Wild Geese


Wilde Gänse


Du musst nicht gut sein.
Du musst nicht kniend hundert Meilen durch die Wüste ziehen, bereuend.
Du musst nur das weiche Tier deines Körpers lieben lassen, was es liebt.


Sprich von Verzweiflung, von deiner, ich werde dir von meiner erzählen.
Derweilen nimmt die Welt ihren Lauf.
Derweilen bewegen sich Sonne und glitzernde Kiesel des Regens über Landschaften, über Steppen, tiefe Bäume, Berge und Flüsse.
Derweilen ziehen die Wildgänse hoch in klarer blauer Luft wieder heimwärts.

Wer immer du bist, egal wie einsam, die Welt schenkt sich deinen Sinnen,
sie ruft dir wie die wilden Gänse zu, rau und aufgeregt,
und zeigt so immer und immer wieder deinen Platz
in der Familie der Dinge.


Mary Oliver (1935 – 2019) war eine US-amerikanische hochgeachtete Poetin. Ihr Werk ist inspiriert von ihren zahlreichen Spaziergängen draussen auf den Feldern. Ihre Art der wahrnehmenden Beschreibung der dann geschehenden Begegnungen beugte sich nicht dem geltenden Gebot, die klassischen Grenzen zwischen ihr als Beobachterin und der sie umgebenden Welt zu ziehen. Sie selbst fühlte sich stark von Edna St. Vincent Maly, von Walt Whitman, Henry David Thoreau inspiriert.


Heute an diesem 25.12.2020 will ich gerne an diese bemerkenswerte Frau erinnern und eines ihrer bekanntesten Gedichte, 'wild geese', einweben. Ermutigt von dem Gedanken, dass jede Zeit ihre Übersetzung verdient, habe ich mir erlaubt, das Poem ins Deutsche zu übertragen. Wie weit ist doch die Reise, auf die uns diese Zeilen mitnehmen. So voller Anknüpfungspunkte zu jenen Bereichen, die mir hier, im entstehenden Buch und ja überhaupt(!) wertvoll erscheinen: Sinnlich-körperliches Wahrnehmen, menschliches erzählendes Empfinden und unser Mit-Leben in der Familie lebendiger Dinge (inmitten von 'Aktanten' schlägt Bruno Latour hier als Begriff etwas weniger poetisch, aber auch anregend vor.)


Apropos: Jede Zeit verdient ihre Übersetzung. Das sagt Svetlana Geier, Übersetzerin von Fjodor Michailowitsch Dostojewski im empfehlenswerten Dokumentarfilm „Die Frau mit den fünf Elefanten“. Davor sagt sie noch: «Übersetzungen sind sterblich. Jede Zeit verdient ihre eigene Übersetzung».


Mich berührt diese Idee, dass wir alle zu jeder Zeit darum bemüht sind, das, was wir erleben, sinnhaft in Sprache zu bringen. Dass wir als 'languaging species' (Maturana), als sprachbildende Lebewesen, fortwährend Beschreibende unseres Erlebens sind und darin fortwährend Erlebende unserer Beschreibung. So lohnt es sich, auch Klassiker oder klassisch gewordene Konzepte in ihre Zeit zu bringen. Ich bin im Manuskript zum Beispiel gerade dabei den Begriff der Autopoiese aufzugreifen und ihn auf sympoietische Weise zu bespielen. Ob diese Neu-Übersetzungen gelingen, also gehört und besprochen werden wollen? Wir werden sehen!


Schliessen möchte ich heute allerdings wieder mit den Gänsen, die ja traditionell auch zu diesen aktuellen Festtagen gehören. Ich wünsche gutes Gelingen, beim Gänsebraten und überhaupt! Und hier noch gerne die Originalversion von wild geese.


You do not have to be good.
You do not have to walk on your knees
For a hundred miles through the desert, repenting.
You only have to let the soft animal of your body
Love what it loves.


Tell me about despair, yours, and I will tell you mine.
Meanwhile the world goes on.
Meanwhile the sun and the clear pebbles of the rain
Are moving across the landscapes,
Over the prairies and the deep trees,
The mountains and the rivers.


Meanwhile the wild geese, high in the clean blue air,
Are heading home again.
Whoever you are, no matter how lonely,
The world offers itself to your imagination,
Calls to you like the wild geese, harsh and exciting
Over and over announcing your place
In the family of things


 


Mary Oliver liest wild geese:
https://www.youtube.com/watch?v=lv_4xmh_WtE


Offizielle Webseite des Films: Die Frau mit den 5 Elefanten
https://5elefanten.ch/de/


Latour Bruno, Das terrestrische Manifest, Berlin 2019


Humberto Maturana, Francisco Varela, Baum der Erkenntnis, Frankfurt, 2009


 


Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.