die wende ich mich, neugierig und mit offenen Sinnen. Bei den alten Hasen gibt’s viel zu lernen!


Langlaufski wachsen ist ein solides, ehrliches Handwerk.  Schicht für Schicht. Der Dialog entspinnt sich im Zusammenspiel zwischen Mensch und Topologie. Das Wachs ist das Bindemittel dazwischen. Anstieg, Flachpassage, Abfahrt. Dann die Verfasstheit der Läufer:in: Gut gelaunt? Gut trainiert? Gute Beine? Zuversichtlich? Voller Selbstvertrauen? Mit guten Erinnerungen an diese Strecke? Oder nix von all dem? Die gute Lösung, in diesem Fall die stimmige Wachsmischung und schlussendlich ein erfolgreiches Lauferlebnis, entsteht durch den Dialog: Dem Zusammenfliessen von Informationen aus der erinnerten Vergangenheit, dem ‚probierä‘ (ausprobieren) im aktuellen Moment und der vorgestellten Zukunft.  Und dann – vielleicht - eine Flow-Erfahrung mit der Landschaft.
Es gibt viele Varianten einen Langlaufski zu wachsen und es gibt auch mehr als 50 Beschreibungen für Schnee.


Mittlerweile scheint draussen die Sonne. Ich geh mal raus und schaue wie der Schnee ist.


P.S. In diesen Zeiten spricht einiges dafür, die Häuser nicht zu verlassen. Ausganssperren, eisige Temperaturen, vielerorts störende Schneemassen, die freundlichen Gesichter hinter Masken verborgen. Dennoch: Nie ist die Stube wohliger, als nach einem Gang durch die Winter-Stadt-Landschaft.
Der Frühling mit seinen vielen Namen wird kommen. Und dann wird es viel zu tun geben.


 


*Hier ist das Maderanertal im Kanton Uri, Schweiz.


*Das Wort Eskimo bedeutet übrigens „Schneeschuhflechter“. Es ist eine ursprünglich von den Nordamerikanischen Cree- und Algonkin-Indianern verwendete Sammelbezeichnung für die mit ihnen nicht verwandten Völker im nördlichen Polargebiet (Quelle Wikipedia).)


 


 


Christian Mulle
Christian Mulle

begleitet Menschen in die Natur. Als Organisationsberater und Coach und Naturtherapeut und in der Arbeit mit Jugendlichen. Er hütet Feuer, Räume der Begegnung und des Lernens. Mehr Infos unter www.walkout.ch




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.