Nebelsonne

 


Über dem grauen November-Nebel blauer Himmel
und gute Fernsicht, die Sonne flach über den weiss verschneiten Bergen, goldbraune Herbstfarben auf den Weiden, Schatten in den Felsbändern - einfache Schönheit gestört vielleicht von einer Motorsäge oder aus dem Wald aufsteigenden Rauchsäulen von verbranntem Ästen. Im und unter dem Nebel Arbeit, Gewusel, Konflikte, Lärm, Dreckluft. Zwei Welten nah beieinander und doch so ganz anders. Die Nachrichten kommen von unten auch über den Nebel: Wirbelstürme und Artensterben, Kriege und Ausbeutung, tiefe Zinsen und steigende Aktienkurse, Lockdowns und Konkurse, immer steilere Reichtumskurven, während die Ärmsten im Meer in ihren Booten absaufen. Über dem Nebel sehen wir zwar sehr genau, dass die Gletscher weniger werden, Berglandschaften zugebaut werden oder dass weniger Kondensstreifen zu sehen sind als auch schon. Aber um das alles besser zu verstehen, müsste ich da nicht wieder in den Nebel eintauchen unter diesen grauen Deckel ins trübe Gewusel, wo es von Medienberichten, Social Media - Meinungen, Verschwörungstheorien, Fakenews, Widersprüchen, Wissenschaftsdiskursen, Verunglimpfungen und Misstrauen nur so wimmelt? In diese Mühsal, mich immer wieder neu orientieren zu müssen und zu Recht zu finden, dort wo ich meine, mich einigermassen auszukennen.


Im Nebel kommt das Gefühl für Distanzen, für Richtungen, für aufwärts und abwärts, links und rechts irritierend abhanden. Wir sehen nur noch ein begrenztes Umfeld nah um uns, die eigene Hand, vielleicht ein Gebüsch, eine Tafel, einen grossen Stein und hören irgendwoher vielleicht wattierte Geräusche und Töne. Wir sind verloren, bis dann vielleicht ein Wegweiser weiterhilft oder der Nebel sich doch noch unerwartet lichtet, die Sonne durchdrückt und alles wieder da ist, überraschend und manchmal ganz anders als erwartet. Oft fühle ich mich dann wie hingestellt und schaue erstaunt, was sich da alles zeigt und dass alles noch so ist wie vorher, aber doch irgendwie neu.


Jetzt sitze ich wieder da in der Ferienwohnung hoch oben in den Berner Alpen, unterdessen ist Mitte Dezember. Mit Blick auf die wolkenverhangenen Berge versuche ich es nochmals mit dem Text. Draussen wieder Nebelschwaden, die vom Tal unten den Hang heraufquellen, ein Schauspiel bequem aus der warmen Stube beobachtet. Ich könnte mich auch hier ins Internet einklinken, aus Distanz von Intensivstationen am Anschlag lesen, von Sperrstunden für Sport und Restaurants oder von der erfolglosen texanischen Klage gegen 4 andere Bundesstaaten wegen Wahlfälschung, die von Justizministern aus 17 der 50 Bundesstaaten unterstützt wurde. Das wären dann Schauspiele weit weg, News halt, wenn ich nicht gerade direkt betroffen bin. Für konkrete Erfahrungen hier müsste ich nach draussen, in den nassfeuchten Nebel, in unwegsames Gelände, dann würde es real. Dann könnte auch ich mich verirren und vielleicht einsam sterben. Nicht im Intensivbett oder unter einem Auto, nicht im Arbeitslager, im Gefängnis, im Bürgerkrieg oder im Meer. Ich würde absitzen, mich an einen Baumstamm oder Stein anlehnen, ein Stück Holz anfassen, Erde, Gras oder Laub neben mir und den Nebel spüren, wie er feucht und kalt bis zur Haut kriecht. Und ich würde daran denken, wie es anderen im und unter dem Nebel geht, die sich nicht mehr umarmen, zur Begrüssung die Faust anstatt die Hand geben, wie sie ihre Kündigung erhalten, Bankrott gehen, trotz allem für das Klima demonstrieren, illegal tanzen, auf die Aktienkurse starren oder für alle Probleme den Ausländern die Schuld geben. Und dann würde sich um mich herum vielleicht der Nebel doch plötzlich lichten, grad noch rechtzeitig. Und ich würde aufsitzen, die letzten Kräfte kämen zurück, ich würde wieder etwas sehen und ich spürte, es wird wieder wärmer.


 


R. Patel & J.W.Moore: History of the world in Seven Cheap Things. Kensington Books. Deutsch: Entwertung. Rowohlt. 


Kurzfilm nach Friedrich Dürrenmatt: "Der Tunnel"
https://www.srf.ch/play/tv/film/video/der-tunnel---kurzfilm-nach-friedrich-duerrenmatt?urn=urn:srf:video:aafc221c-5d77-4efa-b408-7b26a08be443


F. Dürrenmatt: Der Tunnel und andere Meistererzählungen. Diogenes Dokfilm (Milieustudie) zum Selbstverständnis im Steuerparadies:
https://www.3sat.de/film/dokumentarfilmzeit/der-ast-auf-dem-ich-sitze---ein-steuerparadies-in-der---schweiz-100.html


 


Jürg Brühlmann
Jürg Brühlmann

arbeitet als Berater von Organisationen insbesondere zum Thema Arbeitsgesundheit sowie zu Ausbildungsmethoden während der Arbeit mit Menschen in personenbezogenen Berufen. Naturbelassene Landschaften und Orte ermöglichen ihm mehr sinnliche Verbundenheit mit dem Leben und verschiedenen Zeiten in Momenten, Tagen, Jahren, Jahrhunderten...).




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.